Linus S. Geisler: Der Krebskranke
zwischen Autonomie und Fürsorge. Vortrag vom 29. Oktober 2005. 39.
Medizinische Woche Baden-Baden
Der Krebskranke zwischen Autonomie und
Fürsorge
Linus S. Geisler
Abstract
Von seinen Wurzeln her ist
ärztliches und pflegerisches Ethos ein Ethos der Fürsorge.
Denn das Angewiesensein auf die Zuwendung anderer liegt in der Natur des
Menschen.
Insofern ist Autonomie eine
zwar unverzichtbare, aber nicht die einzige Perspektive in der Behandlung,
Pflege und Betreuung kranker Menschen. Erst Elemente der Fürsorge
ermöglichen die Entfaltung einer tragfähigen Beziehung zwischen
den Beteiligten. Fürsorge erweist sich so verstanden als Antwort auf
den Wunsch nach Hilfe und Zuwendung des selbstbestimmten Kranken. Fürsorge
und Autonomie sind damit nicht sich gegenseitig ausschließende, sondern
im Gegenteil einander bedingende Konzepte.
Schwere der Krankheit, hohe
Leidensbelastung sowie Hilflosigkeit und Abhängigkeit als typische
Verlaufszkennzeichen von Tumorkrankheiten schränken jedoch fast immer
die Fähigkeit zu selbstbestimmten Entscheidungen und Handlungen ein.
Je mehr dies der Fall ist, umso mehr gewinnt die Ethik der Fürsorge
an Gewicht. Nicht selten ermöglicht erst eine "gestützte Autonomie",
dass Patienten ihre Selbstbestimmung wieder in gebotenem Maß wahrnehmen
können. Dies gilt auch und insbesondere in Phasen spiritueller Krisen. |
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Rainer Maria Rilke, sagte zu
einer Freundin, als er bereits an einer tödlichen, schmerzhaften Blutkrankheit
litt: "... helfen Sie mir zu meinem Tod, ich will nicht den Tod
der Ärzte - ich will meine Freiheit haben". [1] Diese Haltung
- Rilke lehnte im Übrigen die Gabe jeglicher Schmerzmittel ab - kann
als Ausdruck eines starken Wunsches nach Selbstbestimmung in schwerer Krankheit
verstanden werden.
Autonomie stellt eine Grundverfasstheit
jedes Menschen dar. Willensäußerungen schwerkranker Menschen
im Blick auf geplante therapeutische Maßnahmen zu beachten oder nicht
zu beachten zielen daher im Kern auf die Achtung oder Missachtung von Menschenwürde.
Dennoch sollte sich jeder Arzt, der mit Leiden, Verzweiflung und Ohnmacht
Schwerstkranker zu tun hat, die Frage stellen, ob eine absolute, monolithische
Auffassung von Selbstbestimmung durchgängig zu rechtfertigen und vor
allem zu praktizieren ist, wenn doch Fürsorge für den Leidenden
das allererste Gebot zu sein scheint.
In dieser Abwägung zwischen
Selbstbestimmungsrecht und Fürsorgepflicht scheint ein kaum auflösbares
Konfliktpotential zu liegen. Fragen tauchen auf: Ist ein rigoroser Rückzug
auf die Selbstbestimmung des Kranken nicht am Ende ein Verschieben von
Verantwortung ausschließlich auf dessen schwache Schultern? Andererseits:
bedeutet Fürsorge als handlungsleitendes Prinzip nicht den Rückfall
in paternalistische Positionen, die längst als überwunden gelten?
In meinem Referat möchte
ich als Kernaussage belegen [2]: Fürsorge und Autonomie sind nicht
sich gegenseitig ausschließende, sondern einander bedingende Konzepte.
Historische Entwicklung
Von seinen Wurzeln her ist
ärztliches und pflegerisches Ethos ein Ethos der Fürsorge.
Fürsorge findet ihren Grund in der Natur des Menschen: in seinem Angewiesensein
auf die Zuwendung anderer. Im Hippokratischen Eid finden sich bereits zwei
der vier Prinzipien der modernen Prinzipienethik, nämlich der Grundsatz
der Wohltätigkeit (beneficence) und des Nicht-Schadens (nonmaleficence).
