Fragwürdiger Umgang mit den Hoffnungen
kranker Menschen
Das so genannte therapeutische
Klonen / Linus S. Geisler über die Suche nach den besten Argumenten
Eines der umstrittensten
bioethischen Themen ist zurzeit das so genannte therapeutische Klonen.
Dabei werden Embryonen gezüchtet und dann zerstört, um aus ihnen
Stammzellen zu gewinnen. Aus diesen Zellen sollen dann neue Gewebe und
Organe für Kranke gezüchtet werden. Wie steht es aber nun um
die Begründung dieses Klonens. Sind diese Therapie-Hoffnungen berechtigt
oder dienen sie lediglich als Begründung für einen weiteren Tabubruch
der Wissenschaft? Damit hat sich Linus S. Geisler befasst. Wir dokumentieren
seine Analyse im Wortlaut. Der Autor ist Publizist und war Chefarzt am
St. Barbara Hospital in Gladbeck.
Am 19. Dezember 2000 schuf
das britische Unterhaus mit einer klaren Mehrheit von 366 gegen 174 Stimmen
die gesetzliche Grundlage für das so genannte therapeutische Klonen.
Wie zu erwarten, löste die Legitimation, aus menschlichen Körperzellen
menschliche Embryonen herstellen zu dürfen, um sie für Gewebe-
oder Organersatz zu nutzen, weltweite Reaktionen aus. Sie reichten vom
Paradigmenwechsel bis zum Vorwurf des Kannibalismus.
Aus britischer Sicht war
der Schritt zum "therapeutischen Klonen" eine weniger dramatische Zäsur
als in den Augen der Außenbeobachter. Verbrauchende Embryonenforschung
in den ersten 14 Tagen nach der Befruchtung ist in Großbritannien
durch den "Human Fertilisation and Embryology Act" schon seit 1990 gesetzlich
erlaubt - allerdings beschränkt auf Fortpflanzungszwecke. Zwischen
August 1991 und März 1998 belief sich dieser "Verbrauch" auf 48 000
Embryonen, Überbleibsel aus Befruchtungsmaßnahmen in der Retorte.
Es ist kaum bekannt, dass
sich bei einer Probeabstimmung wenige Wochen zuvor noch 60 Prozent der
britischen Unterhausabgeordneten gegen die Annahme der Gesetzesvorlage
aussprachen. Es ist unwahrscheinlich, dass innerhalb der kurzen Zeit inhaltlich
neue Argumente auftauchten. Also kann sich nur deren Gewicht dramatisch
verlagert haben. Das Austarieren der richtigen und der falschen Gewichte
als Entscheidungsgrundlage für oder gegen die Nutzung von menschlichem
Rohstoff durch den Menschen?
Galileo Galilei konnte es
noch wagen, in seinem Werk über die Natur von Kometen (Il Saggiatore,
Die Goldwaage, 1623), das Gewicht der Argumente selbst zu bestimmen.
Uns bleibt nur die Suche nach höchstmöglicher Transparenz ethischer,
wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Begründungen.
1. Schatzhaus der Möglichkeiten
"Therapeutisches Klonen"
bedeutet Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen (ES). In diesem
"Schatzhaus der Möglichkeiten", das nach Ansicht des Pioniers der
Stammzellforschung John Gearhart den wichtigsten Rohstoff des 21. Jahrhunderts
birgt, schlummert das Potenzial zur Züchtung maßgeschneiderter
Zellkulturen, Gewebe und Organe. Die Positionierung erfolgt als hochrangige
Forschung, definiert durch die Absicht, schwere oder weitverbreitete, bislang
nur unbefriedigend behandelbare Krankheiten erfolgreich anzugehen. Scheinbar
folgerichtig leitet sich daraus höchste Priorität in Forschungsförderung
und wissenschaftlichem Ansehen ab.
Dieses Ich-bin-der-König-der-Welt-Hochgefühl
schwingt als Grundmelodie in der Selbstdarstellung dieses Wissenschaftszweiges
unüberhörbar mit. Zwingende Gegenfragen, wie die nach Zeitpunkt
und Wahrscheinlichkeitsgrad des anvisierten Ziels, nach Risiken und nach
alternativen Forschungsrichtungen, treten in den Hintergrund.
