Linus S. Geisler: Das Menschenbild
in der modernen Medizin. Festvortrag anlässlich 75 Jahre Deutsches
Hygiene Museum Dresden. Dresden, 18. Mai 2005.
Das Menschenbild in der modernen Medizin
Linus S. Geisler
Ein Insel-Traum
Tropisch-maritim ist das
Klima der Fiji-Inseln. Die größeren Inseln sind von jungen Vulkankegeln
gekrönt. Die flachen Küstenräume werden von Mangrovenwäldern
gesäumt. Eingestreut zwischen den Inseln finden sich im sonnendurchfluteten
tiefblauen Meer zahllose Korallenriffe.
Was die Inseln besonders
anziehend macht, für Abenteurer, Touristen und Künstler sind
die Menschen. Die Mädchen und jungen Frauen sind anmutig und wohlgestaltet.
Eben bei diesen Mädchen
und Frauen wurde seit 1995 ein rasanter Anstieg zuvor unbekannter Krankheitsbilder
beobachtet, nämlich Magersucht und Bulimie. Binnen drei Jahren litten
15 Prozent der Mädchen an ausgeprägten Ess-Störungen. Die
Erklärung des Phänomens war unschwer auszumachen. Die Ess-Störungen
begannen sich auszubreiten, nachdem ein US-amerikanischer Fernsehkanal
auf Sendung gegangen war. Der Export von Körperhass durch Bilder,
die eine Pseudo-Ästhetik aufbauen, traf auf Menschen, hier insbesondere
Frauen, die sich ihnen kaum zur Wehr setzen konnten [1].
Die Neuerfindung des menschlichen
Körpers durch die moderne Medizin hatte so die kleine paradiesische
Inselgruppe am südlichen Wendekreis erreicht.
Imperativ der Menschenbilder
Menschenbilder sind nicht
bloße Beschreibungen des Menschen aus einer bestimmten Perspektive.
Sind nicht nur deskriptiv, sondern normativ und damit in hohem Maße
handlungsanleitend. Menschenbilder können nicht eingerahmt und in
der guten Stube einer Ideologie als stille Dekoration an die Wand gehängt
werden. Früher oder später entfalten sie Wirkung im öffentlichen
Raum. Ihr appellativer Charakter macht ihre wahre Bedeutung aus.
So taucht plötzlich
in der Diskussion um Gentechnik der Begriff des "technologischen Imperativ"
auf [2]. Offensichtlich soll er den Kantschen "kategorischen Imperativ"
ablösen, wonach bekanntlich der Mensch nach derjenigen Maxime handeln
soll, von der er sich wünscht, dass sie "ein allgemeines Gesetz" werde.
Die Risiken neuer Methoden
und Techniken des Fortschritts sind viel mehr an den Menschenbildern
zu messen, die sie entwerfen, als an ihren praktischen Effekten. Aus gutem
Grund fragte Hans Jonas in seinen Überlegungen zu einer Ethik der
Verantwortung: "Wer werden die "Bild"-Macher sein" und nach wessen "Ebenbild"
werden sie verfahren? Und für den New Yorker Philosophen Hartmut Rosa
liegt das Bedrohliche der Biowissenschaften in der Veränderung der
Bilder, in deren Licht der Mensch, das "selbstinterpretierende Tier", seine
Welt deutet [3 ].
Technikfolgenabschätzung
ist wichtig, Anthropologiefolgenabschätzung ist überlebenswichtig.
Hierin liegt der Grund, sich mit dem "Menschenbild in der modernen Medizin"
näher zu befassen.
Jahrmarkt der Menschenbilder
Doch die Themenstellung greift
zu kurz. Die moderne Medizin verfügt über kein konsistentes
Menschenbild. Was sich findet, ist das konkurrierende Ringen verschiedenster
Disziplinen um die Deutungsmacht über den Menschen.
Dieser Wettlauf um die durchsetzungsfähigste
Auslegung des Homo sapiens spiegelt sich in einem Jahrmarkt von anthropologischen
Projektionen wider, auf dem auch die Option gehandelt wird, der Mensch,
dessen Bild zu zeichnen ist, sei erst neu zu erschaffen. Biomedizin, Gentechnologie,
Hirnforschung, Reproduktionsmedizin, Neurotheologie und Robotik sind bemüht,
mit fachbegrenzten Instrumenten Teilaspekte des Menschen als dessen Gesamtbild
zu präsentieren.
Was herauskommt ist ein Phantom
ohne Fleisch und Blut: der fragmentierte Mensch. An ihm bewahrheitet sich:
"Man kann den Menschen nicht teilen, ohne ihn zu töten." [4] Das Subjekt
verschwindet mehr und mehr. Es wird ersetzt durch "Schauplätze" auf
denen Glaubenssätze mit Allgemeingültigkeitsanspruch feilgeboten
werden.
Diese Herangehensweise an
den Menschen erinnert an die Methode der so genannten "Explosionszeichnungen"
in der Technik. Dargestellt werden die gesamten Einzelteile eines Gerätes,
die dem Betrachter, wie von einer Explosion zerlegt, entgegen springen.
Das Komplettgerät ist oft nur umrisshaft im Hintergrund zu erkennen.
Der Prozess der Aufsplitterung
der Menschenbilder begann schleichend schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts.
