SPIEGEL-GESPRÄCH
"Die Liebe verkümmert"
Wohin steuert die Hightech-Medizin?
Internist und Bioethiker LINUS GEISLER befürchtet Fehlentwicklungen.
Sein Fazit: Die Tante-Emma-Praxis ist tot, der Mensch bleibt sterblich
und das Medizinsystem unersättlich.
[IMAGE] Der Internist Professor
Linus Geisler, 65, aus Gladbeck war viele Jahre Chefarzt eines großen
regionalen Krankenhauses. Als Mitglied der Ethikkommission der Ärztekammer
Nordrhein sowie bei Anhörungen des Bundestagsausschusses zur Transplantationsgesetzgebung
hat er sich kritisch zu Fragen wie Sterbehilfe, Organtransplantation, Gentechnik
und Bioethik geäußert.
SPIEGEL: Herr Professor
Geisler, "die Zukunft ist das Land der Phantasten", hat der Philosoph Immanuel
Kant gesagt. Mögen Sie ein wenig über die Zukunft des Gesundheitswesens
phantasieren?
Geisler: Sicherlich
ist alles spekulativ, was wir hier sagen. Eines aber, denke ich, kann man
mit großer Sicherheit vorhersagen: Wir Menschen werden sterblich
bleiben. Die Summe des Leidens wird sich nicht verringern, nur das Spektrum
wird sich wandeln. Es werden andere Todesursachen Nummer eins kommen -
aber eine Todesursache - Nummer eins wird es immer geben.
SPIEGEL: Gehört
es nicht zu den Verheißungen der modernen Medizin, sie werde das
Leiden mindern?
Geisler: Ich möchte
sogar so weit gehen zu sagen: Die Summe des Leidens wird zunehmen. Denn
in dem Maße, wie die Menschen älter werden, nimmt auch die Zahl
derer zu, die chronisch krank werden oder mit irgendeiner Form der Behinderung
weiterleben. Die große Menge der Pflegebedürftigen ist ein Produkt
der modernen Medizin, und nichts deutet darauf hin, dass dieses Produkt
in Zukunft kleiner wird.
SPIEGEL: Wird sich
diese Entwicklung auf das Verhältnis zwischen Arzt und Patient auswirken?
Geisler: Unvermeidbar.
Es gibt mehrere Faktoren, die das Arzt-Patienten-Verhältnis bestimmen
werden. Zum einen: Die Tante-Emma-Praxis ist tot. Die Bezugsperson Arzt,
von der ich alles weiß und die von mir alles weiß, existiert
nicht mehr. In Zukunft wird die Behandlung immer anonymer und sprachloser
werden.
SPIEGEL: Der Medizinhistoriker
Hermann Kerschensteiner hat über die ärztliche Profession gesagt,
sie sei ein Gemisch aus Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit
und Geschäft. Welcher dieser Aspekte wird in Zukunft im Vordergrund
stehen?
Geisler: Die Liebestätigkeit
wird verkümmern und der Geschäftssinn zwangsläufig florieren.
Der Arzt steht in einem nahezu unlösbaren Dilemma: Individuell ist
er dem Wohlergehen seines Patienten verpflichtet. Auf der anderen Seite
steht er unter einem enormen gesellschaftlichen Druck zu sparen. Diese
Zerrissenheit werden die Patienten immer stärker zu spüren bekommen.
Zuwendung wird zur Mangelware werden. Der Doktor als "père maternel",
als mütterlicher Vater, der zwar sagt, wo es langgeht, aber auch das
große Herz der Mutter in sich hat, wird bald eine Figur von gestern
sein. Es wird einen sehr rationalen, in jedem Sinne auch berechnenden Umgang
zwischen Arzt und Patient geben.
SPIEGEL: Welchen Einfluss
werden Informationstechnologien wie das Internet auf die Arzt-Patienten-Beziehung
haben?