Das Prinzip der Autonomie hingegen kommt bei Hippokrates nicht vor [3].
Über rund zwei Jahrtausende stand also das Wohl des Patienten absolut
im Vordergrund ärztlichen Tuns.
Die Auffassung von Autonomie
als Selbstbestimmung des Menschen wurzelt in der Aufklärung. Im Sinne
der Philosophie Immanuel Kants macht die Autonomie des Menschen als Willensfreiheit
diesen erst zur Person. Kant erblickte in der Autonomie "den Grund der
Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur".
Nicht zuletzt aus der Erfahrung
des Missbrauchs ärztlichen Handelns im Nationalsozialismus und dem
daraus erwachsenen Nürnberger Kodex von 1947 bindet die ärztliche
Berufsethik jede medizinische Intervention an die Zustimmung des autonomen
Patienten nach Aufklärung (informed consent). Im Belmont Report,
der 1978 in den USA vor allem zum Schutz von Probanden in der biomedizinischen
Forschung entworfen wurde, werden die Prinzipien des Respekts vor Personen,
der Fürsorge und der Gerechtigkeit bereits als normative Bezugspunkte
herangezogen.
1979 formulierten die Bioethiker
Tom L. Beauchamp und James F. Childress in ihren Principles of Biomedical
Ethics vier grundlegende bioethische Prinzipien [4]:
-
Das Prinzip der Achtung der
Autonomie,
-
Das Prinzip des Nicht-Schadens,
-
Das Prinzip des Wohltuens und
-
Das Prinzip der Gerechtigkeit
Diese Prinzipien haben in der
Folgezeit die Diskussion in der Bio- und Medizinethik wesentlich geprägt.
Ursprünglich hatten Beauchamp und Childress dem Autonomieprinzip in
einer hierarchischen Ordnung den Vorrang zugemessen. Später räumten
sie eine Gleichrangigkeit der Prinzipien ein.
Neben diesen Lehren aus ärztlichem
Versagen der Vergangenheit haben medizinische Entwicklungen und gesellschaftliche
Veränderungen zu einer Stärkung, wenn nicht letztlich zur Überhöhung
des Autonomieprinzips beigetragen: Einerseits hat die medizinische Verfügungsmacht
über menschliche Gesundheit und menschliches Leben rasant und immer
bedrohlicher zugenommen, andererseits entwickelte sich eine zunehmende
Individualisierung der Werte und Lebenskonzepte. Dadurch wurde im Verlauf
der vergangenen drei Jahrzehnte der Willen des selbstbestimmten Patienten
immer stärker in den Rang einer Lex suprema erhoben. Damit
sollte ein wirksames Korrektiv gegen willkürliche Eingriffsgewalt
geschaffen und den individuellen Werten, Wünschen und Lebensentwürfen
Rechnung getragen werden.
Das Prinzip der Fürsorge
hingegen erfuhr unter dem Vorwurf des Paternalismus eine stetige Abwertung,
ein Prozess, der als Paradigmenwechsel vom "beneficence model" zum "autonomy
model" beschrieben wurde. Es steht außer Frage, dass Anerkennung,
Förderung und gegebenenfalls Wiederherstellung von Autonomie Grundelemente
ärztlichen Handelns sind. In Frage zu stellen ist allerdings, ob Selbstbestimmung
als uneingeschränkte Letztbegründungsressource in der Medizin
zu gelten hat. Der These, wonach die Autonomie über das eigene Leben
den zentralen Inhalt der Menschenwürde ausmacht, stehen andere Werthaltungen
gegenüber, nach denen Autonomie und Würde des Menschen gerade
erst durch die Fürsorge für den anderen konstituiert werden.
Die Achtung der Autonomie
stellt ein fundamentales Patientenrecht dar. Wenn wir wissen wollen, was
dies in der konkreten Situation für den Kranken bedeutet, erscheint
es zweckmäßig zu fragen, welche Rechte damit gemeint sein können.