1928 schrieb Max Scheler: "Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften,
die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdeckt ... weit mehr das
Wesen des Menschen, als dass sie es erleuchtet." [5] Und Scheler erkannte,
dass sein Zeitalter das erste war, "in dem sich der Mensch völlig
und restlos problematisch geworden ist, indem er nicht mehr weiß,
was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß".
Man ist geneigt vom Heraufziehen einer anthropologischen Blendung zu sprechen.
In einer Zeit des ausufernden
Unabhängigkeitstriebes und der schrankenlosen Individualisierung und
seit, so der Soziologe Peter Gross, "Gott im Sterben" liegt, setzt das
Ich zu einem grandiosen Höhenflug an. Die permanente Ich-Jagd des
Menschen der Postmoderne verstärkt aber eher die Brüchigkeit
des Ichs und verhindert ein gelingendes Selbstbild. In seinem Buch Ich-Jagd
schreibt Peter Gross [6]: "Man will sich finden. Man macht sich
selber zur Aufgabe ... Aber das Ich ist bei der Anstrengung, es selbst
zu werden, sich selber abhanden gekommen. Sich selbst verausgabend, erzeugt
es eine Bilderflut von sich, strampelt sich ab in Selbstbeschreibungen
und jagt den selbst entworfenen Möglichkeiten nach. Was ist das Ich
im 21. Jahrhundert?"
Die Schwierigkeit ein konsistentes
Menschenbild zu entwerfen, ist sicher also kein spezifisches Problem der
Medizin, sondern ein generelles Phänomen dieses Zeitalters.
Bilderwelten
Die Beantwortung der Frage:
Was ist der Mensch? fiel bis zum 16. Jahrhundert ausschließlich an
die Theologie und Philosophie. Eine quasi "Kopernikanische Wende" in den
Wissenschaften etwa im 16. und 17. Jahrhundert führte zu einer radikalen
Umkehrung des historischen Abhängigkeitsverhältnisses der Naturwissenschaften
von Philosophie und Theologie und damit gleichzeitig zum Sturz eines anthropozentrischen
Menschenbildes.
Die Biowissenschaften zeigen
ein Menschenbild, in dem der Mensch als ein Geschöpf mit freiem Willen
und moralischer Verantwortung nicht mehr zu halten ist. In diesen Bildern
der Naturwissenschaften ist der Menschen nur noch unvollständig auszumachen.
Gerade sein innerstes Wesen suchen wir bei aller Anstrengung vergeblich.
Es erscheint wie ausgespart.
Die Geburt des modernen Körpers
als Objekt von Medizin und Biologie, seine Versachlichung als anatomisches
Gebilde, als mechanistische Konstruktion bis zur heutigen Auffassung als
biochemische Maschine, vollzieht sich im 16. Jahrhundert.
Im gleichen Jahr 1543, in
dem Kopernikus sein Werk "De revolutionibus orbium coelestium" veröffentlicht,
legt Vesalius sein Werk "De humanis corpori fabrica" vor. Es sind anatomische
Darstellungen des Menschen von höchster Detailtreue. Sie ermöglichten
die präparatorischen Schauspiele in den anatomischen Theatern von
Padua bis Leiden, oft vor illustrem Publikum von hohem Rang, und fokussierten
das Interesse auf die Körperlichkeit des Menschen.
Aber die Vesalschen Abbildungen
des menschlichen Körpers haben bereits den kalten Blick der Vivisektion.
Die gehäuteten Objekte sind Projektionen einer herzlosen Schau. Der
aufschneidbare Körper wird separiert von den "höheren" Eigenschaften
des Geistes, er gilt jetzt als "niedrig" und steht damit zur freien Verfügung.
[7 ]
Jenseits der Therapie
Vor zwei Jahren legte das
oberste bioethische Gremium des amerikanischen Präsidenten, das President's
Council on Bioethics, G. W. Bush einen bemerkenswerten Bericht vor.
Darin befassen sich Bushs Berater nicht mit trivialen Fragen der medizinischen
Therapie. Der Titel des Berichtes macht die Stoßrichtung der neuen
Forschungsaktivitäten deutlich: "Beyond Therapy" bedeutet,
dass die Forschung sich anschickt das vergleichsweise niedrige Handwerk
des Therapierens zu verlassen [8]. Und der Untertitel "Biotechnology
and the Pursuit of Happiness", das in der amerikanischen Verfassung
verankerte Streben nach Glück, zeigt, wohin die Biotechnik
aufbricht: zur globalen Glücks-Jagd.
Die
zu erobernden Claims werden in dem Report systematisch abgesteckt:
• |
Optimierte Kinder (Better
Children) |
• |
Überragende Leistungsfähigkeit
(Superior Performance) |
• |
Alterslose Körper (Ageless
Bodies) |
• |
Glückliche Seelen (Happy
Souls) |
Schönheit, Stärke,
überragende Intelligenz, permanente Hochstimmung und Kinder nach Maß
machen das immerwährende Glück aus. In-vitro-Befruchtung, Embryonenselektion,
maßgeschneiderte Psychodrogen, Botox-Injektionen, Produkte der Gentechnik
und Eingriffe in die Keimbahn, also in das befruchtete Ei, bilden das Rüstzeug.
Selbst verkorkste Biographien können – in Grenzen – korrigiert werden:
beispielsweise durch Medikamente, die die Erinnerungen positiver tönen.
Das neue Arztbild folgt jetzt
einer einzigen Leitdevise: Enhancement – Steigerung ohne Grenzen.
