Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: PATIENTENAUTONOMIE - EINE KRITISCHE BEGRIFFSBESTIMMUNG. Dtsch Med Wochenschr, März 2004
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Patientenautonomie - eine kritische Begriffsbestimmung

Patient autonomy - a critical analysis

Linus S. Geisler
Von seinen Wurzeln her ist ärztliches und pflegerisches Ethos ein Ethos der Fürsorge. Fürsorge findet ihren Grund in der Natur des Menschen: in seinem Angewiesensein auf die Zuwendung anderer. Im Hippokratischen Eid finden sich bereits zwei der vier Prinzipien der modernen Prinzipienethik, nämlich beneficence und nonmaleficence, Autonomie hingegen kommt nicht vor. 

Die Auffassung von Autonomie als Selbstbestimmung des Menschen wurzelt in der Aufklärung. Im Sinne der Philosophie Immanuel Kants macht die Autonomie des Menschen als Willensfreiheit diesen erst zur Person. Kant erblickte in der Autonomie "den Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur". 

Nicht zuletzt aus der Erfahrung des Missbrauchs ärztlichen Handelns im Nationalsozialismus und dem daraus erwachsenen Nürnberger Kodex von 1947 bindet die ärztliche Berufsethik jede medizinische Intervention an die Zustimmung des autonomen Patienten nach Aufklärung (informed consent). Im Belmont Report, der 1978 in den USA vor allem zum Schutz von Probanden in der biomedizinischen Forschung entworfen wurde, werden die Prinzipien des Respekts vor Personen, der Fürsorge und der Gerechtigkeit bereits als normative Bezugspunkte herangezogen. 

Die 1979 von Tom L. Beauchamp und James F. Childress in den Principles of Biomedical Ethics [2] formulierten vier Prinzipien der Achtung der Autonomie, des Nicht-Schadens, des Wohltuens und der Gerechtigkeit haben in der Folgezeit die Diskussion in der Bio- und Medizinethik wesentlich geprägt. Ursprünglich wurde dem Autonomieprinzip von den Autoren in einer hierarchischen Ordnung der Vorrang zugemessen. Später haben sie eine Gleichrangigkeit der Prinzipien eingeräumt. 

Die Prinzipienethik von Beauchamp und Childress ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Man hat ihr einen mangelhaften Begründungsfundus vorgeworfen und sie im Sinne eines gemäßigten Intuitionismus interpretiert. Eigentlich handle es sich nur um ein "mantra of principles". Die komplexen und differenzierten Sachverhalte in der biomedizinischen Ethik ließen sich mit einer starren Hierarchie von Prinzipien nicht bewältigen, da sie zu unangemessenen Vereinfachungen führten. 

Vom Prinzip der Fürsorge zum Prinzip Autonomie - ein Paradigmenwechsel? 

Die ständig wachsende medizinische Verfügungsmacht über menschliche Gesundheit und menschliches Leben, aber auch die zunehmende Individualisierung der Werte und Lebenskonzepte erhoben in den vergangenen drei Jahrzehnten den Willen des selbstbestimmten Patienten immer stärker in den Rang einer Lex suprema. Das Prinzip der Fürsorge hingegen erfuhr unter dem Vorwurf des Paternalismus eine stetige Abwertung, ein Prozess, der als Paradigmenwechsel vom "beneficence model" zum "autonomy model" beschrieben wurde. 

Es steht außer Frage, dass Anerkennung, Förderung und gegebenenfalls Wiederherstellung von Autonomie Grundelemente ärztlichen Handelns sind. In Frage zu stellen ist allerdings, ob heute Selbstbestimmung als uneingeschränkte Letztbegründungsressource in der Medizin zu gelten hat. Der These, wonach die Autonomie über das eigene Leben den zentralen Inhalt der Menschenwürde ausmacht, stehen andere Werthaltungen gegenüber, nach denen Autonomie und Würde des Menschen gerade erst durch die Fürsorge für den anderen konstituiert werden. 