Schon das Etikett, mit dem
das "therapeutische Klonen" seinen Siegeszug anzutreten versucht, ist irreführend.
Das Klonverfahren selbst hat keinen therapeutischen Nutzen. Es ist zunächst
nur eine Methode, Zellen herzustellen, die die Fähigkeit haben, sich
zu einem vollständigen Individuum zu entwickeln. Nach Plan A wird
der Zellkern irgendeiner Körperzelle eines erwachsenen Menschen in
eine kernlos gemachte weibliche Eizelle eingefügt und mit ihr verschmolzen
(Kerntransfer).
Etwa nach sechstägiger
Entwicklung, im so genannten Blastozystenstadium werden diesem Embryo Stammzellen
entnommen und der Embryo dabei vernichtet. Die Kultivierung der embryonalen
Stammzell-Linien erfolgt auf einer Nährlösung (so genannte "feeder
layer"). Sie entsteht dadurch, dass eine große Zahl hochträchtiger
Mäuse getötet und ihre Embryonen zur Herstellung der Nährlösung
homogenisiert werden.
Stammzellen gelten als unsterblich
und pluripotent, also fähig, sich in jede der 270 Zelltypen des menschlichen
Körpers auszudifferenzieren. Es ist wissenschaftlich allerdings noch
offen, inwieweit eine absolut scharfe Trennung zwischen Totipotenz und
Pluripotenz faktisch möglich ist (Hans-Werner Denker, Essen).
Plan B besteht darin, diese
Ausdifferenzierungsfähigkeit in unterschiedlichste Körperzellen
zur Gewebereparatur, Gewebezüchtung oder Schaffung ganzer Organe zu
nutzen. "Therapeutisches Klonen" ist demnach ein bisher - nur an Tieren
erprobter - Forschungsansatz mit dem Fernziel einer Therapie, der nichts
darüber aussagt, ob dieses Ziel jemals zu erreichen ist. Ehrlicher
wäre es demnach, von embryonenverbrauchender Forschung mit dem Ziel,
Stammzellen zu gewinnen, zu sprechen, und redlicher, ein Verfahren, das
sich im Stadium des frühen Tierexperiments befindet, nicht als funktionierendes
Therapiekonzept für Menschen anzupreisen.
Von zwei Tatsachen ist auszugehen.
Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen ist immer embryonenverbrauchende
Forschung. Ferner: Die Trennung zwischen therapeutischem (zum Teil erlaubt)
und reproduktivem (generell verboten) Klonen ist willkürlich. Der
Klon-Embryo, der nicht durch die Entnahme von Stammzellen zu Grunde geht,
hat prinzipiell die Chance, sich zum ganzen Menschen zu entwickeln. Der
Rubikon, der therapeutisches und reproduktives Klonen trennen soll, liegt
also nicht in der Methode sondern im ethischen Vorbehalt. Wann dieser endgültig
versickert, ist nur eine Frage der Zeit, nicht nur, weil reproduktives
Klonen wesentlich leichter realisierbar ist als Klonen zu therapeutischen
Zwecken.
2. Spärliches Wissen
Das Wissen über embryonale
Stammzellen gründet sich fast ausschließlich auf Versuchen an
Mäusen. Ergebnisse an Primaten liegen vereinzelt (z. B. Weißbüscheläffchen)
vor, am Menschen so gut wie gar nicht. Analogieschlüsse von murinen
(aus Mäuseversuchen stammenden) Stammzellen auf Primaten sind nur
mit großer Zurückhaltung erlaubt. So hat, um nur ein Beispiel
zu nennen, das Zytokin LIF (Leukaemia inhibitory factor) bei murinen ES
in Zellkulturen eine wachstumshemmende Wirkung, nicht hingegen bei ES von
Primaten oder Menschen. Menschliche Stammzellen wachsen langsamer und teilen
sich in Kulturen weniger häufig als Mäusestammzellen. Was mit
murinen Stammzellen gelingt, gelingt nicht zwangsläufig mit humanen
ES: verpflanzt in das Gehirn von Ratten, differenzierten sie sich nicht
in Gehirnzellen, sondern bildeten unorganisierte Haufen, und benachbarte
Hirnzellen starben ab (Forschungsgruppe der Geron Corporation in Kalifornien,
Developmental Biology, November 2000).
