Start  <  Vorträge  <  Linus S. Geisler: KOMMUNIKATION BEI DER PATIENTENVISITE
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Referat beim Ethik-Symposium "Wirtschaftlichkeit oder Menschlichkeit - Ethik im Klinikalltag zwischen den Stühlen" am 14. März 2003. Ethikforum der Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannsheil, Bochum.
Kommunikation bei der Patientenvisite - Ausdruck unserer ethischen Werthaltung

Linus S. Geisler

Die Visite, der Höhepunkt an jedem Tag, war 
gleichzeitig immer die größte Enttäuschung gewesen.
Thomas Bernhard: Der Atem
Die Visite ist in der Klinik die einzige regelmäßige Gesprächsmöglichkeit zwischen Patient und Arzt. Die meisten Patienten sehen der Visite daher mit einer hohen Erwartungshaltung entgegen. Die Realität aber lehrt, dass viele Patienten das Visitengespräch enttäuschend erleben. Thomas Bliesener hat die traditionelle Visite schlichtweg einen "verhinderten Dialog" genannt [1].
Alle typischen Kommunikationsmängel und -defizite sind zu verzeichnen:
  • Die Hälfte der Beschwerden des Patienten kommen nicht zur Sprache
  • Oft erhalten Ärzte nur wenig Auskunft über die Bedeutung der Erkrankung für den Betroffenen und ihre emotionalen und sozialen Folgen [2 Externer Download Link]
  • Weniger als die Hälfte der psychosozialen Probleme und psychischen Störungen des Patienten werden erkannt
  • Arzt und Patient stimmen in mehr als der Hälfte der Fälle nicht über das hauptsächliche Gesundheitsproblem des Patienten überein [3]
Die Patientenvisite im Krankenhaus wird wesentlich bestimmt durch
  • die Arzt-Patient-Beziehung und das Rollenverständnis der Interaktionspartner
  • die kommunikative und psychosoziale Kompetenz des Arztes 
  • das vorherrschende Verständnis von Krankheit und Gesundheit in einer Gesellschaft
Als Spezifikum der Visite im Krankenhaus kommt hinzu, dass es sich um Kommunikation unter institutionellen Bedingungen handelt. Diese Bedingungen können einen deutlich normativen Einfluss auf Struktur, Verlauf und Ergebnis einer Visite entwickeln (Johanna Lalouschek [4 Externer Link]).

Die klassische Visite spielt sich im Klima eines latenten Interessenkonflikts ab. Dieser wird meist zu Lasten des Patienten gelöst, weil zwischen den Patientenbedürfnissen und den Teambedürfnissen, die während der Visite befriedigt werden sollen, große Unterschiede bestehen (Fehlenberg und Mitarbeiter [5]). Was der Patient im Visitengespräch - meistens unbewusst - spürt ist, dass die Selbstauslegung seiner Krankheit als das Fundament jeglicher diagnostischen und therapeutischen Bemühungen als Thema gar nicht vorkommt.

In Analysen von Visitengesprächen wird immer wieder beeindruckend deutlich, wie sehr Patienten und ihre Ärzte in verschiedenen Perspektiven denken und in verschiedenen Welten leben. Dieses Auseinanderklaffen der Wirklichkeiten von Arzt und Patient wird bereits deutlich, wenn man die jeweils vom Arzt bzw. vom Patienten eingebrachten Themen betrachtet:

Tabelle 1. Rangfolge der Mittelwerte vom Arzt eingebrachter Themen (Westphale u. Köhle [6])
 
Thema absolut prozentual
Therapie 1,35 _21,9
Diagnose 1,33 _21,6
Untersuchungsergebnisse 0,89 _14,4
körperliches Befinden 0,73 _11,8
Krankheitsverhalten 0,71 _11,5
Krankheitserleben 0,51 __8,3
Sonstiges 0,50 __8,1
psychisches Befinden 0,19 __2,4
Summe Themen 6,17 100,0

Tabelle 2. Rangfolge der Mittelwerte vom Patient eingebrachter Themen (Westphale u. Köhle)
 