Der lupenreine Fuß
oder "dirty medicine"
In dem Magazin VOGUE erschien
im März 2003 eine Story mit dem Titel "Der lupenreine Fuß" (the
flawless foot), basierend auf Interviews mit New Yorker Fußspezialisten.
Deren chirurgisches Angebot umfasste mittlerweile auch die operative Umformung
der Füße von Frauen, um ihnen zu ermöglichen Designerschuhe
zu tragen, einfach um darin gut auszusehen. Solche Schuhe, erklärte
ein Fußspezialist, benötigen "Designer-Füße". Bis
vor kurzem hätten ihn Patientinnen aufgesucht, um vor allem von schmerzhaften
Fußdeformitäten befreit zu werden. Jetzt kämen sie in die
Sprechstunde, zögen ein paar heiße Stilettos aus der Tasche
und sagten: "Die will ich tragen!"
Als "dirty medicine" bezeichnet
Arthur W. Franck von der Universität Calgary diese Art "neo-liberaler"
Medizin. [9]
Styling, Piercing, Tattooing,
Bodybuilding, Lifting, vergrößern, verkleinern, absaugen, straffen.
Nach einer Studie der Universität Koblenz-Landau würde sich jeder
fünfte Deutsche für die Schönheit unters Messer legen. Unter
Frauen ist sogar jede zweite nicht abgeneigt. Auch Männer entwickeln
zunehmend ein kosmetisches und "prothetisches Bewusstsein". Inzwischen
sind etwa 15 Prozent der Schönheitsoperierten männlich [10].
Und die Patienten werden immer jünger.
Bei all dem herrscht eine
auffallende Polarität zwischen Körpervergessenheit und
Körperversessenheit.
Körpervergessenheit
beispielsweise durch Raubbau in Beruf, Sport, Freizeit oder auch durch
Instrumentalisierung frühen menschlichen Lebens zu Zwecken der Forschung.
Körperversessenheit,
reichend über Körperkult, Beauty- und Wellnesswelle und Schönheitschirurgie
bis zur gentechnischen Optimierung des Körpers. Allein für den
Beauty- und Wellness-Bereich werden in Deutschland jährlich zweistellige
Milliardenbeträge ausgegeben [11].
Bis
zu 600 000 kosmetische Operationen werden jährlich in Deutschland
durchgeführt. Tendenz: steigend [12]. Hinzu kommen 400 000 kleine
"Lunchtime-Eingriffe" in der Mittagspause, wie etwa das Aufspritzen der
Lippen. 30 000 bis 50 000 Deutsche werden pro Jahr mit Botox-Injektionen
zur Faltenglättung behandelt, in den USA 2,8 Millionen. Von dort schwappt
die Welle der Botox-Partys herüber, auf denen sich Freundinnen im
Wohnzimmer bei Sekt und Fingerfood zu Sonderpreisen Stiche mit Botulinustoxin,
dem stärksten Nervengift der Natur, setzen lassen. Der Deal ist klar:
statt Fältchen gefrorene Mimik. Botox-Injektionen gibt es inzwischen
auch für Hunde.
Offensichtlich gebiert die
Leere im Zentrum die Prächtigkeit der Peripherie. Die Versuchung,
Probleme in der Tiefe an der Oberfläche zu lösen, scheint unwiderstehlich.
Der Leib, die körperliche
Präsentation des Ichs, gerät außer Kontrolle. Das Bild
vom eigenen Körper verzerrt sich unter dem Einfluss von Medizin und
Medien. Die gewaltsam in Szene gesetzten Körperideale der Gesellschaft
orientieren sich an superdünnen Models oder Schauspielerinnen. Sie
prägen das weibliche Körperideal – in einer Gesellschaft, die
ständig übergewichtiger wird. Hier haben schwere Körperschemastörungen,
die in Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie einmünden, eine
ihrer Wurzeln. Rund 700 000 Menschen, vor allem Frauen, zunehmend aber
auch Männer, leiden in Deutschland an diesen lebensbedrohlichen Krankheitsbildern
mit schlechter Prognose.
Im Zuge eines übersteigerten
Körperkults greifen Dysmorphophobien, d.h. die krankhafte Unzufriedenheit
mit dem eigenen Körper, in epidemischem Ausmaß um sich. Meist
betrifft das massiv verzerrte Körperbild das Gesicht, bei Frauen auch
Brüste und Beine, bei Männern Körpergröße oder
Genitalien. Dieser sog. Thersites-Komplex – Thersites soll der hässlichste
Grieche gewesen sein – führt die Patienten immer wieder zum plastischen
Chirurgen. Der Körper gerät zur ewigen Baustelle ohne Richtfest,
Zutritt für Kinder und Jugendliche nicht mehr verboten.
Selbst die US-Army bietet
ihren Angehörigen das ganze Repertoire der Schönheitschirurgie
als Belohnung für die Strapazen in Afghanistan oder im Irak kostenlos
an: zwischen 2000 und 2003 alleine 496 Brustvergrößerungen.
Allerdings, räumte eine Armeesprecherin ein, ein gelungener kosmetischer
Eingriff sei zwar ein schöner Nebeneffekt für eine Soldatin.
Das Hauptziel aber sei, den eigenen Operateuren kontinuierliche Übungsmöglichkeiten
für den Ernstfall rekonstruktiver Eingriffe nach entstellenden Verwundungen
zu bieten.
