Virtuelle Realität
Linus S. Geisler
"Virtual Reality", die Herstellung
künstlicher oder möglicher Welten durch Computersimulation, ist
mehr als nur Spielerei. Sie findet breite Anwendung nicht nur beim Militär,
sondern auch beispielsweise in der Medizin. Nicht nur das Verhältnis
des Menschen zur Technik, sondern auch das Verhältnis der Menschen
untereinander wird sich dadurch verändern.
Der Mann, an allen vier Gliedmaßen
gelähmt, erhebt sich mühelos. Wie mit Siebenmeilenstiefeln durcheilt
er Räume, die der Computer eigens für ihn errechnet hat, mit
weit ausgreifenden Schritten und einer kraftvollen Eleganz, die er in den
besten Tagen seiner Gesundheit nicht besessen hat. Dann stößt
er sich ab in die endlose Softwarelandschaft, ein Falke im Cyberspace.
Es sind Manöver. Die Leopard 2-Panzer
röhren durch die frühherbstlichen Felder des Hunsrück, grollen
über die Flure. Aber sie verwüsten kein Gelände und benötigen
keinen Tropfen Treibstoff. Sie fahren durch die Mauern eines Bauerngehöfts,
das sich, nachdem es vier der Stahlkolosse durchquert haben, in Sekundenbruchteilen
in die alte Unversehrtheit zurückverwandelt. Programmänderung:
Es ist Krieg. US-Kampfpanzer rollen auf die irakischen Gegner zu und eröffnen
das Feuer. Siebzehn irakische Soldaten werden getötet, zweiunddreißig
verwundet, wie im Operationsprogramm von SIMNET (Simulation Network) vorausberechnet.
Nur fließt kein Tropfen Blut, und man hört keine Verwundeten
schreien. Auf diese Effekte hat man verzichtet, um die Rechnerkapazitäten
nicht ausufern zu lassen.
Der plastische Chirurg David Altobelli
[1] in Boston ist mit dem Ergebnis zufrieden. Das Resultat der Nasen- und
Lippenkorrektur wird die junge Frau aus Newport Beach von Minderwertigkeitsgefühlen
befreien, an denen sie über zwanzig Jahre gelitten hat. Die befreiende
Operation hat allerdings noch gar nicht stattgefunden, sondern ist in vier
Wochen
geplant. Heute hat der Spezialist für plastische Chirurgie mit seinem
digitalen Skalpell lediglich ein virtuelles Operationsresultat erzeugt.
Eine vor-ahmende Darstellung würde Friedrich Georg Jünger [2]
diesen Eingriff nennen.
Virtuelle Realität (VR) zählt
zu den modernen Technologien mit den faszinierendsten Zukunftsperspektiven.
VR-Experten wie Howard Rheingold [3], Manfred Waffender [4] oder Jaron
Lanier [5] prognostizieren, daß sie das menschliche Leben in den
vielfältigsten Bereichen des Alltags und in noch nicht abzusehendem
Umfang beeinflussen wird: In Schul- und Weiterbildung, Handel, Kommunikation,
Wissenschaft, Medizin, Kriegsführung, Unterhaltung, Werbung, Politik,
Philosophie und Religion. In der zu Ende gedachten Perspektive der virtuellen
Weltenerzeugung wird schließlich der "Gott im Rechner" [6] zum Alleinherrscher
über die von ihm geschaffene Welt des Scheins.
Technische Grundlagen
VR ermöglicht, eine computererzeugte
Welt zu erkunden und sie gleichzeitig interaktiv zu verändern. Die
Immersion, das Eintauchen in die virtuelle Welt, den Cyberspace, die Navigation
in ihr und die Interaktion mit dem System sind die wesentlichen Kennzeichen
der VR. Freilich ist Cyberspace eine simulierte Wirklichkeit und damit
Schein. Der Cybernaut von heute ist gerüstet mit brillenartigen miniaturisierten
Bildschirmen vor den Augen (Head Mounted Display), Datenhandschuh (Dataglove)
und einem sensorbestückten Ganzkörperanzug (Datasuit). In der
Zukunft werden computergesteuerte Minibildschirme, superleichte Flüssigkristallmonitore,
wie Kontaktlinsen getragen werden können, ein Schritt weiter im Verwischungsprozeß
der Grenzflächen zwischen Mensch und Computer, der Verschmelzung von
Individuum und Apparat. Immerhin ernannte das Nachrichtenmagazin "Time"
schon 1982 den Computer zum "Mann des Jahres".