In ihrem Buch Patientenautonomie und Pflege hat Monika Bobbert gezeigt,
dass der Autonomiebegriff sehr unterschiedliche Rechte umfassen kann, so
zum Beispiel das Recht:
-
Auf Information
-
Auf Zustimmung oder Ablehnung
diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen
-
Auf Festlegung des Eigenwohls
-
Auf Alternativenauswahl
-
Auf eine möglichst milde
Einschränkung des Handlungsspielraums durch die im Gesundheitssystem
unumgänglichen institutionellen Strukturen [5]
Diese Auffächerung zeigt,
dass Patientenautonomie nicht alleine als Widerstandbegriff gegen unerwünschte
Maßnahmen zu verstehen ist, sondern auch Anrechte, besser gesagt
Ansprüche, Wünsche und Hoffnungen geltend macht. Die Erfüllung
solcher Anrechte, das wird schon hier deutlich, ist praktisch nur durch
Maßnahmen der Fürsorge möglich.
Engelhardt hat von den "vielen
Gesichtern der Autonomie" gesprochen Es erscheint nützlich, sich diese
zu vergegenwärtigen. Man kann das Recht auf Autonomie sehr eng fassen,
z.B. lediglich als Recht auf informierte Zustimmung, was heute vielfach
geschieht oder sehr weit, wie z.B. in der angloamerikanischen Pflegeethik.
Dort wird Autonomie als Recht auf Hilfe bei der Selbstklärung oder
bei der persönlichen psychischen Weiterentwicklung verstanden.
Ein fragwürdiges Verständnis
des Autonomiebegriffs sehe ich in Entwicklungen, die darin lediglich einen
pragmatischen Respekt vor der Selbstbestimmtheit des Anderen sehen. Der
Kranke wird umfassend aufgeklärt, Zustimmung oder Ablehnung liegen
ausschließlich in seiner Verantwortung. Dieses Konzept geht von einem
Kranken als einer Person aus, die selbständig, rational und ohne Einfluss
anderer entscheidet, also einer idealisierten, besser gesagt wirklichkeitsfremden
Gestalt. In diesem Szenario stehen sich Patient und Arzt wie Fremde gegenüber.
Die Wahrung der Patientenautonomie erstarrt zu einem blutleeren, kalten
Konstrukt.
Den lebenden und leidenden
Kranken zum "mündigen Patienten" zu befördern ist verlockend
und süß. Die Mündigkeitsmetapher verspricht so vieles:
Symmetrie zwischen Arzt und Patient, Überwindung von Paternalismus,
Wahlfreiheit und Selbstbestimmung ohne Grenzen, den Patienten als Co-Produzenten
seiner Gesundheit. Und am Ende wird alles sogar noch kostengünstiger.
[6] Der erfahrene Arzt hingegen weiß, wie viel Irrationalität,
Einflussnahme von Außen, wie viel Ängste und momentane Zufallsfaktoren
in so genannte "autonome" Patientenentscheidungen hineinspielen, bis zu
schwer fassbaren Zeitströmungen und Modeerscheinungen.
Gerade der Krebskranke lebt
häufig in wechselnden Szenarien der Wirklichkeitswahrnehmung. Emotionen
wechseln in manchmal chaotischen Abläufen, ein Pendeln zwischen Zorn,
Hoffnung, Depression und Resignation. Vielfache Therapieoptionen von unterschiedlicher
Dignität werden von außen an ihn herangetragen. Prozesse der
Verdrängung ermöglichen das Überleben in einer sonst kaum
erträglichen Wirklichkeit, erschweren aber eine stabile Orientierung.
Entscheidungen in dieser Situation als "autonome Willensäußerungen"
zu deklarieren, grenzt an Zynismus.
Ein umfassendes Verständnis
von Patientenautonomie erfordert eine Ausweitung der Perspektive, wenn
sie dem Kontext gerecht werden will, in dem ihre Entfaltung gelingen soll.
