Start  <  Vorträge  <  Linus S. Geisler: DAS VERSCHWINDEN DES LEIBES - DIE KRISE DES KÖRPERS
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Vortrag anlässlich der Tagung 'Verletzbarer Körper - Begnadeter Mensch'. Vom Körperverständnis in Medizin und Theologie. Evangelische Akademie Loccum in Kooperation mit dem ZfG, Zentrum für Gesundheitsethik, an der Evangelischen Akademie Loccum vom 24. - 26. August 2001. 

Es gilt das gesprochene Wort.
Das Verschwinden des Leibes - die Krise des Körpers

Linus S. Geisler
Leib und Körper

Gottfried Benn [1] schreibt in seinem Gedicht Der Arzt: "Ich lebe vor dem Leib." Dieser Leib wird hier noch verstanden als eine Wirklichkeit des Menschen, die das rein Organismische weit überschreitet. Der Leib beinhaltet Personsein, Leben haben und Körperlichkeit. 

"Wir sind nicht zunächst 'lebendig' und haben dann auch noch eine Apparatur, genannt Leib," sagt Heidegger, "sondern wir leben indem wir leiben ..." Leib sind wir, während wir den Körper nur haben. Der Leib ist ein offenes System in einem sozialen Kontext. Unsere Offenheit zur Welt gründet im Leib. Der Leib ist, so Merleau-Ponty [2], der Kreuzpunkt der Wirklichkeit, für Paul Valery [3] das "unübersteigbare Referenzsystem".

Bei vielen Naturvölkern wird der Leib niemals abgetrennt von der Natur erlebt, sondern ist innig mit ihm verbunden, bildet eine Kontinuität mit ihm. Vom langen Körper sprechen einige Indianerstämme und verstehen darunter den Leib in seinen Metamorphosen und Bedeutungsinhalten von der Geburt bis zum Tode.

Doch immer mehr machen wir auch den Körper. In unserer Leiblichkeit ist ein wachsendes Stück Fremdheit (Meyer-Drawe [4]), denn wir haben unseren Leib trotz aller Zivilisierungen eher weniger im Griff als in früheren Zeiten. Die Medikalisierung des Körpers, extreme sportliche Torturen, plastisch-chirurgische Eingriffe sind ein Signum von Unterwerfungstechniken, die immer neue Unzulänglichkeiten hervorrufen und die Vorläufigkeit des Körpers unterstreichen.

Historische Linien

Die begriffliche und sprachliche Differenzierung von Leib und Körper erfährt im historischen Verlauf Veränderungen, die immer auch zugleich das jeweilige Menschenbild prägen. Im Mittelalter und der frühen Renaissance stellt der Leibbegriff eine idealisierte Projektion, eine Entität dar, die für die erkennbare Form des Menschen steht, ihn als Ganzes enthält. Min lip wurde synonym mit ich verwendet. Potentaten hielten sich früher einen Leib-Arzt, der gewiss mehr war, als ein Arzt nur für den Körper. Der Leibeigene war seinem Herrn mit dem libe eigen, mit seinem Leben als Person zugehörig. Ganz anders bereits der Sklave im Amerika des 17ten und 18ten Jahrhunderts, der als purer Körper in harter Währung gehandelt und dessen Wert nach seiner körperlichen Funktionsfähigkeit bemessen wurde. 

Der moderne Körper

Als biochemische Maschine versteht die moderne Biologie, wie zum Beispiel Jacques Monod [5] den Menschen, und der Genetiker Richard Dawkins [6] weist ihm die Funktion eines puren DNA-Replikators zu, einer Überlebensmaschine für seine Gene.

Informationswissenschaften, Molekularbiologie und virtuelle Realität zeichnen Körperkonzepte, die bereits die Aufgabe des leiblichen Körpers signalisieren. Die feministische Politologin Donna Haraway [7] schlägt in ihrem Essay über den postmodernen Körper vor, Frauen sollten sich als Cyborgs erleben, als synthetische Geschöpfe, bestehend aus kybernetischen Systemen und Organismen. Ihr Uterus sei potentiell das systemische Umfeld für ein sich dort einnistendes Immunsystem.

Für den australischen Köperkünstler Stelarc [8] hat der menschliche Körper bereits ausgedient. Er ist technologisch nicht mehr auf der Höhe und sollte durch andere Körperarten wie den cyber body oder den virtual substitute body abgelöst werden. Er beklagt, der Körper habe kein molekulares Design und sein überreagibles Immunsystem mache es schwierig, schlecht funktionierende Organe zu ersetzen. 