Die Autonomie stellt eine Grundverfasstheit jedes Menschen dar. Es wird aber zu prüfen sein, ob die ethischen Handlungsprinzipien in einer hierarchischen Ordnung zu einander zu sehen sind, also, ob beispielsweise dem Prinzip der Autonomie Vorrang vor dem Prinzip der Fürsorge einzuräumen ist, oder aber, ob sie nicht eher in einem Beziehungsgefüge oder fruchtbaren Spannungsfeld zueinander stehen. Bei dem Versuch, den Autonomiebegriff innerhalb des Bezugssystem der modernen Medizin kritisch zu durchleuchten, stellen sich vor allem folgende Fragen: 
- Welche inhaltlichen Auffüllungen und Ausfächerungen bestimmen den heutigen Autonomiebegriff? 
- Welcher Stellenwert kommt ihm unter den ethischen Prinzipien der Biomedizin zu?
- Ist das Prinzip der Autonomie alleine zur Etablierung eines durchgängig tragfähigen Arzt-Patient-Verhältnisses ausreichend? 
- Wie kann Autonomie bei einem Kranken verwirklicht werden, wenn er sie nicht mehr wahrnehmen kann?

kurzgefasst: Anerkennung, Förderung und gegebenenfalls Wiederherstellung von Autonomie sind Grundelemente ärztlichen Handelns.
Autonomie - Gewicht und Gesicht 

Eine systematische Entfaltung des Patientenrechtes auf Achtung der Autonomie, wie sie Monika Bobbert in ihrem Buch Patientenautonomie und Pflege [6] vorgelegt hat, zeigt, dass der Autonomiebegriff unterschiedliche Rechte umfasst, so zum Beispiel das Recht 
- auf Zustimmung oder Ablehnung, 
- auf Information,
- auf Festlegung des Eigenwohls,
- auf Alternativenauswahl sowie
- auf möglichst milde Einschränkung des Handlungsspielraums durch die im Gesundheitssystem unumgänglichen institutionellen Strukturen 
Diese Auffächerung lässt erkennen, dass Patientenautonomie nicht nur als Widerstandsbegriff zu verstehen ist, sondern auch Anrechte geltend macht. 

Im Laufe der Zeit hat sich erwiesen, dass ein Autonomiebegriff, der nicht mehr bedeutet als den Respekt vor der Selbstbestimmtheit des anderen, in der klinischen Realität Gefahr läuft, zum blutleeren Konstrukt zu werden. Damit stellte sich die Frage nach den verschiedenen Ausdeutungsmöglichkeiten des Autonomiebegriffs. Engelhardt jr. hat von den "vielen Gesichtern der Autonomie" gesprochen. Man kann das Recht auf Autonomie sehr eng fassen, z.B. lediglich als Recht auf informierte Zustimmung oder sehr weit, wie z.B. in der angloamerikanischen Pflegeethik als Recht auf Hilfe bei der Selbstklärung oder bei der persönlichen psychischen Weiterentwicklung [4]. 

Je nachdem, ob die Individualität oder Relationalität des autonomen Selbst betont wird, ergeben sich unterschiedliche Ausfüllungen des Autonomiebegriffs [5]. Während das Prinzipienmodell von einer Person ausgeht, die selbständig, rational und ohne den Einfluss anderer über sich - und am Ende des Lebens - auch über ihr Sterben entscheidet, geht das Care-Modell von der grundsätzlichen menschlichen Eingebundenheit in Beziehungen aus. Die Ethik der Fürsorge betont das interdependente anstelle eines independenten autonomen Selbst. Dieses Selbst ist per definitionem mit Anderen verbunden [9]. Ähnliches meinte Romano Guardini mit der Feststellung, menschliche Personen gäbe es nicht "in der Einzahl". 

George J. Agich hat Mitte der neunziger Jahre aufgrund seiner Erfahrungen mit Langzeitpatienten im Rahmen eines als Kontextualismus bezeichneten Ansatzes ein Autonomie-Verständnis entwickelt, das die notwendigen interaktiven Prozesse zwischen Arzt und Patient mit einbezieht [1]. Eine Kernaussage seiner Abhandlung von 1993 lautet: "Autonomie, wie sie in der praktischen Alltagswelt erscheint, beinhaltet im Gegensatz zur idealen Welt der Theorie, immer auch Prozesse der Interpretation und des Aushandelns." 

In scheinbarer Paradoxie zu einem Autonomiebegriff, der von einer von jeden äußeren Einflüssen unabhängigen Selbstbestimmtheit ausgeht, schält sich immer mehr heraus, dass Patientenautonomie Sinn und Tragfähigkeit erst durch Relationalität und Kontextualität gewinnt. Damit entstehen quasi Schnittmengen mit anderen ethischen Prinzipien, wie beispielsweise der Ethik der Fürsorge. Patientenautonomie imponiert dann nicht mehr als monolithisches ethisches Prinzip mit der Gefahr der Distanzbildung zwischen Arzt und Patient und einer möglicherweise fragwürdigen Verlagerung von Verantwortung auf den Patienten. 