So ausgestattet ist der Cybernaut in
der Lage, audiovisuell in künstliche dreidimensionale Welten einzutauchen.
Der Rechner registriert jede Drehung des Kopfes, selbst Augenbewegungen,
jeden Befehl, den der Cybernaut mit seinem Datenhandschuh oder -anzug erteilt,
um aus diesen Impulsen in Echtzeit eine dreidimensionale Wirklichkeit zu
aufzubauen. Das Anlegen des Datenanzugs hat der LSD-Papst Timothy Leary
als ebenso bedeutsam für die Menschheitsgeschichte interpretiert wie
seinerzeit das Anlegen der ersten Kleidung in der Altsteinzeit [7]. Die
Simulation von Gleichgewichts-, Tast-, Geruchs- und Geschmacksinn gestaltet
sich zwar technisch noch schwierig im Vergleich zur Vortäuschung optischer
und akustischer Wahrnehmungen, aber wie Jima Young Jenkins im Magazin für
künstliche Intelligenz prophezeit, ist es nur eine Frage der Zeit,
bis die Gesamtheit sinnlicher Empfindungen als Softwarepaket käuflich
sein wird.
Simulation als Grundlage der VR erweist
sich immer dort als nützlich, wo die Erprobung (oder Manipulation)
eines Systems in der Wirklichkeit technisch unmöglich, zu aufwendig
oder zu gefährlich ist, und um spielerisch Alternativen zu erproben.
Genauer gesagt, handelt es sich bei der Simulation um die modellhafte Darstellung
oder Nachbildung bestimmter Aspekte eines bereits vorhandenen oder noch
zu entwickelnden kybernetischen Systems. VR ist quasi der nur noch durch
die Rechnerkapazitäten begrenzte, hybride Exzeß der Wirklichkeitssimulation.
Wissenschaftsphilosophen sehen in der Computersimulation neben dem Experiment
und der Theorie die "dritte Säule" der empirischen Wissenschaft.
Historische Aspekte
Die Wurzeln von Cyberspace, dem digitalen
Universum, durch dessen unendliche Softwarelandschaften sich William Gibsons
[8] "Cyperpunks" mit Chipimplantaten im Gehirn bewegen, reichen möglicherweise
rund zwanzigtausend Jahre zurück. Zumindest nach Ansicht von Howard
Rheingold waren die Höhlenmalereien von Lascaux die frühesten
Menschheitsversuche zur Erzeugung virtueller Realitäten. Die häufig
anamorphotisch verzerrten Malereien dienten dem gleichen Zweck wie die
durch monströse Rechnerkapazitäten generierte VR: Der Hervorbringung
bestimmter Bewußtseinszustände in bisher nicht dagewesenen Wirklichkeiten.
Vilém Flusser [9] konfrontiert den Bildbegriff der Menschen von
Lascaux mit dem der Menschen der Renaissance und dem der Bewohner moderner
Technologiewelt. Die vormodernen, handgefertigten Bilder an den Höhlenwänden
versteht er als subjektive Wirklichkeitsauslegungen (mit der Möglichkeit
der Überschreitung dieser Wirklichkeit), während technisch produzierte
Bilder aus dem Funktionieren der Apparatur hervorgehen und "Konkretionen
von objektiven Abstraktionen" sind.
Der Siegeszuge des Scheins, jener aus
dem Sein und dem Nichts gemischten "dritten Macht" (Norbert Bolz [10]),
hat also möglicherweise im Höhlenwerk der Dordogne seinen Ausgangspunkt
genommen. Plato [11] hat den Schein zwar als das Nichtwahre bezeichnet,
läßt aber seinen Theaitetos einräumen: "Aber er ist
ja doch irgendwie." Dem Bild selbst wird der Charakter der Wirklichkeit
abgesprochen. So entgegnet auch der Fremde im Dialog mit Theaitetos, nicht-seiend
- also nicht wirklich - sei das, was wir Bild nennen. Die Kulmination des
erzeugbaren Scheins ist die elektronische Geburt der Hyperrealität,
von Jean Baudrillard [12] als Modell eines Realen ohne Ursprung oder Realität
("réel sans origine ni réalité: hyperréel")
definiert. Es ist der Entwurf der Landkarte, die vor dem Gelände da
ist. VR erweist sich als Apriori der Wirklichkeit: Die Erzeugung virtueller
Welten, so Iser [13], wird zu "einem Akt des Fingierens", läßt
sich als "Irrealisierung von Realem und Realwerden von Imaginärem"
begreifen.