Der Körperbegriff hat etwas Schillerndes, Unbestimmtes bekommen. Wir hören vom symbolischen, volatilen, sozialen oder diskursiven Körper. In den frühen siebziger Jahre erklärten Body Art und Performancekunst den menschlichen Körper zum "künstlerischen Material". Wenn wir vom Körper reden, sollten wir klarmachen, in welchem Deutungsbereich wir uns bewegen.

Im übrigen erscheint der sogenannte Cybersex als ein andere Variante der postmodernen Überwindung des Körpers. Der Theologe Hannu Eerikäinen, der einen interessanten Essay zu diesem Phänomen verfasst hat [9], beschreibt Cybersex als Idee einer radikal neuen Bedeutung nicht nur der Sexualität sondern des menschlichen Körpers, als Wunsch nach Entkörperlichung.

So spannt sich ein weiter Bogen von der Antike und ihrem Verständnis der physischen Existenz des Menschen bis hin zur Postmoderne, die ihn als fraktales Subjekt oder menschlichcodiertes Terminal versteht und den Leichnam als herrenloses, verfügbares Gut [10].

Die Geburt des Körpers

Descartes [11] leitet die Subjekt-Objektspaltung ein, nach deren Verständnis der Körper eine menschliche Maschine ist und der kranke Mensch vergleichbar einer schlecht gemachten Uhr, Betrachtungsweisen die den Ausgangspunkt für epochale Entdeckungen, wie der des Kreislaufs durch William Harvey bilden. Das mechanistische Körperverständnis begleitet von da ab Biologie und Medizin wie ein Schatten, der selbst die Seelenforschung nicht ausspart: Von (An-)Trieb spricht Freud, vom psychischen Apparat [12]. Der Körper wird zur sterblichen Maschine.

Im gleichen Jahr (1543), in dem Kopernikus seine heliozentrische Theorie des Planetensystems beschrieb, legte Vesalius [13] sein Hauptwerk De humani corporis fabrica libri septem vor, anatomische Darstellungen des Menschen von höchster Detailtreue. Sie ermöglichten die präparatorischen Schauspiele in den anatomischen Theatern von Padua bis Leiden, oft vor illustrem Publikum von hohem Rang, und fokussierten das Interesse auf die Körperlichkeit des Menschen, seine strukturellen Manifestationen. Doch die Vesalischen Abbildungen des menschlichen Körpers haben bereits den kalten Blick der Vivisektion. Die gehäuteten Objekte sind Projektionen eines herzlosen Blicks, ganz anders als die Darstellungen Leonardo da Vincis. Obwohl auch er Perfektion anstrebt - zwei Dutzend Leichen musste er nachts öffnen, bis er glaubte, ein einziges Organ aus allen Perspektiven erfasst zu haben. 

Kann man den menschlichen Körper "vollständig" betrachten und aufzeichnen, ohne sich in den Formalindunst des Seziersaals begeben zu müssen? Um eine zeitgemäße Lösung dieses Problems bemühte sich das Visible Human Project der National Library of Medicine (USA). Ziel war die "first digital description of an entire human". Zu diesem Zweck wurde 1993 der Körper eines in den USA Hingerichteten zum Ausgangspunkt eines völlig neuen und andersartigen Anatomieatlas'. Die Datengewinnung erfolgte mittels serielle Schnitte durch den gefrorenen Körper und digitaler Fotographie der tausenden von Schnittflächen. Dieses Datenmaterial wird mittlerweile in über 850 Universitäten weltweit genutzt.

Die Anatomie des 21. Jahrhunderts ist freilich die Analyse des menschlichen Genoms. Sie enthüllt keine frischroten Muskelstränge und spiegelnde Sehnen, nicht die dreidimensionale Ästhetik der Lungenbläschen. Die klassische Anatomie konstituierte Leiblichkeit und zwang den Betrachter zur Demut. 

Die molekulare Betrachtungsweise von Körpern konstituiert neue Wirklichkeiten. Nicht der biologische, sondern der "molekulare Hund" ist der wirkliche, schreibt der Nobelpreisträger und Zellgenetiker François Jacob [14]. Der "Alltagshund" sei dagegen nur ein blasser Widerschein, nur der unseren Sinnen zugängliche Aspekt.

