Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: NACH UNS DIE MASCHINE. FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 04.08.1993
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Nach uns die Maschine?

Das Menschenbild der modernen Medizin / Von Linus S. Geisler

Kurt Tucholsky hat einmal sinngemäß gesagt, ein Arzt ohne Geräte sei kein Arzt. Schon der Schamane der sogenannten "primitiven" Medizin verfügte über ein bescheidenes Instrumentarium: die Feder, um Krankheiten "wegzuwischen", einen im Mund bereitgehaltenen Stein, den er zum Beweis des aus dem Körper des Kranken herausgesogenen Übels ausspie. Die zunehmende Veränderung der Medizin durch die Naturwissenschaften und die Technik hat frühzeitig erste Mahner auf den Plan gerufen. In seiner Grundsatzrede im Jahre 1958 zeichnete Karl Jaspers das Bild des von Apparaten umgebenen Kranken, die ihn "verarbeiten", ohne dass er den Sinn des Ganzen erkennen kann, umgeben von Ärzten, von denen keiner sein Arzt ist. Mensch und Maschine beginnen eine Art Symbiose zu bilden. Dieses Bild nimmt sich, so bedrückend es ist, freilich harmlos aus im Vergleich zu den Perspektiven, die sich heute eröffnen.

Der Entwurf des Menschenbildes der heutigen Medizin entstammt in wesentlichen Zügen dem cartesianischen Denken, das auch heute die Naturwissenschaften entscheidend prägt. Biologen vom Rang eines Jacques Monod lehren uns, dass Lebewesen "chemische Maschinen" sind, der Organismus nichts weiter als eine Maschine, die sich selbst aufbaut. Folgt man dem Evolutionsverständnis einiger moderner Biologen, so ist der Mensch nicht nur eine Maschine, sondern mehr noch - nichts als eine Maschine. In seinem Buch "Das egoistische Gen" spekuliert Richard Dawkins über eine neue Form "genetischer Machtübernahme": DNA-Replikatoren bauen für sich selbst Überlebensmaschinen, wofür sie lebende Organismen benutzen. Diese DNA-Replikatoren, so Dawkins, tragen den Namen Gene, und der Mensch ist nichts weiter als ihre Überlebensmaschine.

Philosophischer Ausgangspunkt dieser Entwicklung war der cartesianische Reduktionismus, die fundamentale Trennung von Geist und Materie. Sie musste zwangsläufig zur Auffassung führen, auch der Körper des Menschen sei nur eine animalische Maschine. Descartes sah keinerlei Unterschied zwischen Maschinen, die von Handwerkern hergestellt wurden, und den Körpern, die die Natur zusammengesetzt hat. Für ihn war der menschliche Körper eine Maschine. "In Gedanken", so schrieb Descartes, "vergleiche ich einen kranken Menschen und eine schlecht gemachte Uhr mit meiner Idee von einem gesunden Menschen und einer gut gemachten Uhr."

Die damals geschmiedete unheilige Allianz aus Fremd- und Selbstwahrnehmung des Menschen als geniale und zugleich defektgefährdete Maschine hat von da an ihre Unauflöslichkeit stetig verfestigt. Nirgendwo wird sie deutlicher als am Konzept des krank gewordenen, defekten Menschen der heutigen Medizin. Dieses Maschinenmodell sieht sich, jeweils an den aktuellen Stand der Technik angepasst, als das beherrschende Menschenbild durch die Medizin. Jean Jacques Rousseau, Sohn eines Uhrmachers, war wohl der erste, der das Wort automaton prägte. Er verwendete diese Bezeichnung allerdings nicht, wie später üblich, für anthropomorphe Maschinen, sondern bemerkenswerterweise für Menschen, die Maschinen zu sein schienen. Genaugenommen war dies bereits der visionäre Ansatz, der die Perspektive von der immer menschlicher gewordenen Maschine zum immer "maschinlicher" werdenden Menschen eröffnet, jenen Prozess technischer Evolution also, der, zu Ende gedacht, schließlich dazu führt, dass der Mensch "ohne sich selbst auskommt", wie Stanislaus Jerzy Lee vorausahnte. Doktor Friedrich Hoffman (Entdecker der "Hoffmanns-Tropfen"), Aesculapis Hallensis genannt, beschrieb um 1720, ganz im Sinne der Aufklärung, den Menschen in seiner Medicina mechanica als "hydraulische Maschine", zusammengesetzt aus großen und kleinen Röhren, in denen Blut, Lymphe und eine hypothetische Nervenflüssigkeit, der sogenannte "Spiritus animalis", zirkulierten. Das Ganze wurde immerhin noch von Gott in Bewegung gesetzt.