Geisler: Der Einfluss
wird enorm sein, und die Folgen sind noch gar nicht abzusehen. In den USA
gibt es jetzt schon über 20 Millionen
Gesundheitssurfer, die ihren
Doktor mit einem Computerausdruck bedrängen und sagen: Da steht das
und das, was meinen Sie denn dazu? Die Ärzte, deren Wissen ja oft
sehr veraltet ist, wird das zwingen, sich besser fortzubilden. Aber es
birgt auch große Gefahren. In der Anonymität des Web gibt es
zum Beispiel schon jetzt einen grauen Medikamentenmarkt, ich glaube, allein
90 Web-Seiten, auf denen Viagra angeboten wird, ohne rechte Aufklärung
über die Risiken.
SPIEGEL: Auf jeden
Fall fördert das Internet die Autonomie des Patienten. Werden Ärzte
eines Tages weitgehend überflüssig?
Geisler: Bestimmt
nicht. Das Schlagwort von der Autonomie des Patienten ist für mich
Augenwischerei. Denn Autonomie kann nur funktionieren, wenn man das System
auch durchschaut, in dem man sich befindet. Dieses System ist aber heute
so chaotisch, und Gut und Böse sind so schwer zu unterscheiden, dass
es für einen Laien fast unmöglich ist, noch durchzublicken. Ein
Beispiel: Schutzimpfung gegen Polio, das konnte jeder noch als "gut" einstufen.
Aber wie ist Klonen zu bewerten? Es werden immer mehr solcher ethisch changierenden
Techniken angeboten werden. Die Autonomie des Patienten gerät in diesem
System leicht zur Abwälzung von Verantwortung. Der "mündige Patient"
ist für mich eine Illusion.
SPIEGEL: Schon jetzt
können nicht mehr alle medizinischen Leistungen allen Menschen in
gleicher Weise zur Verfügung gestellt werden. Wird diese Rationierung
in Zukunft noch rigider werden?
Geisler: Wenn in der
Entwicklung von neuen Technologien keine ethische Bremse gezogen wird und
auf der anderen Seite die Budgets begrenzt sind, gibt es ja nur zwei Möglichkeiten:
dass ein Teil der Leistungen privatisiert wird, dass also nur diejenigen
die Leistung erhalten, die sie auch bezahlen können, und dass für
den großen Rest rigoros rationiert wird. Ein Denkmodell ist die "Basisversorgung
auf niedrigem Niveau". Sie fängt ja schon an, und zwar wie immer bei
den Schwächsten. Die Altenpflege zum Beispiel hat sich in den vergangenen
Jahren dramatisch verschlechtert. Letztendlich läuft das auf eine
so genannte gelenkte Sterblichkeit hinaus: Weil die Kosten in den letzten
zwei Lebensjahren am höchsten sind, wird eine Verkürzung der
Lebenserwartung in Kauf genommen.
SPIEGEL: Wie hat unser
ehemaliger Ärztepräsident das genannt: "sozialverträgliches
Frühableben".
Geisler: Hier sehe
ich die ganz große Schizophrenie unserer Medizin - auf der einen
Seite macht sie eine zunehmende Lebensverlängerung möglich und
zeigt Szenarios von ewigem Leben, von Nichtmehr-Altern, von Unsterblichkeit.
Auf der anderen Seite steuert sie aus ökonomischen Gründen unausgesprochen
auf eine gewisse Verkürzung der Lebenserwartung hin. Genau das ist
die große Sinn- und Identitätskrise der heutigen Medizin. Solange
diese nicht wirklich einem Klärungsprozess unterworfen wird, werden
noch dramatische Probleme auf uns zukommen.
SPIEGEL: Wie könnte
ein solcher Klärungsprozess denn aussehen?
Geisler: Ein Ansatz,
über den man nachdenken könnte, wäre eine breite gesellschaftliche
Diskussion, basierend auf einer möglichst großen Transparenz.
Und zwar sehr früh, nicht erst wenn die neuen Techniken schon auf
dem Markt sind. Man müsste, lange bevor eine Innovation klinik- oder
praxisreif wird, prüfen: Können wir sie wirklich allen, die sie
brauchen, anbieten? Wenn nicht, sollte diese Technik nicht weiter entwickelt
werden. Der französische Reproduktionsmediziner Jacques Testart nannte
das eine Ethik der Nichtforschung, eine "Logik der Nichterfindung" ...