Die neue Betrachtungsweise bewirkt, auf den Menschen angewandt, nicht nur Leiblichkeitsferne sondern bringt auch den Körper zum Verschwinden. Sie beschreibt den Körper durch Makromoleküle und Basenverkettungen. Wo kann der Mensch sich wiederfinden? Doch soll er es überhaupt? Ist er nicht möglicherweise besser aufgehoben in der physiko-chemischen Anonymität? In dem "Buch des Lebens", von dem allenfalls die Syntax feststeht, aber die Semantik noch verdunkelt ist? Der Versuch, dem Tod zu entgehen, indem man dem "Leben in die Karten schaut" ergibt allerdings immer wieder nur die Einsicht, dass das Leben inmitten des Todes und nicht ohne ihn ist (Santiago Ewig [15] Externer Link). 

Im Licht der genetischen Diagnostik hat die Krankheit keinen Körper mehr. Ihre Beschreibung als Texturfehler im Genom entkleidet sie ihres kreatürlichen Charakters, sie kappt jede Verbindung zu Schmerz oder persönlicher Tragik. Alles wird zur Suche nach Defekten und Differenzen. An der genetische Ausstattung interessiert mehr die Abweichung als die Regel. Sie wird zum neuen Code für Krankheit, besser gesagt zum prognostischen Marker im Zwischenreich von noch nicht krank und nicht mehr gesund. Und immer auch haftet dem genetischen "Defekt" der Hautgout der Aussonderung, der Selektion an. 

Der Weg von der Defektsuche zur gezielten Manipulation ist kurz und direkt. Die manipulative Verhunzung von Kreaturen im Experiment (flügellose Taufliegen, ohrtragende Mäuse) hat eine neue Dimension der Monstrosität erreicht. Vivideformation als Ablösung von Vivisektion. 

Der Körper als öffentlicher Ort

Der Körper als soziales Konstrukt ist ein öffentlicher Körper, ein "öffentlicher Ort" [16]. Seine Sichtbarmachung noch bevor er geboren ist, wird konsequent mittels Ultraschall betrieben. Was die Ultraschalluntersuchung ans Licht bringt, ist aber nicht fürs Familienalbum gedacht. Hier geht es nicht mehr um die noch naive Neugierde die vor mehreren Jahrzehnten den damals aufregenden Bildern heranreifender Föten eines Lennart Nilsson zugrunde lag, sondern um entlarvende optische Vorgriffe, nicht selten mit letaler Konsequenz. 

Noch im 18. Jahrhundert gab es kein einziges allgemein gültiges Schwangerschaftszeichen. Jede Frau hatte ihr eigenes persönliches Zeichen, das sie deutete. Nur sie konnte wissen, ob das Ausbleiben der Menses, die Wölbung des Leibes, die Milch in den Brüsten, die "gute Hoffnung" ankündigte. Schwangerschaft ist als visualisierte Embryologie zu einem Zustand schlimmer Befürchtungen geworden. Heute werden in Deutschland 60-80% aller Schwangerschaften als Risikoschwangerschaften eingestuft [17]. Das Erspüren des sich bewegenden Kindes im Mutterleib, weicht einer distanzierten Wahrnehmung, in deren Hintergrund die schlechte Nachricht lauert.

Die Entleiblichung von Sexualität und Fortpflanzung in der In-vitro-Fertilisation ist die Bankrotterklärung für die Intimität des Körpers. Der Akt der körperlichen Vereinigung, wenn er lediglich als physiologischer Vorgang, der der Fortpflanzung dient, verstanden wird, ist externalisierbar in eine Retorte, die Embryonalentwicklung lokalisierbar in einen künstlichen Uterus. Wenn dieser Akt aber die Konstituierung eines neuen Lebens ist, ausgerichtet auf eine neue Person, fühlend und denkend und einmalig, wenn Zeugung so verstanden wird, dann ist die Auslagerung dieses Ortes von höchster Intimität in ein Reagenzglas Signum einer "menschenleer" gewordenen Medizin. Fortpflanzung ist zur asexuellen Praktik degeneriert, ist steril geworden. Es gäbe nichts Obszöneres, schreibt die französische Psychoanalytikerin Monette Vacquin [18] in ihrem Buch Die Geburt ohne Frau, "als jene Unbeflecktheit, die man in unnatürlichen experimentellen Kreuzungen oder in der Keimfreiheit des Labors sucht." 

