Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: DER MÜNDIGE PATIENT IST EIN PHANTOM. AOK-Forum "G+G", September 2003
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Der mündige Patient ist ein Phantom

Politik, Kassen und Ärzte wollen ihn: den mündigen Patienten. Doch Linus S. Geisler warnt vor überzogenen Vorstellungen. Denn für den Mediziner kann es bei Erkrankungen keine absolute Autonomie geben. Grund: Kranke Menschen brauchen kompetente Unterstützung.
George Bernard Shaw bewies Menschenkenntnis als er schrieb, jeder Beruf sei eine Verschwörung gegen den Laien. Zu diesen Verschwörungen zählt auch der Versuch, kranke Menschen zu mündigen Patienten umzudeuten.

Die Mündigkeitsmetapher möglichst hoch zu halten, ist verlockend und süß. Sie verspricht so vieles: Symmetrie zwischen Arzt und Patient, Überwindung eines überholten Paternalismus, Wahlfreiheit und Selbstbestimmung ohne Grenzen, den Patienten als Co-Produzenten seiner Gesundheit, die ultimative Emanzipation des kranken Menschen. Und am Ende wird alles sogar noch kostengünstiger.

Die Verwechslung von mündigem Bürger und mündigem Patienten ist jedoch fatal. Ersterer steht für das Idealbild des Menschen, der zu eigener Urteilsbildung und autonomem Handeln befähigt ist, letzterer ist zu allererst krank und leidend. Es gehört zu den Wesensmerkmalen von Krankheit, nahezu regelhaft die Fähigkeit zur Selbstbestimmung einzuschränken und zwar umso mehr, je belastender das Kranksein ist. Insofern ist der mündige Patient schon vom Ansatz her ein Widerspruch in sich selbst.

Patientenautonomie als Grundlage von Mündigkeit kann als ein System sich gegenseitig beeinflussender Größen verstanden werden: körperliche und psychische Integrität sowie intakte kognitive Fähigkeiten. Jede Einschränkung einer dieser Komponenten schränkt die Selbstbestimmungsfähigkeit ein. Gefragt ist dann nicht nur der Respekt vor der Autonomie des Kranken, sondern auch der fürsorgliche Umgang mit ihm. Das sind die Einwände gegen einen überzogenen Mündigkeitsanspruch.

Auf dem Weg zur Mündigkeit lauern viele falsche Vorstellungen. Eine beliebte ist die Verwechslung von Informiertsein und Mündigkeit. Die Gleichung: Je höher der Wissensstand, desto mündiger der Mensch ist eine Simplifizierung der Zusammenhänge. Der informierte Internetsurfer mit unsortierten medizinischen Wissensfragmenten steht seiner Entscheidungsfähigkeit häufig selbst im Weg. Andererseits kann ein gereiftes Nicht-Wissen-Wollen, beispielsweise im Rahmen der genetischen Diagnostik, Ausdruck eines besonders ausgeprägten Selbstbestimmungswillens sein. Informiert zu sein bedeutet für den Patienten noch lange nicht die Befähigung zur bestmöglichen Entscheidung. Hier sind andere Entscheidungsprozesse vonnöten. So versetzt zum Beispiel das in den USA favorisierte "Shared Decision Making"-Modell in einem schrittweisen Informations-, Diskurs- und Vertrauensbildungsprozess Patient und Arzt in die Lage, gemeinsame Therapieziele zu definieren und zu erreichen. Schließlich: Jeder sachlich noch so korrekten Information des Patienten stehen die individuelle Selbstwahrnehmung und Selbstauslegung seiner Krankheit gegenüber. Eine nachhaltige Therapie ist ohne eine Synopse beider Wirklichkeiten kaum möglich.

Mündigkeit ist eine janusköpfige Eigenschaft: Sie soll den gut informierten Patienten befähigen, in einer Situation, in der es um seine Gesundheit oder gar um sein Leben geht, wohlabgewogene medizinische Entscheidungen zu treffen. Doch sie entlässt ihn zugleich aus der ärztlichen Verantwortung. Mündigkeit als Verschiebebahnhof für Verantwortlichkeiten? Der "informed consent" regelt zwar die rechtliche Seite, aber er ist eher ein Vertrag, als Ausdruck von Vertrauen zum Therapeuten. Ist Mündigkeit vielleicht nur ein Beschwichtigungsplacebo für die unterschiedlichen Ängste der Beteiligten?

Die Mündigkeitsmetapher verdeckt möglicherweise noch ganz andere Intentionen: die schleichende Rückverlagerung von Krankheitsrisiken in die private Verantwortung des Patienten, gegen die er sich nur durch "überirdische" Gesundheitsdisziplin erwehren könnte. Leistungskürzungen, die Wahlfreiheit vorspiegeln, kaschierte Rationierung, die sich als Eigenverantwortlichkeit ausgibt, nüchterne Versicherungsmathematik, die Gerechtigkeit vorgaukelt.

Ohne Frage: Anerkennung und Förderung der Patientenautonomie sind Grundelemente ärztlichen Handelns. Aber sie lassen sich nicht politisch verordnen. Patientenautonomie entwickelt sich zu allererst im Umgang mit dialogfähigen und empathischen Ärzten sowie aus der Gewissheit, als Kranker ernst genommen zu werden. Gesundheitsreformen ohne Veränderung der ärztlichen Ausbildung sind Reformen nur an den Gliedern, nicht aber am Haupt. Reformen, die mit Phantomen operieren, geraten zwangsläufig selbst zum Phantom.

Professor Dr. med. Linus S. Geisler ist Internist und Mitglied der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" des Bundestages.


Geisler, Linus S.: Der mündige Patient ist ein Phantom. AOK-Forum "Gesundheit und Gesellschaft", Ausgabe 9/2003, 6. Jahrgang, S. 3
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2003/09gg-phantom.html

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