Veränderte Bewußtseinszustände
Virtuelle Realitäten sind so alt
wie das menschliche Bewußtsein. Der Traum, das Spiel, die Droge,
sie alle sind Wege der Weltenerzeugung, uralte Vorläufer des "elektronischen
LSD", der digitalen Bewußtseinserweiterung, der Vor-Ahmung von Wirklichkeiten
im Computer. Im Neo-Raum der virtuellen Realität eröffnen sich
begehbare Informationsräume, werden soziale Fiktionen über Menschen
und Maschinen digital inszeniert. Im elektronischen Wechselspiel von Hard-
und Software wird der Mensch zur "Wetware" (Rudy Rucker [14]), ein Rest
an der Maschine, dessen Erweiterungen sich durch Immersion in den selbstgeschaffenen
Simulakra, den Trugbildern, ergehen. So gehorcht er dem Motto John Walkers,
Firmenchef von "Cyberia" in Sausolito/Kalifornien: "Realität ist nicht
mehr genug." Die ketzerisch anmutende Frage, ob möglicherweise auch
unsere, die "wirkliche" Wirklichkeit gleichfalls nur das Ergebnis von Simulationen
irgendeines übergeordneten Wesens, quasi eine Trompe l'œil-Malerei
höherer Ordnung ist, erweist sich dabei als letztlich nicht entscheidbar.
Technische Anfänge
Bereits im Aufkommen und der Verbreitung
des Rundfunks sieht Egon Friedell das Hinschwinden der Realität zugunsten
erfundener Wirklichkeiten: "Es gibt keine Realitäten mehr, sondern
nur noch Apparate."[15] Und in eben diesen Apparaten erkennt Bertolt Brecht
in den "Gedanken eines Grammophonbesitzers" Verlockungen grandiosen Ausmaßes:
So eine Maschine bedeutet doch auch eine Art Unsterblichkeit. Eine Vision
der virtuellen Realität findet sich bereits 1932 in Aldous Huxleys
"Schöne neue Welt" in Gestalt des "Illusionsgerätes".[16] Eroberung
und Auslegung der Welt nur noch über das Bild, das damals freilich
nur Projektion der "wirklichen" Wirklichkeit sein konnte, war Gegenstand
eines Heidegger-Vortrags im Juni 1938, der sich aus heutiger Sicht wie
ein Vorgriff auf das Wesen der virtuellen Realität liest, wenn man
in dieser Wirklichkeitsüberschreitungen mittels errechneter Bilderfluten
sieht. Mehr und mehr, so Heidegger [17], werde das moderne Denken zu einem
Vorgang der Erblindung, zum blicklosen Rechnen.
Die technischen Vorläufer der
virtuellen Realität im engeren Sinne lassen sich in das Jahr 1962
zurückdatieren, als Morton L. Heilig ein US-Patent für seinen
Sensorama Simulator, eine Art Erfahrungskino (Wirklichkeit für'n Groschen"),
anmeldete. Es erlaubte seinem Benutzer in einer dreidimensionalen Filmvorführung
eine Motorradfahrt durch Brooklyn zu unternehmen, wobei sogar die typischen
Straßengerüche in den Simulator eingeblasen wurden. Obwohl Morton
bereits zwei grundlegende Möglichkeiten der virtuellen Realität,
nämlich das Eintauchen und Navigieren in künstlichen Wirklichkeiten,
gedanklich vorweggenommen hatte, fehlte seinem Sensorama Simulator das
Entscheidende: Die Interaktivität, das heißt die Möglichkeit
zur aktiven Einbindung des Betrachters in das System. Mortons Erfindung
kam ähnlich verfrüht wie 1840 die Difference engine, der nie
gebaute Rechenautomat des genialen britischen Mathematikers Charles Babbage,
der als einer der Stammväter des modernen Computers gilt.
Anwendungsbereiche
Die spielerischen Anwendungen der virtuellen
Realität wurden rasch überrundet durch den Einsatz auf gewichtigeren
und lukrativeren Gebieten, in erster Linie militärischen Bereich.