kurzgefasst: Patientenautonomie gewinnt Sinn und Tragfähigkeit erst durch Relationalität und Kontextualität.
Das aus der feministischen Bioethik kommende Modell der relationalen Autonomie berücksichtigt die gegenseitige Verwiesenheit von Arzt und Patient, die Fragilität der Autonomie und die Notwendigkeit der Autonomieförderung. Eine nicht paternalistische Fürsorge erlaubt dem Kranken Möglichkeiten einer autonomen "Selbstsorge". Der Patient trifft seine Entscheidung selbst, aber nicht einsam und allein, sondern intersubjektiv, d.h. im Dialog oder Gespräch [12]. Auch hier wird wieder die grundlegende Bedeutung kommunikativer Prozesse für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der Medizin deutlich. 

Aus diesem erweiterten, sehr viel kliniknäheren Verständnis von Patientenautonomie haben sich verschiedene Arzt-Patient-Modelle entwickelt, in denen ein enger Autonomiebegriff überwunden worden ist. Im interpretativen und deliberativen Modell von Emanuel und Emanuel wirkt der Arzt als Berater und Begleiter, beziehungsweise als Lehrer und Freund [7]. Das "Shared Decision Making"-Modell versetzt in einem schrittweisen Informations-, Diskurs- und Vertrauensbildungsprozess Patient und Arzt in die Lage, gemeinsame Therapieziele zu definieren und zu erreichen [10]. Das Modell der "enhanced autonomy" zielt darauf ab, den Patienten zu befähigen, durch Vertrauensbildung zwischen Arzt und Patient, sowie Einbeziehung einer patientenzentrierten Kommunikation, die für ihn besten Entscheidungen zu treffen. 

Bei dem von uns konzipierten Modell der "gestützten Autonomie" geht es um Autonomieförderung im weitesten Sinne, die gerade unter den Einschränkungen schwerster oder terminaler Krankheiten besondere Bedeutung gewinnen kann. Sie umfasst 
- das überhaupt erst Bewusstmachen des Anspruchs auf Autonomie,
- Autonomiebefähigung durch die Behandlung körperlicher, psychischer und mentaler Schmerzen oder Depressionen (rund ein Viertel der depressiven Patienten ist bezüglich therapeutischer Entscheidungen praktisch einwilligungsunfähig)
- den Abbau institutioneller Hemmnisse,
- die Beseitigung oder Klärung entwürdigender Maßnahmen und Umstände. 

kurzgefasst: "Gestützte Autonomie" bedeutet für den durch Krankheit in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung eingeschränkten Patienten Autonomieförderung in einem umfassenden Sinn.
Autonomie aus der Patientenperspektive 

Im Diskurs über mögliche hierarchische Zuordnungen ethischer Prinzipien kommt die Patientenperspektive meistens zu kurz, und die eigene Perspektive wird nicht selten auf den Patienten projiziert. Danach erscheint es folgerichtig, dass Patienten in allen Krankheitsphasen der autonomen Entscheidungshoheit den höchsten Rang einräumen. In einigen früheren Studien ist dies schon bezweifelt worden, allerdings an relativ kleinen Patientenkollektiven. So bejahten in einer Untersuchung zur Patientenautonomie von Dialysepatienten 73% der Patienten die Frage "Ich bin sicher, dass die mich behandelnden Ärztinnen/Ärzte die richtige Entscheidung für mich treffen". 

Eine kürzlich veröffentlichte Befragung an über 12600 Patienten aus 51 Krankenhäusern in den USA nach ihrer Entlassung ergab als deren Hauptanliegen, mit Respekt und Würde behandelt zu werden und den Ärzten vertrauen zu können; weniger Gewicht wurde der Möglichkeit beigemessen, autonome Entscheidungen treffen zu können [11]. 

Naturgemäß differieren die Vorstellungen von Patienten, was das Wesen von Autonomie angeht. Eine Untersuchung in Deutschland hat ergeben, dass für einige Patienten Autonomie bereits bedeutet, Fragen stellen zu können, während andere unter Autonomie die Möglichkeit verstehen, aktiv Entscheidungen treffen zu können. 