Eine ganze Reihe wesentlicher
Probleme der ES-Forschung sind noch ungelöst. Eine 100-prozentige
Reinheit der Kulturen, die garantiert sein muss, um die Auslösung
von Tumoren bei der Übertragung von ES in andere Gewebe zu verhindern,
ist nicht gewährleistet. Es ist seit langem bekannt, dass undifferenzierte
frühe embryonale Zellen nach der Verpflanzung Teratome (Mischtumoren)
oder Teratokarzinome auslösen können. Die krebsige Entartung
des Transplantats will man mit so genannten Suizid-Genen verhindern. Wenn
von Krebstherapie durch ES in der Zukunft die Rede ist, sollte ihre potenzielle
krebserzeugende Wirkung nicht verschwiegen werden. Ebenso muss die Virusfreiheit
der Zellkulturen sichergestellt sein. Das Wissen über das Langzeitverhalten
verpflanzter Stammzellen ist unzureichend, und das wichtige Problem der
immunologischen Barrieren bei weitem nicht zufriedenstellend gelöst.
Es könne noch Jahre
dauern, räumen selbst engagierte Stammzellforscher wie Oliver Brüstle,
Bonn, ein, bis alleine die Gewinnung von Stammzellen standardisiert ist.
Und es sei unwahrscheinlich, so David Melton (Harvard Universität),
dass jemals jemand einen Wachstumsfaktor findet, der dopaminerge Hirnzellen
entstehen lässt, an die sich die Hoffnungen der Parkinson-Behandlung
mit Stammzellen knüpfen. Selbst die dem "therapeutischen Klonen" zu
Grunde liegenden Mechanismen sind bis heute weitgehend unbekannt. Die Wissenschaftler
müssten überhaupt erst, die Regeln verstehen, meint Helen Blau
(Stanford University), um das Stammzellspiel spielen zu können.
Bereits der erste therapeutische
Schritt, die Einpflanzung von Stammzellen in bestimmte Organe (Herz, Nervensystem,
Gehirn), die dort dauerhaft spezifische Funktionen erfüllen sollen,
liegt in unbestimmter Ferne. Noch spekulativer ist die Entwicklung nicht
nur von Geweben, sondern von ganzen Organen (Zeitprognosen 10-30 Jahre).
Theoretische Ansätze in dieser Richtung sind dreidimensionale Matrizes
mit deren Hilfe funktionell einheitliche Zellsysteme entwickelt werden
könnten, die der Organentlastung dienen. Völlig offen ist, ob
eine Organentwicklung aus Stammzellen außerhalb des Körpers
überhaupt möglich ist. Der ultimative Schritt wäre dann,
im Reagenzglas angezüchtete "Organquellen" im mütterlichen Organismus
bis zu einer bestimmten Reifungsstufe heranwachsen zu lassen, um sie dann
abzutreiben. Am Instrument der Abtreibung schlösse sich dann ein paradoxer
Kreis, der mit der Einpflanzung von Hirnzellen abgetriebener Föten
in der Parkinson-Therapie seinen Anfang genommen hat.
3. Die Jagd nach der Eizelle
Das Schatzhaus der Möglichkeiten,
lässt sich allerdings nur füllen, wenn weibliche Eizellen en
masse zur Verfügung stehen. Selbst bei vorsichtiger Schätzung
ist der "Bedarf" immens. Rund eine viertel Million Parkinsonkranker gibt
es in Deutschland. Wenn menschliche ES nur für zehn Prozent dieser
Patienten eingesetzt werden sollten, sind 25 000 menschliche Klone notwendig.
Um einen Klon zu erzeugen, sind nach tierexperimentellen Erfahrungen Hunderte
Eizellen erforderlich, was bedeutet, dass Millionen weiblicher Eizellen
benötigt würden.