Nach Expertenschätzungen werden mehr als 80 Prozent der militärischen
Entscheidungen auf der Grundlage von Computerprogrammen, meist unter Einbeziehung
virtueller Realitäten, getroffen. Die Quote wird noch anwachsen, wenn
das Pentagon-Projekt "2851" [18], die digitale Erfassung der gesamten Erdoberfläche,
abgeschlossen ist.
Heute zählt die Medizin zu den
attraktivsten Entwicklungsfeldern der virtuellen Realität [19]. Mit
CAS (Computer Assisted Surgery), der computerunterstützten Chirurgie,
beginnt der eigentliche Einzug der virtueller Realität in die Medizin.
In VIEW (Virtual Interface Environment Workstation), basierend auf einer
Idee Scott Fishers bei der NASA, können Chirurgen bereits mit Hilfe
eines digitalen Skalpells am "virtuellen Leichnam" Operationen planen und
üben. Ähnliche Versuche laufen im Stanford Medical Center.
In Sacramento/Kalifornien nehmen computerunterstützte
Roboter unter der Leitung von William Bargar [20] Hüftgelenksplastiken
vor. In einem ersten Schritt werden Computertomographien vom Hüftgelenk
angefertigt und vom Rechner zu dreidimensionalen Bildern umgesetzt. Danach
wird ein individuell passendes Implantat vom Chirurgen ausgesucht und das
erforderliche "Bohrloch" im Knochen in das Computerbild eingezeichnet.
Dann bohrt der Roboter (ROBODOC) mit einer von Menschenhand nicht erreichbaren
Genauigkeit von 2,8 Millimetern in ca. 25 Minuten das vorberechnete Bohrloch.
Das PUMA MARK II Robotic System [21]
in Toronto führt Computer- und roboterassistiert selbständig
Entfernungen von Hirntumoren, wie zum Beispiel Astrozytomen des Thalamus,
bei Kindern durch. MINERVA, ebenfalls ein neurochirurgischer Operationsroboter,
wird in Lausanne erprobt. Weltweit werden bereits in 15 klinischen Zentren
Operationen an Gesicht und Schädel mittels Computersimulation durchgerührt.
In den USA laufen Manöverplanungen, bei denen unter Einsatz von virtueller
Realität und Robotern verwundete Soldaten in gepanzerten Ambulanzfahrzeugen
von Chirurgen, die sich bis zu 40 Kilometer hinter der Frontlinie befinden,
operiert werden - ein Musterbeispiel für die sogenannte Telepräsenz.
[22]
Zu Forschungs- und Lehrzwecken plant
man in Schweizer Instituten [23] "virtuelle Menschen", um an ihnen Bewegungsstörungen
bei Gelenkerkrankungen oder den Effekt von Prothesen studieren zu können.
Die nächste Generation von Patienten, so die Autoren, würden
"virtuelle Menschen mit realen virtuellen Knochen" sein.
Die Kombination von CAT (Computer Assisted
Test), NMR und Röntgenbefunden in 3-D-Grafik ermöglicht zu Studien-
und Übungszwecken selektiv "lebende" virtuelle Organe ("virtuelles
Colon") oder Extremitäten ("virtuelles Kniegelenk") maßgeschneidert
zu erzeugen. Interaktive endoskopische Simulationssysteme zum Erlernen
endoskopischer Techniken im Magen-Darm-Trakt (ÖGD, ERCP, Papillotomie)
sind in Erprobung. [24]
Die Ablösung des Arztes durch
Softwareprogramme zeichnet sich immer deutlicher ab. Die Wirklichkeit und
mit ihr der Patient existieren nur noch auf dem Bildschirm, auf der "Benutzeroberfläche".
Der launische Halbgott in Weiß von einst wandelt sich zum berechenbaren
Gott im Rechner, dem keine manuellen, sondern allenfalls noch digitale
Kunstfehler unterlaufen.
"Sandkastengebrechen"
Dies alles sind Anfänge. Die elektronische
Simulation von Krankheit bei Gesunden könnte es ermöglichen,
zu präventivem Verhalten zu motivieren. Es ist denkbar, daß
virtuelle "Sandkastengebrechen" es erlauben werden, bei realen Behinderungen
Adaptationsphänomene vorwegzunehmen. Für schwerbehinderte Patienten
eröffnet die VR bemerkenswerte Perspektiven: Behinderte lernen, mit
allmählich schneller werdenden virtuellen Bällen zu jonglieren
und so ihre manuellen Fertigkeiten schrittweise zu steigern. Mit speziellen
VR-Datenhandschuhen (Teletact II, Pisa Kevlar-Sehnenhandschuh, Rudget-Handschuh)
lassen sich rudimentäre Bewegungsabläufe so übersetzen,
daß eine normale Mobilität resultiert - allerdings nur im Cyberspace.