Die In-vitro-Fertilisation, ursprünglich als Hilfe bei Sterilität durch verwachsene Eileiter entwickelt, hat sich in kürzester Zeit von ihrem originären Zweck entfernt. Als großer Schritt in Richtung auf eine legitime Freiheit der Frau, wurde sie gepriesen, als Befreiung der Frau und nebenbei als Garant für eine "bessere medizinische Wartung des Fötus", als Überwindung der Poesie einer Schwangerschaft "wie zu Großmutters" Zeiten (Jean-Louis Touraine [19], "Das Kind außerhalb der Fruchtblase"). 

Die Umdeutung des Embryo an seinem Lebensbeginn zum Zellhaufen erscheint als Taktik der radikalen Löschung alles Phänotypischen, das noch an den Menschen erinnern könnte [20] Interner Link. Hier wird ein leicht durchschaubarer Kunstgriff der Entkörperlichung praktiziert, eine Attacke, die auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde am Beginn des Lebens zielt. 

Das Schweigen des Körpers

"Gesundheit ist das Leben im Schweigen der Organe" sagt der französische Philosoph und Historiker Georges Canguilhem [21]. Doch das Ideal der Nichtwahrnehmung des Körpers zu inszenieren gestaltet sich für viele immer schwieriger. Irritationen, Vernachlässigung und Wunschbilder lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Extremklettern, Triathlon oder Bungee-Springen werden als Gegengewicht gegen die Unbeschäftigkeit des Köpers in vielen Berufen eingesetzt [22]. Superdünne Models oder Schauspielerinnen vom Typ Ally McBeal (Calista Flockhart) prägen das weibliche Körperideal - in einer Gesellschaft, die ständig übergewichtiger wird. Hier haben Körperschemastörungen, die in schwere Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie einmünden, eine ihrer Wurzeln. Rund 700 000 Menschen, vor allem Frauen, zunehmend aber auch Männer, leiden in Deutschland an diesen lebensbedrohlichen Krankheitsbildern mit schlechter Prognose [23] Externer Link. Dysmorphophobien, d.h. krankhafte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper sind die Kehrseite eines übersteigerten Körperkults. Meist betrifft das massiv verzerrte Körperbild das Gesicht, bei Frauen auch Brüste und Beine, bei Männern Körpergröße oder Genitalien. Dieser sog. Theresites-Komplex (Theresites soll der hässlichste Grieche gewesen sein) - führt die Patienten wiederholt zum Schönheitschirurgen, der nicht immer qualifiziert genug ist, einfühlbare Korrekturwünsche von psychopathologischen Störungen des Körpererlebens zu unterscheiden [24] (Michael Jackson). Der Körper als ewige "Baustelle".

Distanzen 

Die Distanz zwischen dem Arzt und seinem Patienten, war schon immer eine intime Distanz, abgesichert durch die unsichtbare Grenze des Respekts. Heute erleben wir eine merkwürdige Verzerrung dieser Distanz. Einerseits haben invasive Technologien nahezu alle wie auch immer errichteten Grenzen überwunden. Nirgendwo scheint mir die mögliche Demütigung des Menschen durch solche Eingriffe, aber auch die verlorengegangene Ehrfurcht vor dem Leib treffender beschrieben worden zu sein als in dem Gedicht Scham des polnischen Lyrikers Zbiginiew Herbert [25]:

Scham

Als ich sehr krank war verließ mich die Scham
ohne Einspruch enthüllte ich fremden Händen
überließ fremden Augen
die armseligen Geheimnisse meines Leibes
Sie drangen alsbald in mich ein und vergrößerten
die Erniedrigung

Diese Scham wird für Herbert noch durch das Wissen um den traditionellen ärztlichen Umgang mit dem Körper des Menschen verstärkt. In dem Gedicht heißt es weiter:

Mein Professor der Gerichtsmedizin/ der alte Mancewicz/
verneigte sich/ wenn er die Leiche des Selbstmörders
aus dem Formalinteich holte/
tief vor ihm/ als wollte er um Vergebung bitten/
und öffnete dann mit geübter Hand den herrlichen Brustkorb/
die verstummte Kathedrale des Atems/
zart fast zärtlich...

Auf der anderen Seite entstehen distanzbildende Technologien, die auf jeglichen körperlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient verzichten, ja ihn fast ängstlich zu meiden trachten. 