Bei der Frau gelangen normalerweise
maximal zwei Eizellen gleichzeitig zur Reife. Diese Zahl kann durch eine
subjektiv belastende hormonelle Stimulierung (Superovulation) auf vier
bis sechs erhöht werden. Das Risiko eines so genannten ovariellen
Hyperstimulationssyndroms (OHSS) ist dabei grundsätzlich nicht zu
vermeiden. Je nach Schwere kommt es zu Flüssigkeitsansammlungen in
Herzbeutel und Bauchraum, Thrombosen und Versagen der Kreislauf-, Nieren-,
Lungen- oder Leberfunktion. Todesfälle bei zuvor gesunden jungen Frauen
wurden in einzelnen Fällen beschrieben.
Das Risiko eines lebensbedrohlichen
OHSS, das ja ein rein ärztlich verursachtes Krankheitsbild darstellt,
liegt zwischen 0,5 bis 2 Prozent, Zahlen, die aus der Fortpflanzungsmedizin
stammen. Die Gewinnung der Eizellen erfolgt mittels ultraschallgeleiteter
Punktion durch die Scheide, d. h. mit Hilfe eines invasiven Verfahrens
mit hoher Eingriffstiefe und potenziellen Komplikationsmöglichkeiten
(Blutungen, Darmperforation, Infektionen im Beckenraum). Schließlich
steht der Verdacht hormonell ausgelöster Karzinome (Eierstockkrebs)
im Raum.
Diese Methoden der Eizellgewinnung
mögen im Rahmen der Reproduktionsmedizin durch den Kinderwunsch bei
sonst nicht behebbarer Kinderlosigkeit ihre Rechtfertigung finden. Im Kontext
des so genannten therapeutischen Klonens dekuvrieren sie sich als fremdnütziger
Eingriff in den weiblichen Körper, der durch keinen Heilauftrag gedeckt
ist (Ingrid Schneider).
"Eizellspende" rückt
dann dicht in den Problembereich der Lebendspende mit ihren zur Genüge
bekannten Fragwürdigkeiten, die von psychologischen Abhängigkeiten
bis zur verdeckten Kommerzialisierung reichen. Klagen über eine neue
Form von "Wartelisten" und Allokationsprobleme sind abzusehen. Es bedarf
keiner großen Fantasie, sich die Psychodynamik innerhalb einer Familie
vorzustellen, in der eine junge Frau und ein älterer Alzheimerkranker
zusammenleben. Die Instrumentalisierung und gesellschaftliche Verfügbarmachung
des weiblichen Körpers, den Babara Duden einmal als "öffentlichen
Ort" bezeichnet hat, gewinnt hier eine neue Dimension. Dass dieses Phänomen
im Zukunftsentwurf kaum einlösbarer Heilsversprechungen so vollkommen
unterschlagen wird, ist nicht die einzige Unredlichkeit.
Es ist offensichtlich, dass
der "Bedarf" an Eizellen mit konventionellen Methoden, z. B. im Rahmen
der In-vitro-Fertilisation (IvF), auch nicht annähernd zu decken ist.
Die Jagd nach anderen Ressourcen ist bereits angelaufen. Das Internet-Angebot
an Eizellen amerikanischer Agenturen mit Preisen ab 6000 Dollar aufwärts,
dürfte kapitalkräftigen Interessenten vorbehalten sein. Tauschangebote
für ökonomisch schlechter gestellte Frauen, die eine In-vitro-Befruchtung
gegen Abgabe der Hälfte ihrer Eizellen kostenlos erhalten, gibt es
in Großbritannien.
Im Juli 1999 bot eine Londoner
Privatklinik Frauen eine unentgeltliche Sterilisation an - im Gegenzug
für die Überlassung der Eier. An das große Reservoir von
Frauen in Osteuropa und in den Entwicklungsländern wird vielleicht
schon im Stillen gedacht. Ungefähr 20 000 menschliche Eizellen ließen
sich aus den Eierstöcken einer bei einem Autounfall umgekommenen Frau
gewinnen, so der Immunbiologe Davor Solter, Freiburg. Auf einer Konferenz
in Turin Ende Oktober 2000 prangerte die Endokrinologin Nicola Garcea das
Vorgehen von Laboratorien in den Vereinigten Staaten an, die versuchen,
Eizellen zu gewinnen und zu verwerten, die von im vierten oder fünften
Monat abgetriebenen Mädchen stammen.