Die Mehrzahl der Patienten hat das Bedürfnis als autonomes Individuum und nicht als "Nummer" behandelt zu werden ("sehr wichtig" für 89,4% der ambulanten Patienten [8]). Autonomie wird häufig weniger im Sinne von Selbstbestimmung artikuliert sondern als Erwartung, vom Arzt "ernst genommen" zu werden (90,1% der Befragten in der ambulanten Versorgung). Dieses Ernstgenommenwerden durch den Arzt erscheint aus der Patientenperspektive lebensnaher zu sein als der theoretisch eher blasse Begriff des "respect for autonomy". Sich ernsthaft auf die Selbstauslegung der Krankheit eines Patienten einlassen zu können, wurzelt vorwiegend in der Empathiefähigkeit des Arztes. Sie zu vermitteln und zu entwickeln wird im derzeitigen Ausbildungssystem allerdings nicht angestrebt. 

kurzgefasst: Vorrangiger Wunsch der meisten Patienten ist, in ihrem subjektiven Krankheitserleben von ihrem Arzt ernst genommen zu werden.
Wie autonom wollen Patienten sein? 

Ärztliches und pflegerisches Handeln müssen sich selbstverständlich auch am Autonomiebedürfnis des Patienten orientieren. Es liegt jedoch in der Natur nahezu jeder Krankheit, die Selbstbestimmungsfähigkeit einzuschränken. Die Entscheidung als praktisch Gesunder sich medizinischen Maßnahmen zu unterziehen, z.B. im Rahmen eines Screening-Programms, wird an einen viel strikteren Autonomiewunsch gebunden sein als bei einem durch Schmerzen, Hilflosigkeit und Depressionen in seiner Entscheidungsfähigkeit stark eingeschränkten Kranken in der Terminalphase seiner Krankheit. Dass der Wunsch nach autonomen Entscheidungen mit der Krankheitsschwere abnimmt, ist belegt. Die Präferenzen von Patienten und Ärzten als Patienten unterscheiden sich dabei nicht wesentlich. Dies relativiert das Gewicht von Vorwissen und medizinischen Erfahrungen für den Wunsch nach Selbstbestimmtheit. Ferner scheint die aktive Einbindung in Entscheidungsfindungen für ältere Patienten und Patienten mit niedrigem Bildungsstand eine geringere Rolle zu spielen als für jüngere Menschen und Personen höherer sozialer Schichten. 

Es ist versucht worden, Patienten je nach ihrer Neigung zu selbstbestimmten Entscheidungen zu typisieren und dabei zwischen "monitors" und "blunters" zu unterscheiden. "Monitors" suchen aktiv nach Informationen und wollen an medizinischen Entscheidungen beteiligt werden, während "blunters" sich durch eine aktive Rolle eher überfordert fühlen und eine fürsorgliche, paternalistische Betreuung vorziehen. 

Schließlich differiert der Wunsch nach autonomen Entscheidungen auch je nach Behandlungsphase. In der diagnostischen Phase neigen Patienten eher dazu, Maßnahmen in die Verantwortung des Arztes zu legen, während beim Abwägen von Alternativen und bei Entscheidungen über das weitere Vorgehen eine aktive Mitbestimmung gewünscht wird. Die Reichweite des Wunsches nach Information kann dabei krankheitsspezifisch Grenzen finden: so ist ein gewisses Maß an Verleugnung und Verdrängung für die psychische Verarbeitung einer Krebskrankheit nicht selten unverzichtbar. Weisman hat dies als "middle knowledge" bezeichnet. 

Die Analyse der Vorstellungen von Patienten zum Wesen der Selbstbestimmung lässt erkennen, dass Patientenautonomie keineswegs durchgängig als negative Freiheit, d.h. im Sinne eines Widerstandsbegriffs gegen Bevormundung verstanden wird. Sehr häufig dominiert der Wunsch nach fürsorglicher Behandlung und Betreuung. 

kurzgefasst: Mit zunehmender Schwere der Krankheit steht häufig eher der Wunsch nach fürsorglicher Behandlung als nach autonomen Entscheidungen im Vordergrund.
Dichotomie von Autonomie und Fürsorge? 

Autonomie und Fürsorge scheinen in einem schwer überbrückbaren Gegensatz zu stehen. Dies gilt jedoch nur, wenn Fürsorge quasi als Kompensation oder Ersatz für fehlende oder eingeschränkte Patientenautonomie gesehen wird [3]. Der Widerspruch löst sich auf, wenn Fürsorge als ärztliche oder pflegerische Antwort auf das Hilfsbegehren des autonomen Patienten verstanden wird. Aus dieser Perspektive erscheinen Fürsorge und Autonomie dann nicht als einander nachgeordnete oder gar sich gegenseitig ausschließende, sondern als einander bedingende Konzepte. Fürsorge kann nicht losgelöst von der Selbstbestimmtheit desjenigen ausgeübt werden, dem sie gilt. Wem am Wohl des Anderen liegt, der muss dessen Willen beachten. Wer die Autonomie des Anderen achten will, dem kann dessen Wohl nicht gleichgültig sein. Damit ist auch die Achtung der Würde gewährleistet. Diese impliziert sowohl die Achtung der Autonomie wie die Verpflichtung zur Fürsorge. 