Die Neuerfindung des Körpers
–
das Verschwinden des Leibes
Adorno und Horkheimer haben
das "Interesse am Körper" als "todbringend" bezeichnet. Der Umgang
des modernen Menschen mit seinem Körper erschien ihnen als gestört,
denn der Mensch gehe mit seinen Körperteilen um, als wären sie
bereits Prothesen [13]. Sie schrieben: "In der Selbsterniedrigung des Menschen
zum corpus rächt sich die Natur dafür, dass der Mensch sie zum
Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial gemacht hat".
Die Transplantationsmedizin
steht paradigmatisch für diese Neuerfindung und -nutzung des Körpers.
Sie ist Extremmedizin, denn in ihr wird eine elementar neue Dimension eröffnet:
Heilung oder Linderung sind im Körper eines Anderen lokalisiert
[14]. Auch hier bestätigt sich, dass Ausübung von Macht, wie
Canetti schreibt, stets Macht über Fleisch ist [15].
Ohne Änderung des Menschenbildes
ist ein reibungsloser Vollzug des Transplantationsystems nicht machbar
[16 ].
Neue Körperkonzepte sind zu entwerfen, die das Tabuisierte zulassen.
Das körperliche Dasein wird umdefiniert in eine bloße Ansammlung
von Organen, in der das Ich für eine begrenzte Zeit seinen Platz findet.
Die Vorstellung von der Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit des Körpers
und seiner Organe wird aufgegeben. Neue Verfügungsrechte sind auszuhandeln,
denn die körperlichen Grenzverletzungen zwischen Spender und Empfänger
bedürfen der Legalisierung [17].
Transplantationsmedizin versucht
die Endlichkeit des Menschen zu verdrängen. Doch sie kann nicht leugnen,
dass Endlichkeit eine anthropologische Konstante ist. In der medizinischen
Ethik liefert aber gerade die Einsicht in die existentiale Endlichkeit
des Menschen ein hilfreiches Korrektiv zur bisweilen absolut gesetzten
ärztlichen Pflicht, zu helfen und zu heilen [18].
Die Trivialisierung und Profanisierung
des Systems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten [19]. Diese
beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe. Das Diktat der Anspruchserfüllung
ebnet die Wege zur Ökonomisierung, in der nur noch Marktmechanismen
zählen. Scheinbar folgerichtig propagieren deutsche Wirtschaftswissenschaftler
wie Peter Oberender monetäre Anreize auf einem Markt für Organtransplantate
als legale Lösung des Problems "Organmangel" und behaupten, dass alle
Beteiligten dabei gewinnen [20]. Philosophen wie Hartmut Kliemt stellen
die Frage: "Warum darf ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" [21]
Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker macht sich
für einen regulierten Organhandel, auch in der westlichen Welt, stark.
Deutsche Gesundheitsökonomen diskutieren ernsthaft weltweite Spotmärkte
für Organe.
Kopfverpflanzung
Makabre Krönung transplantationschirugischer
Visionen sind die Phantasien des amerikanischen Hirnchirurgen Dr. Robert
White, Mitglied der bioethischen Kommission des Vatikans. White träumt
von der Verpflanzung menschlicher Köpfe auf den abgetrennten Körper
von Hirntoten. Bei Affen hat er bereits ganze Köpfe bzw. Körper
transplantiert [22]. Wer genau überlebt da? Ein hirntoter Körper
mit aufgepfropftem Bewusstsein oder ein Gehirn, durch den Körper eines
Hirntoten in Betrieb gehalten? White verkündet mit sakral-pathetischen
Worten: "Und ich sage: Fürchtete euch nicht, ihr werdet einen neuen
Körper von mir erhalten" [23].
Kaleidoskop der Menschenbilder
Die Menschenbilder, die heute
in der Sprache von Biomedizin, Neurologie und Evolutionsbiologie ausbuchstabiert
werden, erweisen sich als gewaltige perspektivische Verkürzungen,
die weit mehr ausblenden, als sie beleuchten.
Für den Genetiker Richard
Dawkins sind Menschen nur "Überlebensmaschinen – Roboter, blind programmiert
zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt
werden." [24]
Der französische Biochemiker
und Nobelpreisträger Jacques Monod weist dem Menschen, diesem "sonderbaren
Tier" ein trostloses Szenario zu: Dieser Mensch erkennt "... seine totale
Verlassenheit und seine radikale Fremdheit" in dieser Welt. Er hat "...
seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums ..., das für
seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden
oder Verbrechen ... Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo
geschrieben." [25] Für Monod sind Lebewesen "chemische Maschinen,
der Organismus ist eine Maschine, die sich selbst aufbaut."
Francis Crick, gemeinsam
mit James Watson Erstbeschreiber der räumlichen Struktur der DNA,
ordnet den Menschen in das Tierreich ein: "Die menschliche Natur wird als
einzigartig und heilig angesehen ... Doch soweit die Wissenschaft das sagen
kann, ist der Homo sapiens ein Vertreter des Tierreichs." [26] Für
Crick speist sich "... das reiche menschliche Repertoire an Gedanken, Gefühlen,
Sehnsüchten und Hoffnungen aus elektrochemischen Hirnprozessen" und
"nicht aus einer immateriellen Seele".
Hubert Markl, Ex-Präsident
der Max-Planck-Gesellschaft meint, dass der "Mensch" nichts anderes sei
als "ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff von Menschen ... und keine
rein biologische Tatsache, ... eine kulturell-sozial begründete Attribution".