In "Mechanismus und Materialismus" sah der Biologe Joseph Needham im Jahre 1928 die Grundlage des heutigen wissenschaftlichen Denkens. Es prägt auch Handeln, Ziele und Sprache der modernen Medizin. In einem aktuellen amerikanischen Lehrbuch der Chirurgie sprechen die Autoren beispielsweise von "Organ-Ernte". Für sie wird der Mensch zu etwas, das auseinanderfällt, "Stück für Stück", und "... es ist die Aufgabe der Transplantation, die verbrauchten Teile zu ersetzen, wenn sie aussetzen". Die Organe werden mittlerweile ausgiebig geerntet. In der Universitätskinderklinik von Pittsburgh/Pennsylvania erhielt vor kurzem ein vierjähriges Mädchen vom Indianerstamm der Sioux fünf neue Organe: Niere, Leber, Magen, Bauchspeicheldrüse sowie Dünn- und Dickdarm. Wie ein Austauschmotor kann ein Herz mehrmals in verschiedene "Betriebssysteme" eingebaut werden. Fasziniert vom Primat der Funktionalität, schrieben die Operateure, dass ein zweimal verpflanztes Herz im Körper dreier Menschen gut funktioniert habe.

Das Zusammentreffen von Mensch und Computer lässt die Aufweichung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine besonders deutlich hervortreten. Es handelt sich um einen schleichenden Prozess, an dessen Ende der vollständige Rollenwechsel steht. Die Sprache demaskiert die Rollenbeziehung: Der Mensch "bedient" die Maschine, er "füttert" sie mit Programmen. Der Mensch selbst erlebt sich mehr und mehr als Computer. Frank George sieht in seinem Buch "Man the Machine" den Menschen als Computer, der Informationen speichert und sie dann auf intelligente Weise nutzt. So gerät er schließlich unmerklich zum Schöpfer einer neuen, nichtbiologischen Spezies, einer "Maschinenspezies" von hochentwickelten Computern, die zu Gefäßen der künstlichen Intelligenz werden.

Folgerichtig ersetzt in der medizinischen Fachliteratur der Terminus "computer-assisted medical diagnosis" Schritt für Schritt den Begriff "human-assisted computer diagnosis". Hochtechnisierung und Maschinenherrschaft, die in George Lucas' Film "Krieg der Sterne" exemplarisch als Mythologie der Moderne hervortreten, beginnen auch in den medizinischen Sprachgebrauch einzudringen. Vor allem im Zusammenhang mit der Lasertechnik wird in den Vereinigten Staaten bereits der Begriff "Star Wars Medicine" verwendet.

Computerunterstützte Diagnosesysteme versuchen aufgrund von Symptomen und Tests anhand von Datenbanken Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten einer bestimmten Krankheit zu errechnen. Expertensysteme hingegen, als bekannteste Entwicklungen künstlicher Intelligenz in der Medizin, benutzen das formalisierte Wissen klinischer Experten als Entscheidungsgrundlage. Doch noch trotzt die Komplexität menschlichen Krankseins der Transposition in eine rein digitale Form der Beschreibung. Dennoch gibt es schon Stimmen, wie jene von James G. Mazoué, die es als unethisch erachten, den "polyfunktionalen praktischen Arzt" nicht durch eine computerisierte Form der Entscheidungsfindung zu "verdrängen".