SPIEGEL: ... die aber
im Kapitalismus nicht funktioniert. Auch könnte jemand, der Geld hat,
in ein medizinisches Zentrum nach Kalkutta oder Schanghai fliegen und sich
dort applizieren lassen, was er hier nicht bekommt.
Geisler: Ja, diese
Schieflage wird es immer geben.
SPIEGEL: Manche setzen
aber auch große Hoffnungen in die neuen Technologien, zum Beispiel
die Gentechnologie, die die nächsten Jahrzehnte prägen wird.
Geisler: Es wird sicherlich
neue, gut wirksame Arzneimittel geben. Ich bezweifle allerdings, dass sie
billiger und auch Menschen in
Entwicklungsländern
zugänglich sein werden. Meine größte Skepsis gilt der genetischen
Diagnose von Krankheiten und dem manipulativen Zugriff auf die Keimbahn.
SPIEGEL: Der Genchip,
auf dem man 5000 Erbkrankheiten ablesen kann...
Geisler: Das ist der
erste Schritt zu einer Selektion. Außerdem wirft es die Frage auf:
Was ist eigentlich "Krankheit"? Dass es schwere Erbkrankheiten gibt, die
man verhüten möchte, ist klar. Aber was ist mit den Linkshändern?
Oder mit den Legasthenikern? Sind das dann noch Gesunde? Oder rücken
die schon in eine Grauzone, wo man sie nicht mehr haben will?
SPIEGEL: Darüber
hinaus wird es immer mehr Krankheiten geben, die wir zwar diagnostizieren,
aber nicht heilen können.
Geisler: Es werden
"unpatients" kommen, die es nicht abwarten können, weil sie die Prophezeiung
schon in der Tasche haben, dass sie mit 40 Jahren eine tödliche Krankheit
bekommen werden und darauf nur noch warten.
SPIEGEL: Es bleibt
aber dabei: Alles, was machbar ist, wird irgendwann gemacht. Man wird keine
der Entwicklungen durch Gesetze auf Dauer verhindern können.
Geisler: Da kann ich
Ihnen nur zustimmen. Wenn man sich diese "rocket scientists", die Extremwissenschaftler
von heute, ansieht, die sich als eine Elite auffassen und sich demokratischer
Kontrolle zu entziehen versuchen, dann weiß man: Alles das wird kommen.
Sie gehen fast blind für die sozialen und ethischen Folgen ihren Forschungszielen
nach.
SPIEGEL: Der Aufwand
für die Gesundheit liegt in Deutschland gegenwärtig bei 550 Milliarden
Mark pro Jahr. Angenommen, die Summe wird verdoppelt, hätten wir dann
ein Niveau erreicht, auf dem wir sagen können: Nun ist es genug, für
alle Menschen wird alles Menschenmögliche getan? Oder ist das medizinische
System prinzipiell unersättlich?
Geisler: Das Letztere
kann ich nur bejahen. Es wird deshalb früher oder später zu ganz
dramatischen gesellschaftlichen Spaltungen kommen. Der amerikanische Wissenschaftler
Lee Silver zum Beispiel sagt: Es wird eines Tages eine Spaltung in die
Gen-Reichen und die Gen-Armen geben. Die einen können sich eine genetische
Top-Ausstattung leisten, und die werden dann mit ihren armen, alten Verwandten,
die noch alle Erbkrankheiten bekommen, nicht mehr verkehren wollen. Wie
das im Einzelnen sein wird, wissen wir heute nicht, aber die gesellschaftliche
Spaltung in Reiche und Bedürftige, was die Früchte der Medizin
betrifft, ist vorprogrammiert.
SPIEGEL: Herr Professor
Geisler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führten
die Redakteure Veronika Hackenbroch und Hans Halter
Geisler, Linus: "Die Liebe
verkümmert" - Wohin steuert die Hightech-Medizin? |
DER SPIEGEL, Nr. 16, 17.04.2000,
S. 176-179 (SPIEGEL-Gespräch) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0004spiegel_interview.html |
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