Dieser Kontext ist die gesamte Lebenswirklichkeit des Kranken, aktuell
das komplexe Gefüge der klinischen Realität. Den Patienten in
diesem Gefüge wie in einem luftleeren und beziehungsfreien Raum zu
betrachten, bedeutet einen defizitären Blick, der die Welt ausblendet,
in der er sein Kranksein erlebt.
Das aus der feministischen
Bioethik kommende Modell der relationalen Autonomie berücksichtigt
die gegenseitige Verwiesenheit von Arzt und Patient, sie erkennt die Fragilität
von Autonomie und weiß um die Notwendigkeit der Autonomieförderung.
Eine nicht paternalistische Fürsorge erlaubt dem Kranken in diesem
Konzept Möglichkeiten einer autonomen "Selbstsorge". Der Patient trifft
seine Entscheidung selbst, aber nicht einsam und allein, sondern intersubjektiv,
d.h. im Dialog oder Gespräch. [7]
Dies macht deutlich: Patientenautonomie
gewinnt Sinn und Tragfähigkeit erst durch Relationalität und
Kontextualität.
Damit stellt sich die Frage
nach der Struktur der Arzt-Patient-Beziehung, in der ein lebendiges und
wirklichkeitsnahes Verständnis von Patientenautonomie am ehesten gelingen
kann.
Modelle der Arzt-Patienten-Beziehung
[8]
(nach Ezekiel J. Emanuel
/ Linda L. Emanuel)
-
"paternalistisches Modell":
auch Eltern- oder Priestermodell - der Arzt weiß, was das Beste für
den Patienten ist
-
"informatives Modell":
auch technisches oder Konsumentenmodell - Ärzte als technische Experten,
die den Patienten fachliche Informationen als Entscheidungsgrundlage bieten
-
"interpretatives Modell":
der Arzt als Berater und Begleiter des Patienten, der Informationen liefert,
bei der Klärung von Wertvorstellungen hilft und Maßnahmen vorschlägt
(der Arzt sucht das Gespräch über die Werthaltungen der Patienten)
-
"deliberatives Modell":
der Arzt als Lehrer und Freund, der sich mit dem Patienten über die
besten Handlungsmöglichkeiten unterhält (der Arzt sucht das Gespräch
über mögliche Inhalte von Werthaltungen)
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Es wird rasch deutlich, dass
nur im interpretativen, besser noch im deliberativen Modell der Arzt-Patient-Beziehung,
wie sie das Psychologenehepaar Emanuel konzipiert hat, Raum für ein
umfassendes Verständnis von Patientenautonomie gegeben ist. Denn hier
agiert der Arzt nicht als bloßer technischer Experte, sondern als
Berater und Begleiter, vielleicht sogar als Lehrer und Freund des Patienten.
Das "Shared Decision Making"-Modell
versetzt in einem schrittweisen Informations-, Diskurs- und Vertrauensbildungsprozess
Patient und Arzt in die Lage, gemeinsame Therapieziele zu definieren und
zu erreichen. [9] Dieser Weg einer partizipativen Entscheidungsfindung
hat sich gerade bei Krankheiten als fruchtbar erwiesen, in denen Arzt und
Patient über lange Zeiträume in eine Beziehung eingebunden sind,
so wie dies häufig bei Krebserkrankungen der Fall ist.
Im Klima einer solchen Beziehung
besteht auch die Chance, dass über die körperlichen und psychosozialen
Aspekte hinaus wesentliche andere Bedürfnisse und Nöte erkannt
und angesprochen werden, nämlich solche, die in die spirituelle Dimension
des Krankseins hineinreichen. Spiritualität wird in diesem Zusammenhang
verstanden als ein - bewusstes oder implizites - Bezogensein auf eine über
das unmittelbare Ich und seine Ziele hinausreichende Wirklichkeit (H. Walach
[10]). Für Palliativmedizin und Hospizarbeit gilt Spiritualität
als tragende Säule. Die Weltgesundheitsorganisation räumt der
Berücksichtigung spiritueller Probleme in der Palliativmedizin hohe
Priorität ein.