Dahinter steht ein weiter Spielraum der Zuschreibung von Würde.
Zu den Molekularbiologen
gesellen sich Hirnforscher, für die der freie Wille nicht mehr ist
als "eine nützliche Illusion" (Gerhard Roth) und deren Menschenbild
"... den Himmel leer fegt von lenkenden Göttern ..." (Wolf Singer
[27]).
Der Mensch in seiner frühesten
Erscheinungsform, als Retortenembryo vor der Einpflanzung in einen Mutterleib,
geriet besonders in der Hochphase um die Stammzellen-Gesetzgebung, in ein
Kaleidoskop der Deutungen. Der Blick auf ihn erinnerte an jenen Blick auf
den Menschen, von dem Primo Levi in seinem autobiografischen Auschwitz-Bericht
schrieb, dieser sei "nicht von der Art, wie ein Mensch einen anderen Menschen
anschaut" [28].
Die Entwicklung des Menschen
ist durch Identität und Kontinuität von der Zeugung bis zum Tod
gekennzeichnet. Die befruchtete Eizelle ist kein anderer Mensch, als der,
der später geboren wird. Der Edinburgher Stammzellforscher Austin
Smith artikuliert seine Sicht früher menschlicher Embryonen allerdings
ganz anders: "... es ist eindeutig nicht dasselbe wie du und ich. Es hat
keine Nase, kein Herz, es kann nicht fühlen. Niemand weiß, ob
es sich je zu menschlichem Leben entwickeln kann. Es ist nicht nichts.
Aber es nicht vergleichbar mit dem, was wir unter menschlichem Leben verstehen."
Die metaphorische Verbiegung
erfährt noch eine letzte Steigerung, wenn der Embryo schließlich
nur noch als "symbol of future human life" [29], als "Symbol künftigen
menschlichen Lebens" bezeichnet wird.
Produzieren, Selektieren,
Töten
Die Macht von Menschenbildern
ist exemplarisch an der Entwicklung der Reproduktionsmedizin abzulesen.
Als 1978 der erste in der Retorte gezeugte Mensch, Louise Brown, geboren
wurde, galt dies als ein an Wunder grenzendes biologisches Ereignis.
In nicht ganz drei Jahrzehnten
hat sich die Fortpflanzungsmedizin aus einem frauenärztlichen Randgebiet
zu einer sich verselbständigenden Reproduktionsmaschinerie entwickelt.
Weltweit verdanken jährlich mehrere 10 000 Neugeborene reproduktionsmedizinischen
Maßnahmen ihr Leben.
Diesen Aktivitäten der
Reproduktionszentren steht allerdings mittlerweile das neue "Ideal der
freiwilligen Kinderlosigkeit" gegenüber (Studie des Bundesinstituts
für Bevölkerungsforschung BIB in Wiesbaden) [30].
Die Techniken der Fortpflanzungsmedizin
beinhalten inzwischen die assistierte Erzeugung des Menschen ebenso wie
seine Verhinderung oder seine Tötung. Töten hat begonnen, als
therapeutischer Akt in die Geburtshilfe einzuziehen, einer Disziplin, die
sich seit Jahrhunderten der Aufgabe verschrieben hatte, dem Menschen den
ersten Schritt in das Leben zu erleichtern. Die Reproduktionsmedizin beschafft
das Wunschkind, gleichgültig ob dahinter das Leiden an der tatsächlichen
oder vermeintlichen Unfruchtbarkeit oder neurotisch-verbissene Besitzansprüche
stehen, und sie selektioniert mit gleicher Routine das vermeintliche Horrorkind.
Bei der Präimplantationsdiagnostik
(PID) wird mit den Keimzellen genetisch belasteter, jedoch fruchtbarer
Paare eine Reagenzglasbefruchtung durchgeführt. Ziel ist es, nur genetisch
"gesunde" Embryonen in den mütterlichen Uterus einzusetzen. Embryonen,
die den gesuchten genetischen Defekt aufweisen, werden "verworfen". Willkommene
Embryonen "geerntet", die anderen sind reproduktives Fallobst, das dem
Kontingent der "Forschungsembryonen" zum alsbaldigen Verbrauch zugewiesen
wird oder zu Zehntausenden als "souls on ice", als "Gefrierfachwaisen"
in Tiefkühltruhen bis zum Tag ihrer Verwertung oder Verwerfung lagert.
Mehr und mehr wird PID mittlerweile
zur Selektion von "qualitativ hochwertigen" Embryonen und zur Geschlechtsauswahl
eingesetzt. Es ist belegt dass auf diese Weise erzeugte, vollkommen gesunde
Kinder, die jedoch das "falsche" Geschlecht aufwiesen, abgetrieben werden,
um die Harmonie des "Geschwisterdesigns" nicht zu trüben. [31]
Mutterlose Gesellschaft?
Die Neubesetzung von Forschungsfeldern
in der Fortpflanzungsmedizin geht weiter. Im Science-Fiction-Klassiker
"Matrix" schwimmt Homo Sapiens in der chemischen Lebensbrühe einer
künstlichen High-Tech-Gebärmutter. Unabhängig von einer
Mutter kontrolliert die Maschine die Technologie der Aufzucht.
Das
Projekt des künstlichen Uterus (artificial womb) ist bereits ins Visier
reproduktionsmedizinischer Experimentatoren geraten. Der Ansatz erscheint
zunächst ethisch vertretbar: die Rettung von Föten, deren Mutter
sich beispielsweise in einer intensivmedizinischen Extremsituation befindet.
