DER GASTBEITRAG
Am Horizont der Mangel
Ausbildung in Deutschland
produziert unglückliche Ärzte / Von Linus S. Geisler
Das Undenkbare zeichnet sich
ab: in Deutschland mutiert die Ärzteschwemme zum Ärztemangel.
Das Phänomen wirkt sich am deutlichsten in den neuen Bundesländern
mit mehr als 1000 unbesetzten Arztstellen aus, wird aber auch im Westen
zunehmend spürbar. Als zumindest vordergründig plausible Ursachen
werden genannt: die Überalterung der Ärzteschaft und der mangelnde
Nachwuchs. In Ostdeutschland erreichen 35 bis 40 Prozent aller Hausärzte
in den nächsten zehn Jahren das Rentenalter.
Die Zahl der Absolventen
des Medizinstudiums ist in den letzten sechs Jahren um 23 Prozent zurückgegangen.
Jährlich brechen 2400 junge Menschen das Medizinstudium ab, viele
wechseln das Studienfach. Jeder zweite Medizinstudent wird später
nicht als Arzt arbeiten, sondern in nichtkurative Berufe ausweichen wie
Pharmaindustrie, Krankenhausmanagement, Unternehmensberatungen oder Forschung.
Während der angehende Medizinstudent vor einer Generation nichts sehnlicher
erwartete als den ersten Kontakt mit einem Kranken, geht heute die Hälfte
der neuen Ärzte auf Abstand zum Patienten. Der Arzt als Distanzberuf?
Eine Wurzel des Übels
liegt nach wie vor im Ausbildungssystem. Das Studium wird nicht selten
von wenig motivierten Dozenten als altmodischer Frontalunterricht praktiziert,
patientenfern, theoretisch überfrachtet, in unzusammenhängende
Fächer gesplittet. Die Herangehensweise an Krankheitsbilder orientiert
sich am unsäglichen Multiple-Choice-Fragenkatalog des Staatsexamens.
Kommunikative Kompetenz wird nicht geschult, trotz exponenziell wachsender
ethischer Probleme nicht einmal ethische Grundbegriffe vermittelt. Was
herauskommt, hat die Göttinger Studie von Guido Schmiemann an 700
Studierenden gezeigt: im Lauf des Studiums war zwar ein stetiger Zuwachs
an biomedizinischem Wissen zu verzeichnen, reziprok dazu traten psychosoziale
Aspekte von Krankheiten immer stärker in den Hintergrund. Der altruistisch
motivierte Studienanfänger beendet seine Ausbildung mit mangelhafter
psychosozialer Kompetenz. Wer so ins ärztliche Leben entlassen wird,
kann leicht den Kranken als angstmachenden Fremdling erleben.
Die Attraktivität dessen,
was den jungen Arzt erwartet, hält sich in Grenzen. In den Krankenhäusern
wird mit der Etablierung der sog. Fallpauschalen der Vorrang der Ökonomie
verstärkt. Statt "Zeit für Barmherzigkeit" investiert der Assistenzarzt
zunehmend Zeit am Computer. Die Verwaltung von Krankheiten, so Bundesärztekammerpräsident
Hoppe, wird wichtiger als ihre Behandlung. Arbeitszeiten von 70 Stunden
pro Woche, inadäquate Bezahlung, überholte Hierarchien und eine
kaum zu bewältigende Arbeitsdichte sind klinischer Alltag. Die Karrierechancen
sind mäßig, besonders für Ärztinnen. Sie besetzen
nur jede zehnte leitende Krankenhausposition. Unflexible Arbeitszeiten
und fehlende Kinderhortplätze verstärken den Doppel-Stress durch
Beruf und Haushalt.
Mehr als 90 Prozent der niedergelassenen
Vertragsärzte fühlen sich durch die Gesetzgebung im Gesundheitswesen
und durch die Einflussnahme der Politik bzw. der Kassen auf die Patientenversorgung
belastet (NAV-Virchow-Bund). 59 Prozent sind "ausgelaugt", ebenso viele
fühlen sich am Tagesende "völlig erledigt". Individuation und
Sozialisation der deutschen Ärzte führen, so der Politologe Ruebsam-Simon,
zu einem isolierten und autistischen Verhaltensmuster. Die Wirklichkeit
wird mit medikalisiertem "Tunnelblick" unter Ausblendung politischer und
sozialer Wirkfaktoren wahrgenommen.
Bei solchen Zukunftsperspektiven
erscheint dem jungen Arzt die Abwanderung ins Ausland, vor allem nach Schweden,
England oder Australien als rettender Exodus in ein vermeintlich gelobtes
Land, entpuppt sich aber letzten Endes nur als fragwürdige Vermeidungsstrategie.
Das neue, kürzlich in
England beschriebene, jedoch auch für viele westliche Kulturen typische
Phänomen der "unhappy doctors" findet seine Erklärung nur zum
Teil in Arbeitsüberlastung, schlechter Bezahlung und ungünstigen
Rahmenbedingungen. Was auseinander klafft, sind der Selbstanspruch des
Arztes und die Erwartungen von Gesellschaft, Ökonomie und Politik.
Solange das Bild des Arztes
der Zukunft vage und das Menschenbild der Medizin unbestimmt bleiben, werden
Einzelkorrekturen, zum Beispiel am Ausbildungsgang, nur Stückwerk
bleiben. Wichtiger erscheint ein intensiver gesellschaftlicher Dialog,
der die Positionen der Partner im Gesundheitswesen verständlich macht,
und eine Politik, die sich nicht in Sparmaßnahmen erschöpft,
sondern sich um Harmonisierungsprozesse bemüht.
Linus Geisler, Facharzt
für innere Medizin, ist seit 1978 außerplanmäßiger
Professor an der Universität Bonn.
Geisler, Linus S.: Am Horizont
der Mangel. Frankfurter Rundschau, 17.12.2002, S. 2 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2002/1217fr-medizinstudium.html |
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