Im Gegensatz zu den USA,
wo beispielsweise bereits im Studium die Erhebung einer "spirituellen Anamnese"
gelehrt wird, ist die Befassung mit spirituellen Aspekten des Krankseins
bei uns noch Neuland. Dies steht in wesentlichem Widerspruch zur Bedeutung
von Spiritualität in der Medizin. So hat die Schweizer Musik- und
Psychotherapeutin Monika Renz, Leiterin der Psychoonkologie am Kantonsspital
St Gallen, in ihren Untersuchungen zeigen können, dass bei Krebspatienten
und anderen Schwerkranken in etwa der Hälfte der Fälle spirituelle
Erlebnisse und Erfahrungen vorkommen, die zu einer Linderung körperlicher
Symptome und einer versöhnteren Beziehung zur Krankheit beitragen
können. Renz hat diese Ergebnisse in ihrem beeindruckenden Buch "Grenzerfahrung
Gott" niedergelegt. [11] Es hat sich gezeigt, dass spirituelles Wohlbefinden
(spiritual well-being) der wichtigste Faktor für die Lebensqualität
von Patienten mit Krebs im Endstadium ist. [12]
Der Zugang zur spirituellen
Welt Kranker setzt allerdings fürsorgliche Einfühlung und Respekt
vor dem selbstbestimmten Umgang mit der Krankheit voraus.
Es ist Erfahrungstatsache,
dass nahezu jede Krankheit die Selbstbestimmungsfähigkeit einschränken
kann. Besonders in der Terminalphase von Tumorkrankheiten verhindern Schmerzen,
Hilflosigkeit und Depression häufig, dass Patienten noch imstande
sind, selbstbestimmt auf Pflege, Betreuung und Behandlung mit einzuwirken.
Rund ein Viertel der depressiven Patienten ist hinsichtlich therapeutischer
Entscheidungen praktisch einwilligungsunfähig.
Mit zunehmender Schwere
der Krankheit steht eher der Wunsch nach fürsorglicher Behandlung
als nach autonomen Entscheidungen im Vordergrund.
Der Onkologe Stephan Sahm
hat in einer aktuellen Studie, die je einhundert Krebspatienten, Gesunde,
Pflegende und Ärzte umfasste, zeigen können, dass etwa die Hälfte
aller Befragten hinsichtlich ihrer Behandlungswünsche am Lebensende
unschlüssig waren. [13] Gegen eine definitive Festlegung durch eine
Patientenverfügung als Signum eines uneingeschränkten Selbstbestimmungswillens
wurden drei Kernbedenken vorgetragen:
-
Das Unvermögen, Behandlungswünsche
zu antizipieren,
-
die Furcht vor einer diktatorischen
Auslegung durch Ärzte, und
-
die Angst vor Missbrauch
Die große Mehrheit wollte,
dass Angehörige gemeinsam mit den Ärzten entscheiden.
In solchen Phasen in denen
Fürsorge zunächst ganz im Vordergrund steht, geht es auch um
Autonomieförderung im weitesten Sinne. Wir haben dieses Prinzip als
"gestützte Autonomie" bezeichnet. Konkret geht es dabei um folgende
Ziele:
-
das wieder Bewusstmachen des
Anspruchs auf Autonomie,
-
Autonomiebefähigung durch
die Behandlung körperlicher, psychischer und mentaler Schmerzen oder
Depressionen,
-
den Abbau institutioneller Hemmnisse,
-
die Beseitigung oder Klärung
entwürdigender Maßnahmen und Umstände.
Je weniger es dem Patienten
noch gelingt, sich selbstbestimmt zu verhalten, desto mehr gewinnt die
Ethik der Fürsorge an Gewicht, nicht aber, um die Autonomie des Kranken
noch mehr in den Hintergrund zu drängen, sondern um sie so weit als
möglich zu stärken. Autonomie und Fürsorge bilden dann nur
scheinbar einen schwer überbrückbaren Gegensatz.
Aus dieser Perspektive
erscheinen Fürsorge und Autonomie dann nicht als einander nachgeordnete
oder gar sich gegenseitig ausschließende, sondern als einander bedingende
Konzepte.
