Einwurf
Der mündige Patient ist ein Phantom
Politik, Kassen und Ärzte
wollen ihn: den mündigen Patienten. Doch Linus S. Geisler warnt vor
überzogenen Vorstellungen. Denn für den Mediziner kann es bei
Erkrankungen keine absolute Autonomie geben. Grund: Kranke Menschen brauchen
kompetente Unterstützung.
George Bernard Shaw bewies Menschenkenntnis
als er schrieb, jeder Beruf sei eine Verschwörung gegen den Laien.
Zu diesen Verschwörungen zählt auch der Versuch, kranke Menschen
zu mündigen Patienten umzudeuten.
Die Mündigkeitsmetapher
möglichst hoch zu halten, ist verlockend und süß. Sie verspricht
so vieles: Symmetrie zwischen Arzt und Patient, Überwindung eines
überholten Paternalismus, Wahlfreiheit und Selbstbestimmung ohne Grenzen,
den Patienten als Co-Produzenten seiner Gesundheit, die ultimative Emanzipation
des kranken Menschen. Und am Ende wird alles sogar noch kostengünstiger.
Die Verwechslung von mündigem
Bürger und mündigem Patienten ist jedoch fatal. Ersterer steht
für das Idealbild des Menschen, der zu eigener Urteilsbildung und
autonomem Handeln befähigt ist, letzterer ist zu allererst krank und
leidend. Es gehört zu den Wesensmerkmalen von Krankheit, nahezu regelhaft
die Fähigkeit zur Selbstbestimmung einzuschränken und zwar umso
mehr, je belastender das Kranksein ist. Insofern ist der mündige Patient
schon vom Ansatz her ein Widerspruch in sich selbst.
Patientenautonomie als Grundlage
von Mündigkeit kann als ein System sich gegenseitig beeinflussender
Größen verstanden werden: körperliche und psychische Integrität
sowie intakte kognitive Fähigkeiten. Jede Einschränkung einer
dieser Komponenten schränkt die Selbstbestimmungsfähigkeit ein.
Gefragt ist dann nicht nur der Respekt vor der Autonomie des Kranken, sondern
auch der fürsorgliche Umgang mit ihm. Das sind die Einwände gegen
einen überzogenen Mündigkeitsanspruch.
Auf dem Weg zur Mündigkeit
lauern viele falsche Vorstellungen. Eine beliebte ist die Verwechslung
von Informiertsein und Mündigkeit. Die Gleichung: Je höher der
Wissensstand, desto mündiger der Mensch ist eine Simplifizierung der
Zusammenhänge. Der informierte Internetsurfer mit unsortierten medizinischen
Wissensfragmenten steht seiner Entscheidungsfähigkeit häufig
selbst im Weg. Andererseits kann ein gereiftes Nicht-Wissen-Wollen, beispielsweise
im Rahmen der genetischen Diagnostik, Ausdruck eines besonders ausgeprägten
Selbstbestimmungswillens sein. Informiert zu sein bedeutet für den
Patienten noch lange nicht die Befähigung zur bestmöglichen Entscheidung.
Hier sind andere Entscheidungsprozesse vonnöten. So versetzt zum Beispiel
das in den USA favorisierte "Shared Decision Making"-Modell in einem schrittweisen
Informations-, Diskurs- und Vertrauensbildungsprozess Patient und Arzt
in die Lage, gemeinsame Therapieziele zu definieren und zu erreichen. Schließlich:
Jeder sachlich noch so korrekten Information des Patienten stehen die individuelle
Selbstwahrnehmung und Selbstauslegung seiner Krankheit gegenüber.
Eine nachhaltige Therapie ist ohne eine Synopse beider Wirklichkeiten kaum
möglich.
Mündigkeit ist eine
janusköpfige Eigenschaft: Sie soll den gut informierten Patienten
befähigen, in einer Situation, in der es um seine Gesundheit oder
gar um sein Leben geht, wohlabgewogene medizinische Entscheidungen zu treffen.
Doch sie entlässt ihn zugleich aus der ärztlichen Verantwortung.
Mündigkeit als Verschiebebahnhof für Verantwortlichkeiten? Der
"informed consent" regelt zwar die rechtliche Seite, aber er ist eher ein
Vertrag, als Ausdruck von Vertrauen zum Therapeuten. Ist Mündigkeit
vielleicht nur ein Beschwichtigungsplacebo für die unterschiedlichen
Ängste der Beteiligten?
Die Mündigkeitsmetapher
verdeckt möglicherweise noch ganz andere Intentionen: die schleichende
Rückverlagerung von Krankheitsrisiken in die private Verantwortung
des Patienten, gegen die er sich nur durch "überirdische" Gesundheitsdisziplin
erwehren könnte. Leistungskürzungen, die Wahlfreiheit vorspiegeln,
kaschierte Rationierung, die sich als Eigenverantwortlichkeit ausgibt,
nüchterne Versicherungsmathematik, die Gerechtigkeit vorgaukelt.
Ohne Frage: Anerkennung und
Förderung der Patientenautonomie sind Grundelemente ärztlichen
Handelns. Aber sie lassen sich nicht politisch verordnen. Patientenautonomie
entwickelt sich zu allererst im Umgang mit dialogfähigen und empathischen
Ärzten sowie aus der Gewissheit, als Kranker ernst genommen zu werden.
Gesundheitsreformen ohne Veränderung der ärztlichen Ausbildung
sind Reformen nur an den Gliedern, nicht aber am Haupt. Reformen, die mit
Phantomen operieren, geraten zwangsläufig selbst zum Phantom.
Professor Dr. med. Linus
S. Geisler ist Internist und Mitglied der Enquete-Kommission "Ethik
und Recht der modernen Medizin" des Bundestages.
Geisler, Linus S.: Der mündige
Patient ist ein Phantom. AOK-Forum "Gesundheit und Gesellschaft", Ausgabe
9/2003, 6. Jahrgang, S. 3 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2003/09gg-phantom.html |
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