Thema absolut prozentual
Krankheitserleben 0,73 _24,8
Diagnose 0,54 _18,3
Krankheitsverhalten 0,48 _16,3
Therapie 0,47 _15,9
körperliches Befinden 0,32 _10,9
Untersuchungsergebnisse 0,23 __7,8
Sonstiges 0,13 __4,4
psychisches Befinden 0,05 __1,7
Summe Themen 2,95 100,1

Die Gegenüberstellung zeigt, dass für den Arzt die Feststellung der Krankheit den thematisch größten Anteil an der Visite ausmacht, während quasi spiegelbildlich dazu das Interesse des Patienten von seinem Krankheitserleben dominiert wird. 

Die Lösung muss darin bestehen, dass der Arzt versucht, eine gemeinsame Wirklichkeit mit seinem Patienten aufzubauen. Dieser Erweiterung seiner Wirklichkeit setzt der Patient nicht selten erheblichen Widerstand entgegen. Im gelungenen Arzt-Patient-Gespräch geht es allerdings nicht nur darum, dass beide sich verstehen. Aufgabe des Arztes ist es vielmehr, seine Beziehung vom Anderen her so zu gestalten, dass dieser sich selbst besser versteht (Klaus Dörner [7]).

Der fragmentierte Patient

Die konventionelle Gesprächstechnik in der Medizin ist nicht auf eine ganzheitliche Beschwerdenerfassung ausgerichtet. Vielmehr zerlegt sie die Patientenäußerungen in Einzelbeschwerden und blendet das Selbstbild des Kranken, seine Deutung und Auslegung der Krankheit aus. 

Die auf dieser Grundlage in Gang gesetzte, oft rational letztlich gar nicht begründbare umfangreiche Diagnostik liefert dann zwangsläufig Datensammlungen, die das Leiden des Kranken nur bruchstückhaft und unzusammenhängend wiedergeben. "Die Grundmelodie menschlichen Leidens wird mehr und mehr übertönt vom 'Rauschen der Daten'" (Walter Böker [8 Externer Link]). 

Die Wahrnehmung des Kranken erfolgt nur noch in Teilaspekten, nämlich als fragmentierter Patient. Jetzt ist der Patient dort, wo er scheinbar am ökonomischsten behandelbar ist: im "Kerngeschäft" des Klinikbetriebes. Erst jetzt ist er institutionell wahrnehmbar und verfügbar. Die klare und einfühlsame Befundvermittlung, auf die der Patient dringend wartet und absoluten Anspruch hat, tritt weit zurück hinter die Datensammlung, die manchmal nicht mehr als ein Datenfriedhof ist. Der Kranke ist zum passiven, duldenden Objekt geworden.

Am Zeitbudget des Arztes, das ja in der Regel weitgehend festgelegt ist, zehren die Befunderhebungstechniken überproportional. Die Formalisierung und Verknappung des Gesprächsanteils erfolgt dann quasi reflektorisch, ist aber letztlich der falsche Ansatz zur Ökonomisierung ärztlichen Handelns. Das Gespräch als "betriebswirtschaftlicher Luxus" wird Opfer missverstandener "Sparmaßnahmen". Was dann als ökonomisch verträgliche Medizin erscheint, ist in Wahrheit ärztlich und menschlich eine Bankrotterklärung.

Wer lange genug dieses Herangehen an den Patienten praktiziert, wird als Arzt allmählich selber Opfer dieser Wahrnehmungsverzerrung. Er verlernt, dass zum Aufbau einer stabilen und effektiven Arzt-Patient-Beziehung eine Abfolge von bestimmten Annäherungen erforderlich ist: 

Zunächst das Hinzutreten an den Kranken zur Erhebung der Anamnese, körperlichen Untersuchung und Gewinnung technischer Befunde. 
Dann ein Zurücktreten, um in einer Synopsis den Kranken ganzheitlich und nicht fragmentiert zu erfassen. 
Dann eine neuerliche Zuwendung, um die Befunde zu übermitteln, eine Annäherung der Wirklichkeiten zu versuchen und in einem partnerschaftlichen Ansatz Übereinkunft über die Therapie zu erzielen (Böker [9]). 