Die Medizin zählt mittlerweile zu den attraktivsten Entwicklungsfeldern der virtuellen Realität [26]. Am digitalisierten Körper lernen Stundenten im virtuellen Sektionskurs die Anatomie des Menschen. Mit CAS (computer assisted surgery), der computerunterstützten Chirurgie, beginnt der eigentliche Einzug der virtuellen Realität in die Medizin [27] Interner Link. In VIEW (Virtual Interface Environment Workstation), können Chirurgen bereits mit Hilfe eines digitalen Skalpells am "virtuellen Leichnam" Operationen planen und üben. Die Cyberstickchirurgie ist im Vormarsch. Operationsroboter mit klangvollen Namen wie "Robodoc", "Zeus" oder "Da Vinci" gehören zum klinischen Alltag [28]. In Frankfurt/Main werden mit "Evolution1" hirnchirurgische Eingriffe mit Präzision im Submillimeterbereich durchgeführt, und an "Kenny", einem 500 000 DM teuren Kindersimulator können im Operationssaal der Mainzer Uniklinik Krisensituationen in der Kinderchirurgie trainiert werden [29] Externer Link

Warme Leichen, kalte Embryonen

Dieser Körper der modernen Medizin ist reduziert auf die Summe seiner Organe und Funktionen. Er ist beliebig zergliederbar, in wachsendendem Maße in seinen Teilen austauschbar. Die Quelle der "lebensfrischen" Organe ist der hirntote Mensch. Eine "leere Körperhülle" soll dieser Mensch sein, so wird uns gesagt, ein Körper, in dem kein "Du" mehr angesprochen werden kann [30]. Die hirntote Schwangere wird als "Retorte" bezeichnet, als "hochkomplizierter Brutkasten", als "uterines Versorgungssystem", obwohl ihr Körper noch imstande ist, ein gesundes Kind auszutragen und zu gebären. 

Warme Leichen und kalte Embryonen werden zu den begehrten Objekten der Gesellschaft [31], so der französische Psychoanalytiker Michel Tort in seinem Buch "Le désir froid - Procreation artificielle et crise des repères symboliques".

Der durch Organentnahme bei sog. Hirntoten nicht zu deckende "Organbedarf" führt in quasi logischer Konsequenz zur Lebendspende. Die operative Entfernung eines nicht oder nur unvollständig regenerierbaren Organs beim Lebenden ist ein Eingriff ohne Heilauftrag und rührt an die grundsätzlich Frage, ob das primum non nocere der Hippokratischen Tradition noch gewahrt ist. Die christlichen Kirchen Deutschlands sehen eine Legitimation der Lebendspende in dem Argument der Nächstenliebe [32]. Nach christlichem Verständnis sei das Leben und damit der Leib ein Geschenk des Schöpfers, über das der Mensch nicht nach Belieben verfügen könne, das er aber nach sorgfältiger Gewissensprüfung aus Liebe zum Nächsten einsetzen dürfe." Eine rein altruistische Entscheidung zur Organspende dürfte aber den real kaum zu erreichenden Idealfall darstellen. Gerade die Tatsache, dass Lebendspende nur zwischen Verwandten oder Personen, die dem Spender "in besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen" erlaubt ist [33], verdeutlicht auch ein Dilemma: dass nämlich die Freiwilligkeit der Zustimmung umso stärker gefährdet ist, je enger die Bindung zwischen Spender und Empfänger ist. 

Das sog. "therapeutische Klonen", das sich durch utopische Heilversprechen zu legitimieren versucht eröffnet eine ganz neue Variante der "Lebendspende". Zur Erzeugung eines einzigen menschlichen Embryo, der dann durch Entnahme embryonaler Stammzellen zerstört wird, wären im günstigsten Fall mindestens 280 weibliche Eizellen erforderlich hat Alan Colman vom Roslin-Institut, der Wiege des Klonschafs Dolly, errechnet [34]. Diese können nur nach massiver hormoneller Stimulation durch einen operativen, rein fremdnützigen Eingriff von Frauen gewonnen werden. Vorausgesetzt, die Methode würde jemals klinisch anwendbar, so wären allein in Deutschland weibliche Eizellen in sechsstelliger Größenordnung notwendig, um nur einen Bruchteil der Parkinson-Kranken zu behandeln. Es ist offensichtlich, dass der "Bedarf" an Eizellen mit konventionellen Methoden, z. B. im Rahmen der In-vitro-Fertilisation (IvF), auch nicht annähernd zu decken ist. 