Die Schranke Mensch/Tier
erweist sich auf der Eizelljagd als immer weniger unüberwindlich.
Der amerikanische Altersforscher Michael West fusionierte menschliche Stammzellen
mit den entkernten Eizellen von Kühen. Der Kuh-Mensch-Embryo war zwar
nicht lebensfähig, seine Funktion als Stammzellreservoir für
den Menschen wurde aber immerhin in Erwägung gezogen. Im Oktober 2000
wurde durch Greenpeace bekannt, dass in den Laboratorien der Unternehmen
Stem Cell Sciences (Australien) und Biotransplant (USA) Zellkerne von menschlichen
Föten in Eizellen von Schweinen implantiert worden waren. Die Forscher
hatten die so entstandenen "Wesen" eine Woche lang wachsen lassen.
Ein japanisch-amerikanisches
Team unter der Leitung von Akiyasu Mizukami (University of Utah) verpflanzte
menschliche Eizellen erfolgreich in den Uterus von Mäusen. Forschungsziel:
Schaffung von "Eierbanken" in Tieren, zunächst noch für Frauen,
die beispielsweise an Krebs erkrankt sind und sich einer Chemotherapie
unterziehen müssen.
4. Falsche Bilder
Parkinsonkranke, deren Schicksal
alleine in den Händen von Klonierungsgegnern liegt, und Embryonen,
die in Wirklichkeit nur Zellhaufen sind, kleiner als ein Punkt in diesem
Text - solche Bilder trüben die Transparenz der Diskussion. Einmal
durch Schaffung von Feindbildern, um von der wahren Brisanz der Thematik
abzulenken, zum anderen durch das Operieren mit der Unanschaulichkeit,
die sich so leicht einer ethischen Wertung entzieht.
Obwohl es noch nicht einmal
eine ansatzweise verlässliche Grundlagenforschung zum therapeutischen
Klonen gibt, werden Wünsche und Hoffnungen von kranken und alten Menschen
bereits in konkrete Ansprüche umgemünzt. Wer diese mangels überzeugender
Forschungsergebnisse nicht mitträgt, muss mit dem Stempel der Forschungsfeindlichkeit
und Herzlosigkeit rechnen. Wer Zweifel an dem inszenierten Zeitdruck hegt,
findet sich rasch im Lager der Vorgestrigen wider.
Sicher können Anschaulichkeitsprobleme
die Bewertung des Status von Embryonen erschweren. Für viele Menschen
ist der allgemeine Begriff des Embryo noch geprägt von den seinerzeit
aufregenden Fotografien heranreifender Föten eines Lennart Nilsson,
selig daumenlutschenden Geschöpfen im warmen See des Fruchtwassers.
Bilder aus Zeiten, als die Schwangerschaft noch keine visualisierte Embryologie
war, fließen hier ein.
Im Zeitalter der Elektronenmikroskopie
und des beginnenden Einzugs der Quantentheorie auch in die Denkgebäude
der Medizin (C. F. von Weizsäcker) kann die Unanschaulichkeit des
Subjekts nicht mehr als Hindernis für eine ethische Bewertung herhalten.
Risiken gehen vielmehr von bestimmten Denkmustern aus. Aktuelles Beispiel
ist etwa die These "Die Selbstachtung eines Embryos lässt sich nicht
beschädigen" aus dem Mund des Kulturstaatsministers (Julian Nida-Rümelin
im Berliner Tagesspiegel am 3. Januar 2001). Welchen Begriff hat
jemand von Menschenwürde, der sie an der "Selbstachtung" festmacht,
ein Raster durch das nicht nur Embryonen fallen, sondern auch Neugeborene,
Koma-Patienten oder Alzheimerkranke in Spätstadien?
Einer solchen Denkart entgeht
offensichtlich, dass ein modernes Verständnis von Menschenwürde
nicht von einem ontologischen sondern einem relationalen Modell ausgeht.