Der nur "Bruchstücke" sammelnde Arzt verliert allmählich die Fähigkeit, Befunde in einem der Individualität des Kranken entsprechenden Zusammenhang zu bringen, "Übersetzer" für den Kranken zu werden, ihn als leidende Person wahrzunehmen. Er ist dann selbst zum "fragmentierten" Arzt geworden.

Das Visitengespräch

Meist erfolgt die Exploration in Form geschlossener Fragen. Sie schnürt den Patienten in eine Art Fragenkorsett, das jede Eigeninitiative unterbindet. Die Relation zwischen geschlossenen und offenen Fragen liegt etwa bei 10:1. Zusätzliche Äußerungen oder gar Erzählversuche des Patienten werden verhindert. Das Erzählenlassen eines Kranken gilt als tabuisiert, meist mit dem Argument der Zeitknappheit. Aber, so der Philosoph Odo Marquard: "Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muss man erzählen ... und je mehr versachlicht wird, desto mehr - kompensatorisch - muss erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie" [10]. Der sog. "Story Telling"-Ansatz hat bei der Bemühung um ethische Entscheidungen am Krankenbett hingegen schon seit längerem in die Bioethik Eingang gefunden [11].

Häufig werden Initiativen des Patienten unbewusst oder bewusst unterbunden oder sogar verhindert. Siegrist hat derartige Antwortreaktionen des Arztes, der vom Patienten um eine Information gebeten wird, analysiert und typisiert [12]:

  • Nichtbeachten: Der Arzt übergeht die Patientenfrage.
  • Adressatenwechsel: Anstatt eine Antwort zu geben, spricht der Arzt einen anderen Visitenteilnehmer an.
  • Themenwechsel: Der Arzt entwickelt eine konkurrierende Initiative und bringt ein neues Thema ein.
  • Verschieben: Der Arzt deutet die Patientenfrage um und verschiebt seine Reaktion auf nebensächliche Aspekte.
Die sprachlichen Patientenäußerungen werden regelmäßig in die medizinische Fachsprache übersetzt, die medizinischen Termini hingegen viel seltener in die Sprache des Patienten. Häufig versteht der Kranke überhaupt nichts, oder, was noch schlimmer ist, etwas falsches. Nicht selten läuft die Visite über weite Strecken ohne Beteiligung des Patienten ab (Geisler 2002 [13 Interner Link]). Damit wächst für ihn die Undurchschaubarkeit der Visitensituation und seine Ängste nehmen zu.

Die Analyse von Visitengesprächen lässt häufig eine überraschend starke Asymmetrie erkennen. Diese kommt schon rein numerisch im Überwiegen der Gesprächsanteile des Arztes (bis zu 80%) im Vergleich zu denen des Patienten zum Ausdruck [14]. 

Der durch mehrfache Klinikaufenthalte erfahrene (fragmentierte) Patient lernt allmählich, dass von ihm am ehesten eine knappe, am Körperlichen orientierte Leidensschilderung in "Berichtsform" erwartet wird (Lalouschek 2002 [15]). Übernimmt er diese Kommunikationsform, gilt er als angenehmer Patient. Die Aneignung ärztlicher Ausdrucksweisen durch den Patienten kann dann eine nicht ungefährliche, aber selten wahrgenommene Beziehungsfalle zwischen Arzt und Patient etablieren. Cicourel hat darauf hingewiesen, dass der Gebrauch von "doctor language" systematisch zu einer - zwar nur oberflächlichen - Einigung zwischen beiden, aber gleichzeitig zu grundlegenden Missverständnissen über Befunde und den weiteren Behandlungsverlauf führen kann [16]. 

Die Anpassung an das ärztliche Sprachverhalten bestätigt und verstärkt in einem zirkulären Prozess das Rollenverständnis des Arztes. Krankenhaustypische Abläufe werden dadurch allmählich zementiert und scheinbar legitimiert. Dies trägt zu einer weiteren Ausblendung des sich ganzheitlich erlebenden Patienten bei. Menz hat dies als "Institutionalisierte Verschleierung" bezeichnet [17].