In Tokio forscht ein Team des Gynäkologen Yosinori Kuwabara seit zehn
Jahren an einem künstlichen Uterus – nicht ohne Erfolg. In einem Fruchtwassercocktail
schwimmen fetale Lämmer, angeschlossen an eine künstliche Plazenta.
Der Rekord: drei Wochen Überleben im neugeschaffenen fetalen Universum.
Die Vision vom künstlichen
Uterus hat viele Reize: von der Last der Schwangerschaft freigestellte
berufstätige Frauen, ein durchgängiger Zugriff auf den Embryo
ohne die biologische Barriere der Mutter, der Ersatz für den Mutterersatz
Leihmutter. Matrix statt Mater? Aufbruch in die mutterlose Gesellschaft?
Das Projekt des künstlichen
Uterus, also das technische Outsourcing der Schwangerschaft, könnte
in absehbarer Zeit eine völlig neue Bedeutung erhalten. Vor dem Hintergrund
einer überalterten Welt und einer sich abzeichnenden Bevölkerungsimplosion,
so der amerikanische Soziologie Stanley Kurtz (Hoover Institution, Universität
Stanford), könnte bald nicht die Erzeugung von Supermenschen die wichtigste
Herausforderung der Zukunft sein, "... sondern die Entwicklung einer künstlichen
Gebärmutter." [32]
Methusalem-Komplott?
Der größten medizinischen
Herausforderung des 21. Jahrhunderts, dem demographischen Wandel stellt
sich die moderne Medizin hingegen nur halbherzig. Erweisen sich die Prognosen
der Demographen als richtig, wird die Erde noch in diesem Jahrhundert,
"wie ein riesiges Altersheim durchs Weltall kreisen." [33]
Obwohl die Zahl der über
80jährigen in den letzten 50 Jahren um 1000 Prozent zugenommen hat,
gibt es in Deutschland nur vier Lehrstühle für Geriatrie. Das
Feld der Altersforschung galt noch bis vor kurzem als der "Felsen, an dem
Forscher ihre Karrieren zerschmetterten" oder schlicht als Nachttopf-Forschung
[34 ].
Kaum ein heute praktizierender Arzt hat sich während seines Studiums
mit der Behandlung betagter Patienten befasst, die das Gros seiner Klientel
stellt. Sein Blick auf alte Menschen ist, ähnlich wie der auf Behinderte,
meist durch die Wahrnehmung von Defekten bestimmt.
Der Zukunftsblick auf den
alten Menschen ist von Verunsicherungen bestimmt: auf der einen Seite eine
bedrohliche, dahindämmernde Masse Demenzkranker, deren Versorgung
Unsummen verschlingt, auf der anderen Seite eine nicht minder bedrohliche
"Gerontokratie" biologisch fitter, ewig gutgelaunter Narzissten.
An Verlegenheitslösungen,
wie Pflegerobotern, die zuverlässig, stets guter Laune und ohne Aggressionen
gegen ihre Objekte, die dann hoffnungslos überforderte Altenpflege
entlasten sollen (Care-O-Bot) wird gearbeitet [35]. Natürlich gibt
es einflussreiche Strömungen gegen Altern und Sterben wie z.B. die
American Academy of Anti-Aging Medicine, die der "Todeskultur der Gerontologen"
den Kampf angesagt hat [36]. Ein Europäisches Kryonik-Projekt zur
"Lebensverlängerung" befindet sich in Planung [37 ]
und es existiert die Immortalitäts-Technosophie des Transhumanismus
[38 ].
Als anderer Ansatz wird
die gentechnische Manipulation des subjektiven Zeitempfindens diskutiert,
die eine quasi intrinsische Unsterblichkeit simulieren könnte (Freeman
Dyson, theoretischer Physiker) [39].
Obwohl die Hirnforschung
als eines ihrer erstaunlichsten Ergebnisse herausgefunden hat, dass die
Adaptations- und Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns im Alter weit
weniger abnimmt als bisher vermutet, kann angesichts der z.T. skandalösen
Verhältnisse in vielen Pflege- und Altenheimen von einer praktischen
Umsetzung dieser Erkenntnisse nicht die Rede sein [40 ].
Konzepte, wie Medizin und
Gesellschaft den angemessenen Wünschen und Bedürfnissen des extrem
heterogenen Kollektivs der alten Menschen gerecht werden könnten sind
nicht in Sicht. Zumindest nicht als systemischer und realistischer Entwurf.
Nach oben offener Wahn
Der optimierte Mensch,
der Neue Mensch, sollen wir uns auf ihn freuen? Wird der Mensch
von heute, dieses Halbfabrikat, wie Trotzki ihn nannte, dieser widerspruchsvolle
und unharmonische Mensch überwunden sein, abgelöst von einer
neuen und glücklichen Menschheit?
Der Neue Mensch, ausgestattet
mit den Potenzen der Selbstermächtigung, der Selbstgestaltung und
damit auch der Selbstvernichtung wird er schließlich nur noch sein,
was er buchstäblich aus sich macht, besser gesagt, was andere
aus ihm machen?
Denn nach wie vor gilt, was
C.S. Lewis schon vor mehr als einem halben Jahrhundert in seinem Buch The
Abolition of Man [41], der Abschaffung des Menschen, schrieb: "Die
Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet ... die
Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt."