In diesem leitet sich Menschenwürde als gemeinschaftliches Versprechen
ab, das auf die Schaffung menschenwürdiger Lebensumstände gerichtet
ist. Ihr Bezugspunkt ist die Verletzbarkeit des Menschen unter dem Gesichtspunkt
der sozialen Missachtung (Ulfrid Neumann). Diese Verletzbarkeit des Menschen
ist nicht durch entwicklungsbiologische Abläufe willkürlich eingrenzbar,
sondern existiert schon und gerade im Stadium der absoluten Wehrlosigkeit,
d. h. am Beginn des Lebens in der Petrischale ohne den Schutz des mütterlichen
Leibes.
Ebenso wenig können
biologistische Taschenspielertricks verhindern, sich dem Problem der ethischen
Bewertung des Embryos sinnvoll anzunähern. Es führt kaum weiter,
den spekulativen Zeitpunkt der Gehirnentwicklung des Embryos, ab dem Schmerzempfindung
möglich sein soll, als "neuronalen Rubikon der Individualität"
auszurufen, ab dem Stammzellforschung als sakrosankt zu gelten haben (Johannes
C. Huber, Wiener Reproduktionsmediziner).
Auch sprachliche Verbiegungen
wie "Prä-Embryo" oder "früher Embryo" sind Konstrukte, die vorgaukeln
wollen, es gäbe nach der Befruchtung der Eizelle und vor dem "richtigen"
Embryo irgendetwas nebulös Heranwachsendes in einem rechtsfreien Raum.
Entwicklungsbiologisch plausibel definierbar sind solche Begriffsbildungen
nicht. Je schärfer die Debatte, um so winziger und menschenferner
scheint ihr Objekt zu werden. Zum Schluss geht es nicht mehr um den heranreifenden
Menschen, sondern nur noch um herumschwimmende Zellen, die sich vermehren
und sterben - wie alle anderen Zellen auch.
Nicht minder fragwürdig
ist es, durch semantische Nebelkerzen dem beim Klonen durch Zellkerntransfer
erzeugten Embryonen den Status des Embryo überhaupt abzusprechen,
weil der § 8 des Embryonenschutzgesetzes als Embryo die "befruchtete
menschliche Eizelle ab Kernverschmelzung" definiert. Ein gleiches Argumentationsmuster
verwendet der Dulbecco-Bericht, der den italienischen Weg zum Klonen ebnen
soll. Wenn es zuträfe, dass beim Klonen tatsächlich keine Embryonen
sondern nur "embryonenartige Zellen" entstehen, hätte dies die absurde
Konsequenz, dass der geklonte Mensch kein Embryonalstadium durchlaufen
würde (Stellungnahme des Technologierates zum Klonieren beim Menschen,
1997).
5. Biografien - rückwärts
aufgerollt?
Biografien sind von rückwärts
her aufrollbar. So erzählt führen sie nicht selten mit größerer
Präzision zum frühesten Ursprung der Lebensgeschichte. Marcel
Proust zum Beispiel hat sich dieser Methode in der Suche nach der verlorenen
Zeit bedient. Ein solcher biografisch orientierter Zugang zur Entwicklung
des Menschen ist möglicherweise der sicherste Weg zu einem umfassenden
Selbstverständnis. Er macht deutlich, dass die menschliche Entwicklung
kontinuierlich abläuft, und im Diskurs geschaffene Zäsuren sich
als willkürlich erweisen.
In der über die Zeit
hinweg vorfindbaren Identität des Subjekts wird ein Kontinuum erkennbar,
das nicht erst ab einem fiktiven Zeitpunkt vorhanden ist. Es lässt
sich zurückverfolgen bis an den unmittelbaren Anfang, der bereits
die Fähigkeit (Potenzialität) sich zur Person zu entwickeln beinhaltet.
Diese Trias aus Kontinuitäts-, Potenzialitäts- und Identitätsargumenten
kann als konsistenter Beleg für die bruchlose Entwicklungsfähigkeit
des Menschen zur Person vom Zeitpunkt der Zeugung an verstanden werden
(Gisela Badura-Lotter).
Einfacher ausgedrückt:
Der Embryo entwickelt sich als Mensch und nicht zum Menschen (Ulrich Lüke).