Die wesentlich höheren Fragen- und Redeanteile der Ärzte, ihre geschlossene Fragetechnik, ihre Abweisungsstrategien und die dominierende Themeneinbringung zeigen, dass die immer mehr oder weniger bestehende Asymmetrie zwischen Arzt und Patient in der Visite eine weitere Verstärkung erfährt. Die absolute Übergewichtung sog. harter, durch Technik erhobener Daten gegenüber sog. weichen Daten, die sich nicht in Maß und Zahl fassen lassen verdeckt, dass sehr viele sog. außer-rationale Wahrnehmungen ganz wesentlich für den Krankheitsverlauf sein können. Die "klinische Erfahrung" des Arztes, die unverzichtbar für die Einschätzung des Kranken, seiner Befindlichkeit und Gefährdung ist, basiert zu hohen Anteilen auf sog. weichen Befunden.

Medizin ist nicht reine Naturwissenschaft, sondern Handlungs- und Erfahrungswissenschaft. Vieles, was die Befindlichkeit des Kranken und sein Krankheitserleben ausmacht, wie Schmerzen, Stimmungen, Hoffnungen, Ängste, sind nicht in harten Daten quantifizierbar. Der Versuch, "weiche" Daten und Befunde alleine mit den harten Methoden der Technik und Naturwissenschaft anzugehen, trägt von vornherein den Keim des Scheiterns in sich.

Eindimensionales Studium

Was bringt Ärzte dazu, sich in einer Art Tunnelblick dem Kranken anzunähern, ihn fragmentarisch zu erfassen, sprachlich zu entmündigen und seine Selbstauslegung, seine Befindlichkeit und seine Krankheitsausdeutung auszublenden? 

Ärzte werden nicht geboren, um als unsensible Biotechniker ihren Beruf zu betreiben. Im Gegenteil: Ein wesentlicher Grund für die kommunikative Inkompetenz vieler Ärzte ist eine defizitäre Ausbildung mit zunehmender Tendenz. Eine Studie der Universität Göttingen an 700 Medizinstudenten hat gezeigt, dass die meisten Studenten am Studiumsanfang stark an der psychosozialen Situation der Patienten interessiert sind. Reziprok zur Zunahme an "biologischem Wissen" kommt es dann im Verlauf des Studiums zu einem ansteigenden Verlust an kommunikativer und psychosozialer Kompetenz [18 Externer Link]. Wer so ins ärztliche Leben entlassen wird, kann leicht den Kranken als angstmachenden Fremdling erleben [19 Interner Link]. 

Das Medizinstudium erzieht zu sogenannter "wissenschaftlicher Objektivität". Es ist somatisch-, fakten- und leistungsorientiert. Anstatt für die Wichtigkeit kommunikativer Prozesse zu sensibilisieren, stellt es eher ein "konsequentes Desensibilisierungsprogramm" gegenüber kommunikativen Prozessen und der psychosozialen Wirklichkeit von Patienten dar (Helmich 1991 [20]). Kommunikative Kompetenz wird nicht gelehrt. Trotz exponentiell wachsender ethischer Probleme in der Medizin werden nicht einmal ethische Grundbegriffe vermittelt.

Der angehende Arzt gerät in einen klinischen Alltag, der die Richtigkeit dieser Ausbildung zu bestätigen scheint und von ihm kaum kommunikative Kompetenz erwartet. Wie sollte er fähig sein, seine defizitäre Sicht auf den kranken Menschen wahrnehmen zu können? Rationalisierungszwänge und ökonomische Pressionen bestärken ihn weiter in seinem Verhalten und üben eine subtile systemstabilisierende Funktion aus. Diese wiederum schlägt zurück auf das Ausbildungssystem und erklärt dessen unglaubliche Rigidität und Resistenz gegenüber tiefgreifenden Reformen.