Fürsorge kann nicht
losgelöst von der Selbstbestimmtheit desjenigen ausgeübt werden,
dem sie gilt.
Wem am Wohl des Anderen
liegt, der muss dessen Willen beachten. Wer die Autonomie des Anderen achten
will, dem kann dessen Wohl nicht gleichgültig sein. [14]
Damit ist auch die Achtung
der Würde gewährleistet. Diese impliziert sowohl die Achtung
der Autonomie wie die Verpflichtung zur Fürsorge.
Ein solches Autonomieverständnis
geht von einem Menschenbild aus, das den Menschen als frei und zugleich
in Beziehung zum anderen stehend sieht.
Am Krankenbett, in der Stunde
der Wahrheit, geht ein dogmatisches Beharren auf bioethischen Prinzipien
leicht an der Not und dem Leiden Kranker vorbei. Und was dann als Paternalismus
gescholten wird, ist vielleicht das, was der Kranke jetzt am meisten benötigt:
das wärmende Feuer spontaner menschlicher Zuwendung.
Literatur:
[1] Sill, B: Gedanken zu
einer neuen "ars (bene) moriendi" in der Dichtung Rainer Maria Rilkes.
Renovatio - Zeitschrift für das interdisziplinäre Gespräch.
Heft 3. 49. Jahrgang. September 1993. S. 140-151
[2] Geisler, LS: Patientenautonomie
- eine kritische Begriffsbestimmung. Dtsch Med Wochenschr 2004;129:453-456
URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/03dmw-patientenautonomie.html
- Interner
[3] Eid des Hippokrates:
"Meine Verordnungen werde ich treffen zu Nutz und Frommen der Kranken,
nach bestem Vermögen und Urteil, sie schützen vor allem, was
ihnen Schaden und Unrecht zufügen könnte."
[4] Beauchamp, TL; Childress
JF. Principles of Biomedical Ethics. 5th ed (Hrsg). Oxford University Press.
New York, 2001
[5] Boppert, M. Patientenautonomie
und Pflege. Frankfurt/Main, 2002
[6] Geisler, LS: Der mündige
Patient ist ein Phantom. AOK-Forum "Gesundheit und Gesellschaft", Ausgabe
9/2003, 6. Jahrgang, S. 3
URL: http://www.linus-geisler.de/art2003/09gg-phantom.html
- Interner
[7] Rehbock Th. Autonomie
- Fürsorge - Paternalismus. Ethik Med 2002; 14: 131-150
[8] Emanuel, EJ; Emanuel
LL. Four Models of the Physician-Patient Relationship. JAMA 1992; 267:
221-226
[9] Isfort, J; Floer B, Koneczny
N, Vollmar HC, Butzlaff M: "Shared Decision Making". Arzt oder Patient
- Wer entscheidet? Dtsch Med Wochenschr 2002; 127: 2021-2024
[10] Walach, H: Spiritualität
als Ressource. Chancen und Probleme eines neuen Forschungsfeldes. In: Ehm
S, Utsch M (Hg): Kann Glauben gesund machen? Spiritualität in der
modernen Medizin. EZW-Texte 181/2005. Berlin.
[11] Renz, M: Grenzerfahrung
Gott. Spiritueller Erfahrungen in Leid und Krankheit. Herder Spektrum 2003
[12] McClain, C; Rosenfeld,
B; Breitbart, W: Effect of spiritual well-being on end-of-life despair
in terminally-ill Cancer patients, Lancet 361 (2003), 1603-1607
[13] Sahm, St: Nicht zu verbindlich
bitte. Wie Patienten ihre Verfügungen gelesen wissen wollen. FAZ,
11. Oktober 2005, Nr. 236, S. 41
[14] aaO [7]
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Linus S. Geisler: Der Krebskranke
zwischen Autonomie und Fürsorge |
Vortrag vom 29. Oktober
2005. 39. Medizinische Woche Baden-Baden |
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0510mw_autonomie.html |
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