Dem Modell einer abgestuften Schutzwürdigkeit des Embryos, die seine
Vernutzung und Vernichtung rechtfertigen könnte, seine Instrumentalisierung
als Rohstoff, seine Herabwürdigung zum Handelsobjekt, ist damit der
logische Grund entzogen.
6. Alternativen
Adulte Stammzellen, die im
ausgewachsenen Organismus in geringer Zahl vorkommen, sind wahrscheinlich
grundsätzlich für die gleichen Therapieziele, die mit ES anvisiert
werden, geeignet. Sie zeichnen sich durch zwei wesentliche Merkmale aus:
die Fähigkeit, sich in verschiedene andere Gewebezellen umzuwandeln
(Transdifferenzierungspotenzial) und vielleicht auch rückprogrammierbar
zu sein in ganz frühe Stadien der Zellentwicklung. Unbekannt ist freilich
noch, welche Faktoren oder Umgebungseinflüsse die Umdifferenzierung
von adulten Stammzellen in andere Gewebszellen bestimmen, wie dies experimentell
gesteuert werden kann und welche Lebensdauer sie in Zellkulturen erreichen
können. Fragen, die alle zunächst durch Grundlagenforschung beantwortet
werden müssen. Bei der Rückprogrammierung in früheste Stadien
der Zellentwicklung stellt sich allerdings die gleiche ethische Problematik
wie bei menschlichen ES.
Weitere hoffnungsvolle Ansätze
bieten Stammzellen aus dem Knochenmark. So ist vor kurzem die Ausdifferenzierung
von so genannten Stroma-Stammzellen des Knochenmarks in sechs verschiedene
Zellarten (Knochen, Knorpel, Fettgewebe, Muskulatur und zwei Zellarten
des Hirngewebes) von Darwin Prockop und seinen Mitarbeitern in Philadelphia
beschrieben worden (Biochemical Society Transactions, Bd. 28, S. 341).
Schließlich gibt es noch den Forschungsansatz mit Stammzellen aus
dem Nabelschnurblut.
7. Das falsche Gewicht
Mit zahllosen Argumenten
wird heute die Debatte um das "therapeutische Klonen" geführt. Es
geht - scheinbar - um Güterabwägungen. In der einen Waagschale
der Mensch in seiner frühesten Entwicklungsphase, in der anderen der
Sieg über die großen Menschheitsplagen. Aber die andere Waagschale
ist für den kritischen Betrachter leer. Was sie füllen könnte,
ist gebunden an ein Menschenopfer mit völlig ungewissem Ausgang, das
noch nicht erbracht ist.
Oder befindet sich in der
anderen Waagschale vielleicht doch etwas? In der Londoner Unterhausdebatte
um die Verwertung von Embryonen am 17. November 2000 konstatierte der Parlamentarier
Philip Hammond: Es gehe in Wirklichkeit nicht um die Balance zwischen moralischen
Argumenten für die Forschung und die Gefahr der Ausbeutung von Embryonen.
Worum es tatsächlich gehe, sei die Abwägung zwischen Embryonenausbeutung
und dem Risiko der Forschungsstagnation für die Biotechnologie und
die Pharmaindustrie.
Die entscheidende Alternative
zum "therapeutischen" Klonen könnte freilich woanders liegen, als
nur in adulten Stammzellen, im Knochenmark oder Nabelschnurblut - nämlich
in einem Menschenbild welches ausschließt, dass der Mensch zum Wolf
des Menschen wird (Thomas Hobbes: Homo homini lupus).
Zukunftsszenarien sind häufig
nicht mehr als kostspielige Trostpflaster für die Gegenwart. Sie ohne
solide wissenschaftliche Basis als Königsweg zum Sieg über Parkinson,
Krebs oder Alzheimersche Krankheit auszuloben und den Preis dafür
zu verschweigen, wäre ein fragwürdiger Umgang mit den Hoffnungen
kranker Menschen.
Geisler, Linus S.: Fragwürdiger
Umgang mit den Hoffnungen kranker Menschen. - Das so genannte therapeutische
Klonen. |
Frankfurter Rundschau, 19.02.2001,
Nr. 42, S/R/D, S. 9 (Dokumentation) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0102fr_klonen.html |
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