Emotionale Sprachlosigkeit führt zu einem untergründigen Unbehagen, das sich der Reflexion und damit auch der Artikulation entzieht. In der Balint-Gruppen-Arbeit wird immer wieder beobachtet, dass Ärzte und Ärztinnen zu Anfang häufig sagen: "Ich bin Arzt und darf keine Gefühle haben." [21]

Was in unserer Sprache nicht vorkommt, weil wir es nicht hineingenommen haben, fehlt in unserer Wirklichkeit und Wahrnehmungswelt. Das Nichtzulassen von Gefühlen verlangt nach Abwehrstrategien. Coole superprofessionelle Attitüde, Zynismus und vorgeblich ständiger Zeitdruck sind nicht selten das Resultat. Dabei zeigt sich im übrigen, dass Deutschland hinsichtlich der ärztlichen Gesprächsdauer in Europa das Schlusslicht bildet (durchschnittliche Gesprächsdauer in der Praxis in der Schweiz 15,6 min, in Deutschland 7,6 min [22 Externer Download Link]).

Warum gibt es heute so wenige ausgeglichene, mit ihrem Beruf zufriedene Ärzte? Ein Editorial des British Medical Journals vom 6. April 2002 widmete sich diesem weltweiten Phänomen der unzufriedenen Ärzte ("unhappy doctors") [23 Externer Download Link]. Arbeitslast und unzureichende Bezahlung scheinen, obwohl wichtige Faktoren, das Problem nicht vollständig zu erklären. Als Schlüsselfaktor wertet die Analyse einen Wandel in dem Verhältnis von Beruf, Patienten und Gesellschaft, der ursächlich dafür verantwortlich ist, dass der Beruf heute nicht mehr dem entspricht, was die Ärzte sich ursprünglich erwartet hatten. 

Viele Ärzte wissen aber auch nicht, dass eine gute kommunikative Kompetenz nicht nur die Zufriedenheit ihrer Patienten erhöht sondern auch ihre eigene. Das liegt unter anderem daran, dass gut geschulte Ärzte fähig sind, die Probleme ihrer Patienten genauer zu identifizieren. Ihren Patienten wiederum gelingt es besser, sich psychologisch an die Krankheitssituation zu adaptieren, was zu einer größeren Zufriedenheit mit der Behandlung und Betreuung führt [24]. 

Es ist erwiesen, dass für Ärzte mit hoher Gesprächsführungskompetenz:

  • die subjektive Belastung durch die Krankheit ihrer Patienten geringer ist
  • die Stressbelastung durch den Beruf als niedriger empfunden wird 
  • die berufliche Zufriedenheit wächst und
  • die Neigung zu Depressionen und Ängsten abnimmt
Autonomie - Paternalismus - dialogisches Prinzip

Im heutigen Verständnis der Arzt-Patient-Beziehung verschiebt sich "Das Wohl des Kranken als oberstes Gesetz" zum Prinzip: "Der Wille des Patienten ist oberstes Gesetz" [25 Externer Download Link]. Die Autonomie des Patienten gewinnt Vorrang vor dem Prinzip der Fürsorge. Der frühere Paternalismus, der dem Arzt die väterlich-bestimmende Rolle zumisst, gilt als überholt. Als Ideal gilt der "mündige" Patient, der aufgeklärt, eigenverantwortlich und selbstbestimmt die Richtlinien seiner Behandlung vorgibt [26]. Für diese Entwicklung ist auch die zunehmende Verrechtlichung der modernen Medizin mitverantwortlich.

Aber wie belastungsfähig und leistungsfähig sind Patientenautonomie und Mündigkeit im Ernstfall tatsächlich? Ist ein Patient fähig mitzuentscheiden, welcher Typus einer künstlichen Herzklappe oder eines Herzschrittmachers für ihn der beste ist? Will der umfassend aufgeklärte Krebspatient bei der Entscheidung zwischen Chemotherapie oder Bestrahlung tatsächlich nur auf sich selbst gestellt sein? Erlebt er sich auch dann noch als "mündig" oder nicht doch zu aller erst als krank? Wie rasch kann Selbstbestimmtheit in Sich-Selbst-Überlassensein umschlagen? Der umfassend aufgeklärte Patient kann sich schließlich in einer Situation der Einsamkeit wiederfinden, die durch seine absolute Entscheidungsfreiheit nicht unbedingt aufgehoben wird. 