kurzgefasst: Fürsorge ist als die ärztliche oder pflegerische Antwort auf das Hilfsbegehren des autonomen Patienten zu verstehen. Fürsorge und Autonomie sind dabei nicht sich gegenseitig ausschließende, sondern einander bedingende Konzepte. 
Fazit 

Autonomie ist die unverzichtbare, aber nicht die einzige Perspektive in der Behandlung, Pflege und Betreuung kranker Menschen. Erst Elemente der Fürsorge ermöglichen die Entfaltung einer Beziehung zwischen den Beteiligten. Fürsorge erweist sich so verstanden als Antwort auf den Wunsch nach Hilfe und Zuwendung des autonomen Kranken. Fürsorge und Autonomie sind damit nicht sich gegenseitig ausschließende, sondern einander bedingende Konzepte. Schwere der Krankheit, hohe Leidensbelastung sowie Hilflosigkeit und Abhängigkeit schränken unvermeidbar die Fähigkeit zu selbstbestimmten Entscheidungen und Handlungen ein. Je mehr dies der Fall ist, um so mehr gewinnt die Ethik der Fürsorge an Gewicht, nicht aber um die Autonomie des Kranken in den Hintergrund zu drängen, sondern um sie so weit als möglich zu stärken. Nicht selten ermöglicht erst eine solche "gestützte Autonomie", dass Patienten ihre Selbstbestimmung wieder in gebotenem Maß wahrnehmen können. Dieses Autonomieverständnis geht von einem Menschenbild aus, das den Menschen als frei und zugleich in Beziehung zum Anderen stehend sieht. 

Literatur:

[1] Agich GJ. Autonomy and Long Term Care. "Autonomy, as it concretely emerges in the practical world of everyday life as opposed to the ideal world of theory, necessarily involves processes of interpretation and negotiation". Oxford University Press, Incorporated, 1993 

[2] Beauchamp TL, Childress JF. Principles of Biomedical Ethics. 5th ed (Hrsg). Oxford University Press. New York, 2001 

[3] Beckmann JP. Patientenverfügungen: Autonomie und Selbstbestimmung vor dem Hintergrund eines im Wandel begriffenen Arzt-Patient-Verhältnisses. Zeitschrift für medizinische Ethik 1998; 44: 143-156 

[4] Benner P. Caring as a Way of Knowing and Not Knowing, Washington D.C, in: Phillips S S, Benner P: (Hrsg): The Crisis of Care. Affirming and Restoring Care Practices in the Helping Professions. 1994: 42-144 

[5] Biller-Andorno N. Gerechtigkeit und Fürsorge. Zur Möglichkeit einer integrativen Medizinethik. Frankfurt/Main, 2001 

[6] Boppert M. Patientenautonomie und Pflege. Frankfurt/Main, 2002 

[7] Emanuel EJ, Emanuel LL. Four Models of the Physician-Patient Relationship. JAMA 1992; 267: 221-226 

[8] Dierks ML, Bitzer EM. Patientenerwartungen und Patientenzufriedenheit. Unpublished report. Hannover, Zit. in: The European Patient Of The Future. Ed. by A. Coulter and H. Magee. Maidenhead - Philadelphia. 2003, S. 55. 1997 

[9] Gilligan C. Moralische Orientierung und moralische Entwicklung. München dtv, In: Nunner-Winkler, G (Hrsg): Weibliche Moral. Die Kontroverse um eine geschlechtsspezifische Ethik. 1995: 79-100 

[10] Isfort J, Floer B, Koneczny N, Vollmar HC, Butzlaff M. "Shared Decision Making". Arzt oder Patient - Wer entscheidet? Dtsch Med Wochenschr 2002; 127: 2021-2024 

[11] Joffe S, Manocchia M, Weeks JC, Cleary PD. What do patients value in their hospital care? An empirical perspective on autonomy centered bioethics. J Med Ethics 2003; 29: 103-108 

[12] Rehbock Th. Autonomie - Fürsorge - Paternalismus. Ethik Med 2002; 14: 131-150 
 


Geisler, Linus S.: Patientenautonomie - eine kritische Begriffsbestimmung. Dtsch Med Wochenschr 2004;129:453-456
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/03dmw-patientenautonomie.html

© Georg Thieme Verlag Stuttgart - New York - ISSN 0012-0472
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