Von einer amerikanischen Firma wurde das Bio-Muse-System konzipiert, das
es Tetraplegikern erlaubt, minimale Lid-, Lippen-, Schluck- oder Muskelbewegungen
in Musik- oder Textmitteilungen zu verwandeln und virtuelle Gegenstände
zu bewegen. [25] Ausdrücklich nennt Howard Rheingold die "Befreiung
des an allen vier Gliedmaßen Gelähmten aus dem Gefängnis
seines Körpers" als eines der Hauptziele der Virtuellen Realität.
VR gegen Spinnenangst
Es wäre möglich, VR in der
Technik der Visualisierung, die vor allem in den USA in der Onkologie,
bei der Behandlung bösartiger Tumoren eingesetzt wird, zu benutzen.
Visualisierungstechniken basieren auf der Vorstellung, daß die mentale
Erzeugung geeigneter Bilder durch den Patienten über unterschiedlichste
Mechanismen den Verlauf der Tumorkrankheit günstig beeinflussen kann.
Der Patient im Cyberspace verwandelt sich in eine virtuellen Immunzelle
(zum Beispiel eine T-Killerzelle) und kann so selbst den Tumor attackieren
und schrittweise vernichten.
Damit zeichnet sich ein weiteres, janusgesichtiges
Feld der VR ab: Manipulation des seelischen Befindens von Kranken im Cyberspace.
So laufen an der Universität von Leeds beispielsweise Versuche, Angstneurosen
(Phobien) unter Verwendung von VR zu behandeln: Bei zwanghafter Spinnenangst
wird der Patient im Sinne einer Konditionierungstherapie mit virtuellen
Spinnen konfrontiert, um seine Phobie abzubauen. Der Einsatz von VR zur
Therapie von Sexualstörungen und Depressionen wird ebenfalls diskutiert.
Die digitalisierte Selbstinszenierung wird die Simulation von Erlebnisqualitäten
erlauben, die uralte schamanische Künste ebenso in den medizinhistorischen
Fundus verweisen wird wie das Ergebnis des Drug-Design der High-Chem-Laboratorien.
Ein Vorhersagbarkeit für diese neuen elektronisch geänderten
Bewußtseinszustände ist allerdings nicht gesichert.
Nostalgische Relikte
Dem Menschen eröffnen sich in
der computererzeugten schönen neuen Welt des Scheins somit ungeahnte
"virtuelle" Freiheiten, die alleine von der Speichergröße des
Rechners bestimmt werden, Freiheiten, die so "wirklich" sind wie die Wirklichkeit"
der virtuellen Welten. Gesundheit wird zum käuflichen Softwarepaket,
dessen Preislimit und Verteilungsmodalitäten ein übergeordnetes
Gesundheitssystem bestimmt. Die Sinnentleerung der alten Begriffe von Krank
und Gesund, Behindert oder Nichtbehindert hat begonnen. Arzt-Patienten-Beziehung
und Arzt-Apparat-Patienten-Beziehung erscheinen vor dem Hintergrund dieser
Entwicklungen nur noch als nostalgische Relikte. In der neuen elektronischen
Wirklichkeit findet eine Begegnung zwischen Arzt und Patient, mit und ohne
Einschaltung von Apparaten, nicht mehr statt. In der VR überschreiten
beide sogar das Modell eines Funktionskontinuums (Norbert Bolz), denn sie
geraten zu Bestandteilen des Systems selbst, unauflöslich mit ihm
verschmolzen, nicht mehr zu orten im Geschlinge elektronischer Feedbackschleifen.
Im Cyberspace wird virtuelles "Leben" nicht mehr durch DNA, sondern mittels
Algorithmen, also Rechenprozessen, erzeugt. Aus einer "algorithmischen
Ursuppe" [26] entwickelt sich, vom Menschen nicht mehr beeinflußbar,
neues Leben. Diese Art Leben, so Geert Lovink [27], ist dann gleichzusetzen
mit Datenreisen und digitaler Unsterblichkeit.