Eine symmetrische Arzt-Patient-Beziehung, die oft als idealtypisch angesehen wird, existiert realiter nur ausnahmsweise. Fraglich ist allerdings, ob eine Symmetrie von Patientenseite überhaupt durchgängig erwünscht ist. Die klinische Erfahrung zeigt, dass Arzt-Patient-Beziehungen fast immer asymmetrisch sind. Nicht zwei Gleiche stehen sich gegenüber, sondern ein hilfesuchender Mensch und einer, der kompetent ist, diese Hilfe zu geben. Die Selbstbestimmung im Arzt-Patient-Verhältnis ist angesichts der wachsenden Undurchschaubarkeit diagnostischer und therapeutischer Eingriffe im Gefolge medizinischer Hochtechnologien und der daraus resultierenden steigenden Entscheidungsbefugnis der Ärzte als Mythos bezeichnet und mit dem Begriff des Neopaternalismus beschrieben worden [27]. 

Eine andere Haltung wird mit dem Begriff des Maternalismus beschrieben. Klaus Dörner sieht darin eine ärztliche Grundhaltung, die vom Prinzip der Sorge ausgeht, von der sie ihre Verantwortung ableitet. Ihre Fürsorge gilt einem Menschen "aus Fleisch und Blut" [28].

Das Dialogische Prinzip - Überwindung der Alternative zwischen Paternalismus und Autonomie

Als Überwindung der Alternative zwischen Paternalismus und Autonomie in der Arzt-Patient-Beziehung wird von dem österreichischen Philosophen Peter Kampits das dialogische Prinzip genannt [29]. Das dialogische Denken wurde in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von den "Philosophen des Dialogs" wie F. Ebner, M. Buber, F. Rosenzweig, G. Marcel und V. v. Weizsäcker entwickelt, dem auch der Begriff der "sprechenden Medizin" zugeschrieben wird. 

Dialogisches Denken ist von Anfang an auf Gegenseitigkeit in der Beziehung begründet. Das für die Arzt-Patient-Beziehung Wesentliche wurzelt in der im dialogischen Denken geforderten Grundhaltung, die unter anderem Zuwendung, aktives Zuhören und Gesprächsfähigkeit einschließt. Die Untrennbarkeit von Vertrauen und Zuwendung zum Du wird als wesentliche Voraussetzung für dialogisch motiviertes Handeln verstanden.

Eine kardinale Voraussetzung zur Entwicklung dieser ärztlichen Grundhaltung ist Dialogfähigkeit. Kommunikative Beziehungen sind der Stoff, aus dem die Arzt-Patient-Beziehung lebt und der ihren "Kammerton" bestimmt [30 Interner Link]. 

Ausblick

Worum wir in der Begegnung zwischen Arzt und Patient, häufig nicht ohne Schmerzen und gegen enorme Widerstände ringen, scheint in anderen Kulturen längst verwirklich zu sein. Ich möchte hier beispielhaft die Untersuchungen der Ethnologin Ina Rösing zitieren. Sie hat über Jahre in den Hochanden Boliviens den Indianerstamm der Kalawayas vor allem unter dem Aspekt der Heilungsrituale beobachtet. Der Titel ihrer Arbeit lautet: "Was können wir von den Kalawayas lernen?" Darin beschreibt sie Pablo, einen Medizinmann, und sein Vorgehen bei den Heilungsritualen: 

Das Heilungsritual findet immer im Kontext der Familie statt. Es wird viel Zeit auf die Einleitung des Gesprächs verwendet. Es gibt Anwärmphasen. So erfährt der Medizinmann sehr viel aus dem Leben seines Patienten: von dessen Sorgen, Problemen und Lebensumständen. Das Heilungsritual ist individuell auf den einen Patienten ausgerichtet. Das Ziel der Heilung - Herstellung von Gleichgewicht, Bannung von Gefahr, Stärkung der Seele - bleibt nie abstrakt oder unsichtbar. Es wird angesprochen und vollzogen an diesem einen Patienten aus "Fleisch und Blut" [31].
Der sprachlose Arzt ist ein gefährlicher Arzt. "The Silent World of Doctor and Patient", die "schweigende Welt von Arzt und Patient", wie sie der Psychoanalytiker und Jurist Jay Katz in dem gleichnamigen Werk bereits 1984 subtil und sachkundig dargestellt hat [32], ist eine bedrückende und letztlich inhumane Welt.