Während bei den Expertensystemen immerhin noch eine Art Dialog zwischen Mensch (Arzt) und Computer möglich ist, zeichnen sich Entwicklungen ab, die derartige Systeme als obsolet erscheinen lassen. Mit der Visionik entsteht eine völlig neue technische Disziplin der Wahrnehmung. Eine an einen Computer angeschlossene Videokamera analysiert ihre Objekte nicht für einen außenstehenden Betrachter, sondern für "die Maschine selbst". Sie wird zur Seh-Maschine, die gleichsam blicklos sieht. Sie erzeugt weder Bilder noch Graphiken. Das Resultat der Wahrnehmungen löst dann bestimmte Reaktionen der Maschine aus. Auf die Medizin projiziert ergibt sich das Szenario eines mit der Maschine verkoppelten Patienten, die selbständig auf ihre "Wahrnehmungen" reagiert. Mit anderen Worten heißt das, dass der Computer selbst behandelt - die Maschine als Heiler.

In diesen Wahrnehmungsvorgang ist ein Betrachter konventioneller Art, wie der Arzt, nicht mehr einbezogen. Der Arzt ist nunmehr nicht nur blind, weil ihm der Einblick in den Mensch-Maschinen-Komplex verwehrt ist, sondern er wird zum Opfer einer Blindheit höherer Ordnung. Er kommt im diagnostisch-therapeutischen Prozess nicht mehr vor. Er ist zum unsichtbaren Blinden geworden, der sich vielleicht noch in nostalgischer Anwandlung an die Zeiten der Arzt-Apparate-Patienten-Beziehung erinnert.

Natürlich drängt sich die Frage auf, warum sich der kranke Mensch nicht nachdrücklicher gegen diese zunehmende Degradierung zur defekten Maschine auflehnt. Möglicherweise gibt die Viktimologie, die Lehre vom Opferverhalten, darauf eine Antwort. Sie lehrt, dass Opfersein nicht selten ein aktiver Prozess ist. Die vom Patienten gescholtene und gefürchtete Maschinenmedizin kann in ihren gewaltigen Ausmaßen nur funktionieren, wenn sie an ein Maschinenverständnis des Körpers gebunden ist, das von allen getragen wird. Manches spricht dafür, dass die Reduktion von Krankheiten auf Organdefekte zum einen und des ärztlichen Handelns auf eine Art Ingenieursfunktion zum anderen dem subjektiven Erleben und den Erwartungen von Kranken und Ärzten letztlich entgegenkommen. Die Reduktion von Krankheit auf einen reparierbaren Defekt macht es eben leichter, ihre eigentliche Bedeutung, ihren Charakter als Metapher, unaufgedeckt zu lassen. Das Faszinosum einer technischen Medizin als kollektiver Verdrängungsprozess?

Der Eroberungszug der Maschine vollzieht sich auch in der Medizin nur scheinbar spektakulär. In Wirklichkeit laufen die entscheidenden Feldzüge unbemerkt ab. Frühe Warner wie der viktorianische Satiriker Samuel Butler erkannten bereits: "Tag für Tag gewinnen die Maschinen uns gegenüber an Boden. Tag für Tag werden wir abhängiger von ihnen, täglich werden mehr Menschen als Sklaven verpflichtet, sie zu bedienen [!] ... Der Erfolg ist einfach eine Frage der Zeit ..." Und Paul Valéry prophezeite 1925, die Zivilisation selbst werde nach und nach die Struktur und die Eigenschaft einer Maschine annehmen, die sich am Ende mit nichts Geringerem abfindet als der Weltherrschaft.

Durch die von ihm geschaffenen Maschinen überholt der Mensch sich quasi selbst. Ohne es zu bedenken, konstruiert er seinen eigenen Nachfolger, programmiert sein eigenes Aus. Bleibt vom Menschen, den Freud einen "Prothesen-Gott" genannt hat, am Ende nur noch die Prothese ohne Gott? Nach uns die Maschine? Wo aber Gefahr ist, wächst bekanntlich das Rettende auch. Die Maschine sei, so erkannte schon Lewis Mumford, eben auch nur ein Mythos, ein sterblicher Gott, der, allein von Gnaden des erkennenden menschlichen Geistes existiert. Dieser Geist wird allerdings andere Erkenntnisfelder als bisher nutzen und neue Paradigmen finden müssen, um sich dem "Mythos Maschine" erfolgreich zu widersetzen - ein Unterfangen, das die Medizin aus sich heraus alleine schwerlich wird leisten können.


Geisler, Linus S.: Nach uns die Maschine - Das Menschenbild der modernen Medizin.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.08.1993, Nr. 178, S. N4
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9308faz_maschine.html

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