Vielleicht wird schon in
Kürze ein Forschungszentrum des Pentagon, die DARPA (Defense Advanced
Research Projects Agency), mittels "Military Bioengineering", die ersten
Exemplare des Neuen Menschen präsentieren – ganz in der Tradition
der US-amerikanischen Vorreiterrolle. Ausgehend von der Erkenntnis, dass
das schwächste System in einem Krieg der Mensch ist, plant das Pentagon
aus Soldaten mit Hilfe von Drogen, genetischer Manipulation und neuronalen
Mikrochips ideale Kampfmaschinen zu machen: Schmerzunempfindlich, stressfrei
und nimmermüde.
Bilder vom Menschen, die
perspektivisch auf eine illusionäre, nach oben offene Skala des Enhancement
ausgerichtet sind, drohen, sich schließlich in einer unerreichbaren
Ferne zu verlieren. Ihr Entwurf kann dann vom Ansatz her keine noch so
extreme Entwicklung ausschließen. Damit entziehen sich diese Bilder
geschickt einer ethischen Bewertung. Aber sie führen sich auch selbst
ad absurdum: Bilder, die das nicht mehr Imaginierbare abzubilden versuchen,
betreiben ihre eigene Entbildlichung.
Biologisch halten solche
Menschenbilder nicht einmal mehr vor der letzten, bisher als unüberschreitbar
geltenden Grenze, nämlich der Grenze des Menschen als Gattungswesen.
Der Mensch im Tier
Chimären-Forschung ist
einer der neuen Trends der Biotech-Revolution. Ihre Ursprünge reichen
in den USA bis 1988 zurück (Experimente von Irving Weissman). Weltweit
laufen Versuche, in denen die Zellen von Menschen und Tieren kombiniert
werden, um so genannte Chimären, Mischgeschöpfe, zu kreieren.
Wissenschaftler beginnen, sich über das letzte Tabu der natürlichen
Welt hinwegzusetzen: die Kreuzung von Mensch und Tier zur Erschaffung neuer
Mensch-Tier-Hybriden aller Art.
Die experimentellen Begehrlichkeiten
sind auch auf die Schaffung von Hybrid-Wesen, halb Mensch, halb Affe gerichtet.
Als besonders geeignete Kandidaten gelten die mit dem Menschen genetisch
eng verwandten Schimpansen. Biologische Hürden werden nicht als grundsätzliches
Problem gesehen. Eher noch der Verwendungszweck für die neuen Mischwesen,
die eine Intelligenz etwa vierjähriger Kinder erreichen könnten.
Welche juristischen und moralischen Kategorien sollen für sie gelten?
Stehen sie unter dem Schutz der Menschenrechte? Vielleicht wird eine Art
Menschlichkeitstest darüber entscheiden, wozu man sie am besten verwendet:
zu niedrigen Dienstleistungen, als humanoide Clowns oder für Zwecke
der Forschung [42].
Die Spekulationen reichen
noch weiter. Der Wissenschaftsautor Jamie Shreeve stellt die Frage nach
dem tieferen Sinn solcher Experimente. Vielleicht könnten uns solche
Hybridwesen in einer Art Zeichensprache bisher unbekannte und unerreichbare
Einblicke in die Innenwelt von Tieren geben. Shreeve fragt allerdings auch:
Was ist der Preis für dieses Wissen? [43]
Hier geht es nicht um Horrorszenarien
der SF-Literatur. Göttinger Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts
für biophysikalische Chemie haben vor kurzem menschliche embryonale
Stammzellen in das Gehirn von Affen gespritzt, zunächst mit dem Ziel,
die Dopamin-Produktion anzuregen. Die Primaten haben das Experiment nicht
überlebt, weil sie Tumoren bekamen. Die so behandelten Affen waren
zwar keine Chimären im biologischen Sinn, die angewandte Methode aber
ein erster Schritt in diese Richtung. [44]
Der fragmentierte Mensch
im Gesundheitssystem
Kehren wir zum Schluss zurück
in die Realität dessen, was sich als modernes Gesundheitssystem geriert.
Patienten sind in diesem
Gesundheitssystem auf den drei Ebenen, der Mikro-, Meso- und Makroebene,
in unterschiedlichen Rollen, sprich Bildern, repräsentiert:
-
Auf der Mikroebene als akut
oder chronisch Kranke, die eine wirksame Behandlung für ihre Erkrankung
suchen
-
Auf der Mesoebene als Versicherte,
die sich gegen das Risiko Krankheit und die damit entstehenden Kosten absichern
wollen bzw. müssen
-
Auf der Makroebene als Bürger,
die die Gewährleistung funktionierender Versorgungsstrukturen und
gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen erwarten.
Je nach dem Blickwinkel, unter
dem Menschen im Gesundheitssystem betrachtet werden, stehen medizinische
oder ethische, ökonomische oder demokratische Perspektiven im Vordergrund.
Die differierenden Bilder
vom kranken Menschen bestimmen auch die jeweilige Diktion. So ist nicht
mehr vom Patienten die Rede, sondern vom Kunden, von Leistungen statt von
Engagement, von Verträgen statt Vertrauen. Am Ende stehen sich "Health-Care-Consumers"
und "Leistungserbringer" in nüchternem Umgang gegenüber. Der
Patient als Kunde ist mit dem Arzt als Dienstleister konfrontiert. Die
Beziehung zwischen Arzt und Patient wird in jedem Sinne berechnender, häufig
gehen sie miteinander um wie misstrauische Geschäftpartner. Praxis
und Krankenhaus werden zum "Profit-Center".