Die Jagd nach anderen Ressourcen ist bereits angelaufen. Das Internet-Angebot amerikanischer Agenturen an Eizellen beginnt ab 6000 Dollar aufwärts. Tauschangebote für ökonomisch schlechter gestellte Frauen, die eine In-vitro-Befruchtung gegen Abgabe der Hälfte ihrer Eizellen kostenlos erhalten, gibt es in Großbritannien. An das große Reservoir von Frauen in Osteuropa und in den Entwicklungsländern wird schon im Stillen gedacht [35] Interner Link. Hier wird der Frauenleib als eizellproduzierendes System instrumentalisiert.

Die Austauschbarkeit und das Beliebigwerden des Körpers rücken näher. Professor Robert White, Cleveland [36], 76, Neurochirurg und Mitglied der vatikanischen Pontifikalakademie der Wissenschaften (der auch Niels Bohr, Alexander Fleming angehörten), sieht seinen Lebenstraum in der Kopf- respektive Körperverpflanzung bei Menschen. Was ihm vorschwebt, ist die Verpflanzung des Körpers eines Hirntoten als Versorgungssystem für todkranke Menschen, deren Körper unbrauchbar geworden ist. Dies sei eine "Enthauptung und eine Beleibung" zugleich und die Nutznießer seiner Operation nennt er "Glückselige". Die Operation bezeichnet er als "Montage". Stephen Hawking oder Superman Christopher Reeves sollen White’s potentielle Patienten sein. Kritikern entgegnet er: "Meine Operation ist besser als Klonen."

Adorno und Horkheimer [37] haben das "Interesse am Körper" als todbringend bezeichnet, den Umgang des Menschen mit seinem Körper als gestört. Er gehe mit seinen Körperteilen um, als wären sie bereits Prothesen.

So bahnt ein problematischer Umgang mit dem Körper in einer Art Dominoeffekt den nächsten. Die Zellersatztherapie mit Stammzellen versucht sich durch die Engpässe der Transplantationsmedizin zu legitimieren und basiert ihrerseits auf der extrakorporal verlagerten künstlichen Erzeugung von Embryonen in "Überzahl". Es mutet bedenklich an, wenn der DFG-Präsident Ernst-Ludwig Winnacker quasi als Legitimation der verbrauchenden Embryonenforschung feststellt, es sei "der Rubikon in dieser Frage mit der Einführung der künstlichen Befruchtung überschritten worden" [38]. 

Körper oder Biokitt?

Die Kolonisierung des Körpers, wie Paul Virilio sie nennt [39], schreitet unaufhaltsam fort, beschleunigt durch die ständig weiter ins Extrem getriebene Miniaturisierung technischer Mittel. Die natürliche Evolution macht schrittweise der technischen Selektion Platz, weicht einer Art Techno-Darwinismus. Die implantierbaren Bioprothesen der guten alten Zeit (Schrittmacher, Defibrillatoren, Pumpen, Stents, Ventile) wirken wie Fossilien, gemessen an den Produkten einer Nanotechnologie, die das neue Design des Menschen bestimmt. Seine Hoch- und Überrüstung reduziert den Körper schließlich zum Bio-Kitt, zum Platzhalter für neue Organe und technische Implantate. 

Die Leibvergessenheit und der fragwürdige Triumph eines Körpers, der mit einem sozio-ökonomischem Aufwand jenseits aller Vernunft zum biologischen Perpetuum mobile hochgerüstet werden soll, sind verzahnte Komponenten des gleichen Systems. Systeme gehorchen in der Regel zirkulären Mechanismen. Arzt und Patient erfahren diese unentrinnbare Gesetzmäßigkeit tagtäglich aufs neue [40] Interner Link. Die Fremdheit, mit der sich beide begegnen, nicht selten die Feindseligkeit, das Gefühl der Verlorenheit innerhalb einer unüberschaubaren Gesundheitsmaschinerie von babylonischen Ausmaßen, die Technologien auch als Zuwendungsersatz missbraucht, wurzeln letztlich auch in der Aufgabe der Idee eines Leibes, der mehr ist als funktionierendes Fleisch [41]. 

Körperbesessenheit und Körpervergessenheit

Das Vertrauen in die "Weisheit des Körpers", seine ungeheure Fähigkeit zur Selbststeuerung und Selbstheilung geht mehr und mehr verloren (der große Physiologe Walter Cannon hat diesen Begriff in den dreißiger Jahren geprägt [42]). Die "Lesbarkeit des Körpers" [43] als Weg zum Verständnis von Körpersymptomen verkümmert angesichts der monströsen Datenanhäufungen, die mittels technischer Diagnoseverfahren in kürzester Zeit möglich sind. 