Eine Chance, eine Neustrukturierung der Arzt-Patient-Beziehung einzuleiten, liegt deshalb in der Stärkung des dialogischen Prinzips, in der Förderung kommunikativer Kompetenzen durch Studium und Ausbildung, in der Höherbewertung sprachlicher Fähigkeiten [33 Interner Link]. 

Für französische Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts, war der ideale Arzt ein "père maternel". Ein Arzt, dem es gelingt, die Wesenszüge des lenkenden Vaters und der verstehenden Mutter in sich zu vereinigen. Dieses Prinzip scheint auch heute keineswegs seine Gültigkeit verloren zu haben. Vielmehr drängt es im Zuge einer sich wandelnden Medizin nach neuer Verwirklichung.

Literatur:

[1] Bliesener, Th., K. Köhle: Die ärztliche Visite - Chance zum Gespräch. Westdeutscher Verlag, Opladen 1986

[2] Maguire P, C Pitceathly: Key communication skills and how to acquire them. BMJ 325, 2002, S. 697-700. - 
URL: http://bmj.com/cgi/reprint/325/7366/697.pdf Externer Download Link

[3] Buddeberg C, Willi J, (Hrsg): Psychosoziale Medizin, 2. Aufl. Springer Berlin Heidelberg New York 1998.

[4] Lalouschek J.: Ärztliche Gesprächsausbildung. Radolfzell. 2002 - URL: http://www.verlag-gespraechsforschung.de/lalouschek.htm Externer Link

[5] Fehlenberg, D., C. Simons, K. Köhle: Die Krankenvisite - Probleme der traditionellen Stationsvisite und Veränderungen im Rahmen eines psychosomatischen Behandlungskonzepts. In: von Uexküll, Th.: Psychosomatische Medizin. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore 1986.

[6] Westphale, C., K. Köhle: Gesprächssituation und Informationsaustausch während der Visite auf einer internistisch-psychosomatischen Krankenstation. In: Köhle, K., H.-H. Raspe (Hrsg.): Das Gespräch während der ärztlichen Visite. Urban & Schwarzenberg, München-Wien-Baltimore, 1982.

[7] Dörner, K.: Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart. 2001. S. 83

[8] Böker, W.: Arzt-Patient-Beziehung: Der fragmentierte Patient. Deutsches Ärzteblatt 100, 06.01.2003, S. A-24 - 
URL: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikeldruck.asp?id=35041 Externer Link

[9] Böker, W.: aaO. [8]

[10] zit. n. Schernus, R.: Abschied von der Kunst des Indirekten - oder: Umwege werden nicht bezahlt. In: J. Blume et al (Hrsg.): Ökonomie ohne Menschen? Neumünster. Paranus. 1997. 

[11] Ritschl, D.: Das "Storykonzept“ in der medizinischen Ethik, in Hans-Martin Sass (Hrsg.): Güterabwägungen in der Medizin, Heidelberg 1990, S.156-167.

[12] Siegrist, J.: Arbeit und Interaktion im Krankenhaus. Enke, Stuttgart, 1978.

[13] Geisler, L.: Arzt und Patient – Begegnung im Gespräch. Frankfurt Main. 4. Auflage 2002. S. 215-223 - 
URL: http://www.linus-geisler.de/monografien/monograf.html#ap Interner Link

[14] Nordmeyer, J, et al.: Verbale und nonverbale Kommunikation zwischen Problempatienten und Ärzten während der Visite. Medizinische Psychologie, 8, 1982, S. 20-39.