Vielleicht muß man weiterfragen:
Ist die Hyperrealität nicht sogar in der Lage, mehr als nur Leben
zu simulieren, nämlich ein Leben höherer Ordnung, weil in einer
Art Wirklichkeit höherer Ordnung erzeugt? Ist dieses Leben allerdings
nur Simulation, so ist es die vergänglichste Form des Lebendigen,
das beim ersten Kurzschluß oder nach Batterieerschöpfung ins
Nichts zusammenfällt, die verschwundene Karte eines Geländes,
das es nie gab. Könnte aber virtuelles Leben nicht sogar äußerste
Überschreitung und Überwindung aller bisherigen Lebensformen
sein, das elektronische "Ich mache alles neu" einer computergenerierten
Apokalypse, die "Vorahmung" noch gar nicht weissagter Prophezeihungen ?
Visionen?
Aber vielleicht ist VR der Raum, in
dem die besten Träume und Visionen des Menschen noch schlummern, der
erste Schöpfungstag noch offen ist und der digitale Big Bang noch
alle Optionen bereit hält. Was zählt dabei die Frage nach dem
Befinden der Rückkehrer aus der VR? Überwältigen sie Paradise-lost-Gefühle
und Cyberspace-Nostalgie, der Katzenjammer der Alltagsrealität? Macht
elektronisches LSD süchtig? Und wenn es so wäre? Ist die Droge
VR im total vernetzten Global Village, in dem die Ungerechtigkeiten der
Güterund Arbeitsverteilung sich kaum geändert haben werden, nicht
der einzige Garant für virtuelle Friedfertigkeit und gegen die sonst
nicht stillbaren menschlichen Begehrlichkeiten in der alten Realität?
Vielleicht wird VR schließlich
dem westlichen Menschen den mühsamen und für ihn meist nur unzulänglich
begehbaren Weg der Meditation als perfekte digitale Reise ins Nirwana eröffnen,
sobald die Simulation der Leere codiert ist. Denn auch die Leerheit ist
"danach eine Wahrheit, welche die Wirklichkeit ist, die von der höchsten
Weisheit erkannt wird". [28] Nirwana als ein Computer-Programm?
Bessere Wirklichkeit
Angesichts der Übermacht einer
errechneten Realität ohne Grenzen könnte die wahrgenommene Wirklichkeit
zum altmodischen Traum hoffnungsloser Anachronisten werden. Noch ist VR
im Alltag nicht viel mehr als eine Spielzeugwelt japanischer Elektronik-Konzerne.
Aber eine grundsätzliche Grenze, die den Menschen abhalten könnte
als Cybernaut in der Total Immersion, dem vollkommenen Eintauchen in der
Hyperrealität, zu simulieren und manipulieren, was in der übersättigten
Realität der Postmoderne nicht zu erschaffen ist, ist nirgends auszumachen.
Die Spielregeln, Normen und Gesetze der neuen elektronischen Wirklichkeiten
liegen freilich ebenso im Nichtvorhersagbaren wie ihre Extensionen an sich.
Vielleicht sind unsere Ängste
vor den unabsehbaren Räumen des Cyberspace so mittelalterlich wie,
gemäß dem Vorwurf der Genetiker unsere Ängste vor den Folgen
der Gentechnologie. Was könnte geschehen, wenn sich Leben in der VR
verselbständigt, seine eigene Software autonom generiert? Werden Chaos
und blinde Brutalität die Oberhand gewinnen? Wahrscheinlich nicht,
denn Computerprogramme scheinen sich nach dem Tit for tat-Prinzip ("wie
du mir, so ich dir") quasi ethisch zu verhalten. Schon im Terminator II
war die Maschine der bessere Vater ("Wenn eine Maschine, ein Terminator,
den Wert des Lebens schätzen kann, dann können wir es vielleicht
auch." [29])
Der Computer könnte seine Evolution
betreiben, aber ohne Ideologien und blutigen Fanatismus. Er könnte
weniger Gründe haben, sich unethisch zu verhalten als der Mensch.
Wird am Ende die VR die bessere Wirklichkeit sein? Die Möglichkeit
ist nicht von der Hand zu weisen.
Literatur:
[1] Altobelli, D. E./Kikinis, R./Mulliken,
J. B./Cline, H./Lorensen, W./Jolesz. F.: Computer-assisted three-dimensional
planning in cramofacial surgery. In: Plast. Reconstr. Surg. 92 (1993).