Was wir erleben, ist das Verschwinden des Leibes und die Krise des Körpers zwischen Körperbesessenheit und Körpervergessenheit [44]. Seine kulthafte Überhöhung und Stilisierung in das Unerreichbare. Wo die Annäherung misslingt, drohen tiefgreifende Störungen der Körperwahrnehmung, Verzerrungen des Körperschemas. Auf der anderen Seite erfährt der Körper Instrumentalisierungen ungekannten Ausmaßes bis zur äußersten Demütigung, seine Wahrnehmung und Behandlung als Fremd-Körper, seine vielfachen zweckbestimmten Umdeutungen. Am Ende erscheint er verzichtbar. Dies alles ein Signum für die Unfähigkeit eines ungebrochenen Leibseins.

Der Medizin droht ein Zweifrontenkrieg. Einerseits die Knechtung durch erdrückende Wünsche und Anmaßungen der Körperlichkeit, auf der anderen Seite ein Agieren im Körperlosen und im Menschenleeren. In einem System, in dem Krankheit zum behebbaren Defekt umgedeutet und die Arzt-Patientenbeziehung zum nüchternen Umgang zwischen Leistungserbringern und Kunden wird, kann eine Besinnung auf den Körper als den "letzten Horizont der Existenz" [45] immer weniger gelingen. 

Die Suche nach dem verlorenen Leib, in der Hoffnung, den vertrauten Körper wiederzufinden, ist nichts anderes als das Ausfindigmachen jener Grenze, hinter der Absurdität und Sinnentleerung beginnen. Im Alleingang kann diese Suche allerdings kaum von Erfolg sein.

Literatur:

[1] Benn, G.: Der Arzt. Ges. Werke. dtv-bibliothek. München. 1975. S.11.

[2] Merleau-Ponty, M.: Le visible et l’invisible. Paris 1964

[3] Valéry, P.: Cahiers/Hefte. Frankfurt 1989, Band 3, S. 321

[4] Meyer-Drawe, K.: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München 1996, S. 181 ff.

[5] Monod, J.: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. R. Piper & Co. München. 5. Aufl.

[6] Dawkins, R.: Das egoistische Gen. Berlin 1978. S. 227

[7] Haraway, D.: The Bio-Politics of Postmodern Bodies: Constitutions of Self in Immune System Discourse. In: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature. London. 1991

[8] Stelarc: Prosthetics, Robotics and Remote Existence. Postevolutionary Strategies. Leonardo. Vol. 24, No. 5 1991.

[9] Eerikäinen, H.: Cybersex: A Desire for Disembodiment. On the Meaning of the Human Being in Cyber Discourse. In: Inkinen, S. (Hrsg.): Mediapolis. Aspects of Text, Hypertexts ans Multimedial Communication. Walter de Gruyter. Berlin New York. 1999. S. 203-242

[10] Schoeppe, W.: Der Leichnam gesetzlich ein herrenloses Gut. FAZ, 22. Juli 1994. S. 8.

[11] Descartes, R.: Discours de la Méthode. Leiden. 1637

[12] Freud, S.: Abriss der Psychoanalyse. S. Fischer. Frankfurt Main. 1972.

[13] Vesalius, A.: De humani corporis fabrica libri septem. Basel. 1543

[14] Jacob, F.: Die Maus, die Fliege und der Mensch. Über die moderne Genomforschung. Berlin. 1998.

[15] Ewig, S.: Heilungsversprechen versus Menschenwürde. Elemente einer Kritik der neuen Biotechnologien. Netzeitung, 15.08.2001
URL: http://www.netzeitung.de/servlets/page?section=22&item=156367 - Externer Externer Link

[16] Duden, B.: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Hamburg. 1991

[17] Schneider, I.: Ware Mensch? Der menschliche Embryo als Objekt der Begierde. Vortrag auf der Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn, 2.2.2001.

[18] Vacquin, M: Die Geburt ohne Frau. Edition Tramontane. Bad Münstereifel. 1991.

[19] Touraine, J-L.: L’enfant hors de la bulle. Paris 1985.

[20] Geisler, L.S.: Herren der Metaphern. Frankfurter Rundschau, 18.8.2001, Nr. 191/31, S. 7. 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0108fr_metaphern.html - Interner Interner Link

[21] zit. n. Meyer-Drawe, K.: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München 1996, S. 181 ff.