[15] Lalouschek J.: aaO. [4]

[16] Cicourel, A.: Doctor-Patient-Discourse. In: T. v. Dijk (ed.) Handbook of Discourse Analysis. vol 4.1985. Academic Press: London. 193-202.

[17] Menz, F.: Der geheime Dialog. Institutionalisierte Verschleierungen in der Arzt-Patient-Kommunikation. Bern. 1991.

[18] Ärzte Zeitung, 30.05.2001: Studium: Patientengespräche immer unwichtiger. - 
URL: http://www.aerztezeitung.de/docs/2001/05/30/099a2004.asp?nproductid=1653&narticleid=162757 Externer Link

[19] Geisler, Linus S.: Am Horizont der Mangel. Frankfurter Rundschau, 17.12.2002, S. 2 - 
URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/1217fr-medizinstudium.html Interner Link

[20] Helmich, P. et al.: Psychosoziale Kompetenz in der ärztlichen Primärversorgung. Springer Verlag. Heidelberg. 1991. S. 123

[21] Stucke, W.: Die Balintgruppe. 2. Auflage. Deutscher Ärzteverlag. Köln. 1990.

[22] Deveugele, M, Derese A, van den Brink­Muinen A, Bensing J, De Maeseneer D: Consultation length in general practice: cross sectional study in six European countries. BMJ, 325, 31. August 2002. S. 1-6 - URL: http://bmj.com/cgi/reprint/325/7362/472.pdf Externer Download Link

[23] Edwards, N. et al. (2002) Unhappy doctors: what are the causes and what can be done? BMJ, 324, S. 835-838. - 
URL: http://bmj.com/cgi/reprint/324/7341/835.pdf Externer Download Link

[24] Maguire, P., C. Piceathly: aaO. [2]

[25] Luther, E.: Chancen und Risiken der Patientenautonomie. Beitrag zur öffentlichen Dialogveranstaltung der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" in Jena am  2. Juli 2001. - 
URL: http://www.bundestag.de/gremien/medi/medi_oef5_1.html - [Broken Link/Link zerbrochen]
Aktualisierter Link: http://www.bundestag.de/ftp/pdf_arch/med_luth.pdf Externer Download Link

[26] Baum, E. et al.: Erwartungen der Patienten und ärztliches Handeln in Allgemeinpraxen. In: Lang, E. & Arnold, K (Hrsg. Die Arzt-Patientenbeziehung im Wandel. Schriftenreihe der Hamburg-Mannheimer-Stiftung für Informationsmedizin, Bd. 8. Stuttgart, 1996, S. 137-150.

[27] Feuerstein, G. & Kuhlmann, E. (Hrsg): Neopaternalistische Medizin. Der Mythos der Selbstbestimmung im Arzt-Patient-Verhältnis. Bern. 1999.

[28] Dörner, K. Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart/New York. 2001. S. 326

[29] Kampits, P.: Das dialogische Prinzip in der Arzt-Patienten-Beziehung. Passau. 1996

[30] Geisler, L.: Arzt-Patient-Beziehung im Wandel - Stärkung des dialogischen Prinzips. Beitrag im Abschlussbericht der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" vom 14.05.2002, S. 216-220 - URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/0514enquete-dialogisches.html Interner Link

[31] zit. n. Geisler, L.S.: Arzt und Patient im Gespräch - Wirklichkeit und Wege. Vortrag am 10. Mai 1989 in Berlin. Heft 7. Gesundheitspolitische Gespräche Schering. 1989.

[32] Katz, J.: The Silent World of Doctor and Patient. New York. 1984.

[33] Geisler, L. S. (2000) "Die Liebe verkümmert". Wohin steuert die Hightech-Medizin? Der Spiegel, 17. April 2000. - 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0004spiegel_interview.html Interner Link
 


Geisler, Linus S.: Kommunikation bei der Patientenvisite - Ausdruck unserer ethischen Werthaltung. Referat beim Ethik-Symposium "Wirtschaftlichkeit oder Menschlichkeit - Ethik im Klinikalltag zwischen den Stühlen" am 14. März 2003. Ethikforum der Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannsheil, Bochum.
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0314patientenvisite.html

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