S. 576-587.
[2] Jünger, F. G.: Die
Spiele. Ein Schlüssel zu ihrer Bedeutung. Frankfurt am Main 1953.
[3] Rheingold, H. -Virtuelle
Welten. Reisen im Cyberspace. Reinbek 1992.
[4] Waffender, M. (Hrsg.): Cyberspace.
Ausflüge in virtuelle Wirklichkeiten. Reinbek 1991.
[5] Lanier, J.: Was heißt
"virtuelle Realität"? In: Waffender, M., Hrsg. (Anm. 4).
[6] Gott sitzt im Rechner. Der Spiegel
35/1993. S. 108-110.
[7] Zit. n. Sheff, D.: The Virtual
reality of Timothy Leary. In: Upside, April 1990, S. 70.
[8] Gibson, W.: Neuromancer.
München. 1987.
[9] Flusser, V: Schriften. Band
I.: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der
Medien. Hrsg. St. Bollmann u. E. Flusser. Bensheim, Düsseldorf 1993.
[10] Bolz, N.: Eine kurze Geschichte
des Scheins. München 2. Aufl. 1992.
[11] Platon: Sophistes, 265b
1-3.
[12] Baudrillard, J.: Agonie
des Realen. Berlin 1978.
[13] Iser, W.: Das Fiktive und
das Imaginäre - Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt
a. M. 1991. S. 23.
[14] Rucker, R.: Wetware. Avon
Books 1988.
[15] Friedell. E.: Der Turmbau
zu Babel (1931). In: Abschied vom 20. Jahrhundert. Hrsg. K. Kaever. München
1993. S. 184.
[16] Huxley, A.: Schöne
Neue Welt. Frankfurt a. M. 1953.
[17] Heidegger, M.: Holzwege.
Frankfurt a. M. 5. Auflage 1972.
[18] Vgl. Bolz, N.: Das kontrollierte
Chaos. Vom Humanismus zur Medienwirklichkeit. Düsseldorf, Wien, New
York, Moskau 1994.
[19] Vgl. Geisler, L. S.: Medizin
des Scheins? Virtuelle Realität und Medizin. In: Dt. Ärzteblatt
91 (1994), B 672-675.
[20] Paul, H. A./Bargar, W. L./Mittlestadt,
B./Musits, B./TayIor, R. H./Kazanzides, P.: Development of a surgical
robot for cementless total hip arthroplasty. In: Clin. Orthop. 285 (1992),
S. 57-66; Tayior, K. S.: Robodoc: study tests robot's use in hip
surgery. In: Hospitals 5 (1993), S. 67, 46.
[21] Drake, J. M./Joy, M./Goldenberg,
A./Kreindler, D.: Computer- and robot-assisted resection of thalamic
astrocytomas in children. In: Neurosurgery 29 (1991), S. 27-33.
[22] Satava, R. M.: Surgery
2001. A technologic tramework for the future. In: Surg. Endosc. 7 (1993),
S. 111-113.
[23] Thalmann, N. M./Thalmann, D.:
Towards virtual humans in medicine: a prospective view. In: Comput. Med.
Imaging Graph. 2 (1994). S. 97-106.
[24] Noar, M. D.: Robotics interactive
endoscopy Simulation of ERCP/spincterotomy and EGD. In: Endoscopy 24 (1992),
S. 539-541; Soehendra, N./Binmoeller, K. K.: Overview of interactive
endoscopy Simulators. In: Endoscopy 24 (1992), S. 549-550.
[25] Sherman, B./Judkins, Ph.:
Virtuelle Realität. Computer kreieren synthetische Welten. München,
Berlin, Wien 1993. S. 117.
[26] Schröder, P.: Wir
bauen eine Maschine, die stolz auf uns sein wird. In: Waffender, M., Hrsg.
(Anm. 4)
[27] Lovink, G.: Hardware, Wetware,
Software. In: Bolz, N./Kittler, F./Tholen, Ch.: Computer als Medium. München
1994.
[28] S. H. der XIV. Dalai Lama Tenzin
Gyatso: Einführung in den Buddhismus. Freiburg i. Br. 1993.
[29] Vgl. Terminator 2: Judgement
Day; Buch: J. Cameron & W. Wisher; Regie: James Cameron
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Geisler, Linus S.: Virtuelle Realität.
Universitas, Stuttgart 1995, Nr. 585, S. 264-272 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9503universitas_vr.html |
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