[22] Gerwin Klinger: Göttliche Körper. Frankfurter Rundschau, 28.11.2000

[23] Naica-Loebell, A.: Gen birgt Magersucht-Risiko. Telepolis. 19.04.2001 
URL: http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/lis/7406/1.html - Externer Externer Link

[24] Lenzen-Schulte, M.: Psychotherapie mit dem Skalpell. FAZ, 10.04.2001, Nr. 90, S. N3

[25] Herbert, Z.: Rovigo. Gedichte. Suhrkamp. Frankfurt am Main. 1995. S. 37

[26] Geisler, L.S.: Medizin des Scheins? Virtuelle Realität und Medizin. Dt. Ärzteblatt 91, 13, 1994, B 672-675.

[27] Geisler, L.S.: Virtuelle Realität. Universitas, 50. Jg., Nr. 585, März 1995, S. 264-272. 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9503universitas_vr.html - Interner Interner Link

[28] Roth, B.: Der neue Assistent murrt nicht. FAZ, 17. August 2001, Nr. 190, S. 9.

[29] Gisela Kirschstein: Wie Kenny Krisen simuliert. Ärzte Zeitung, 31.07.2001
URL: http://www.aerztezeitung.de/docs/2001/07/31/141a0203.asp?nproductid=1750&narticleid=172138 - Externer Externer Link

[30] Schöne-Seifert, B.: Stellungnahme zum Transplantationsgesetz am 28. Juni 1995 vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestages in Bonn.

[31] Tort, M.: Le désir froid - Procreation artificielle et crise des repères symboliques.

[32] Organtransplantation. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Bonn, Hannover, 1990, S. 15f.

[33] Transplantationsgesetz (TPG) vom 05.11.1997 (BGBl. I Nr. 74, S. 2631)

[34] Colman, A., A. Kind: Therapeutic cloning: concepts and practicalities. Tibtech, May 2000, Vol. 18, S. 193.

[35] Geisler, L.S.: Fragwürdiger Umgang mit den Hoffnungen kranker Menschen. Frankfurter Rundschau, 19.02.2001
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0102fr_klonen.html -  Interner Interner Link

[36] Jungblut, Chr.: Meinen Kopf auf Deinen Hals. Die neuen Pläne des Dr. Frankenstein alias Robert White. Hirzel Verlag. Stuttgart Leipzig. 2001

[37] Adorno/Horkheimer "Das Interesse am Körper", Dialektik der Aufklärung. Aufzeichnungen und Entwürfe, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 265.

[38] Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschung mit menschlichen Stammzellen. 3. Mai 2001.
URL: http://www.dfg.de/aktuell/stellungnahmen/lebenswissenschaften/empfehlungen_stammzellen_03_05_01.html - [Broken Link/Link zerbrochen]

[39] Virilio, P.: Die Eroberung des Körpers. C. Hanser Verlag. München Wien. 1994.S.108

[40] Geisler, L.S.: Nach uns die Maschine? Das Menschenbild der modernen Medizin. F.A.Z., 4.8.1993, Nr. 178, S. N 4.
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9308faz_maschine.html - Interner Interner Link

[41] Geisler, L.S.: Arzt und Patient im Zeitalter der High-Tech-Medizin. Nieren- und Hochdruckkrankheiten, 19, 10 (1990), S.446 - 472

[42] Cannon, W.B.: The Wisdom of the Body. Norton, New York. 1932

[43] Küchenhoff, J.: Die Lesbarkeit des Körpers - Psychoanalytische Zugänge zu Somatisierung und Selbstverletzung. Psychoanalyse. Texte zur Sozialforschung. 4. Jg., Heft 6, August 2000

[44] Ernst, H.: Die Weisheit des Körpers. München 1993.

[45] Zizek, S.: Bitte keinen Sex, wir sind posthuman. Das Magazin. Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. 1/2001. S. 24.
 


Geisler, Linus S.: Das Verschwinden des Leibes - die Krise des Körpers. Vortrag anlässlich der Tagung 'Verletzbarer Körper - Begnadeter Mensch'. Vom Körperverständnis in Medizin und Theologie. Evangelische Akademie Loccum in Kooperation mit dem ZfG, Zentrum für Gesundheitsethik, an der Evangelischen Akademie Loccum vom 24. - 26. August 2001.
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