Das Gesundheitssystem als
Markt, auf dem Patienten sich als Kunden verhalten sollen, erweist sich
als fragwürdiges Zerrbild. Kunden können Waren und Anbieter kritisch
vergleichen, ihre Entscheidung in Ruhe treffen, probeweise ein Produkt
testen, Garantieansprüche stellen und eventuell Entschädigung
einklagen. All dies trifft für den Patienten, vor allem den akut erkrankten,
nicht zu: er steht unter Zeitdruck, er wünscht sich keine kritische
sondern eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung, für ihn gilt
kein Testsieger im Spektrum der Anbieter, als Leidender ist seine Kompetenz
eingeschränkt und er kann die Ware Gesundheit nicht auf Probe mit
nach Hause nehmen und testen.
Der Trend zur Standardisierung
im Gesundheitswesen unter wachsendem ökonomischem Druck, verbunden
mit Sanktionen für ärztliche "Abweichler", gefährdet die
individuelle Therapie des Patienten. Über allem schwebt der fiktive
Entwurf des "Normpatienten", einer schrecklichen Figur, die es in der Welt
frei und verantwortungsvoll handelnder Ärzte nicht gibt.
Menschenbilder schlagen aber
auch auf die Betrachter zurück. Die Zahl beruflich frustrierter und
enttäuschter Ärzte war noch nie so groß wie heute. So widmete
sich ein Editorial des "British Medical Journal" vom April 2002 ausschließlich
dem weltweiten Phänomen der unglücklichen Ärzte ("unhappy
doctors"). Hohe Arbeitslast, unangemessene Bezahlung und ein kaum entrinnbares
Geflecht von Abhängigkeiten, Stressoren und Pressionen scheinen das
Problem jedoch nicht vollständig zu erklären. Die wohl stärkste
Tiefenwirkung geht vom anscheinend unwiederbringlichen Verlust früherer
ärztlicher Ideale aus [45 ].
Unglückliche Ärzte
aber können keine glücklichen Patienten haben. So schließt
sich ein fataler Zirkel.
Kein weißer Rauch
–
aber Hoffnungen?
Zu welcher Bilanz können
wir kommen?
Haben die alten Bilder der
Theologie und Philosophie endgültig ausgedient? Radikal hinweggefegt
vom Ikonoklasmus, vom Bildersturm der neuen Naturwissenschaften mit ihrem
"ozeanischen" Fortschritt?
Wird die Welt von gestern
mit ihren gerade noch überschaubaren Bildern vom Menschen einer Neuvermessung
unterworfen, die nun in ganz anderen Händen liegt?
Vor allem aber, wie muss
sich der Mensch in diesem neuen Weltenentwurf begreifen?
-
Als Blaupause seiner genetischen
Determinanten?
-
Als neuronal gläserner
Mensch, dessen Tun, Empfinden und Denken durch Eingriffe von außen
offen gelegt, aus neuronalen Mechanismen erklärt, vorhergesagt und
jederzeit auch durch neuronale Eingriffe manipuliert werden kann? [46]
-
Als Wesen ohne freien Willen,
weder fähig zur Schuld noch zur Buße?
-
Allein gelassen unter einem
von Göttern gründlich leergefegten Himmel? [47]
Denn nach Ansicht von Sozialbiologen
ist auch Religion nur eine von Genen gesteuerte Anpassungsstrategie des
Gehirns und Gott, so behauptet die Neurotheologie, letztlich nur ein "Hirn-Gespinst".
Soll der Mensch tatsächlich
unter dem Joch solcher Menschenbilder leben, ja überhaupt leben können?
Die Antwort lautete: Nein!
Es gibt etwas in uns, dass sich gegen solche Bilder auflehnt. Wir erleben
sie als übergestülpte Masken, gegen die wir uns wehren möchten.
Gibt es eine Chance?
Vernunft und Moral sind die
Potentiale des Menschen, um die Macht dieser Bilder zu brechen und Chancen
auf andere Bilder zu eröffnen, deren Perspektive nicht von einer derart
trostlosen Ohnmacht bestimmt sind.
Keine der aufgezeigten Perspektiven
hat zwangsläufigen Charakter. Der Macht dieser Bilder kann manches
entgegengesetzt werden:
Zunächst die Entlarvung
absolut gesetzter Bilder als solche und ihre Relativierung auf das, was
sie in Wirklichkeit sind: mehr oder minder beschränkte Teilansichten
vom Menschen, die nur einige Körnchen der Wahrheit enthalten, manchmal
nicht einmal das.
Dies bedeutet, dass die Naturwissenschaften
in Zugzwang gebracht werden können, ihren Anspruch, einzige Erklärer
der Welt zu sein, zurückzustellen zugunsten eines Dialogs mit den
Geisteswissenschaften, der Theologie, der Gesellschaft und der Politik.
Dieser Dialog wird am ehesten
Annäherung erwarten lassen, wenn er in der Haltung einer neuen "Bescheidenheit"
und mit ethischer Wachsamkeit geführt wird.
Es ist aber auch zu bedenken:
Wer heute Fragen an die Wissenschaften stellt, bleibt nicht ohne Antworten.
Und er muss wissen, dass er dabei Gefahr läuft, seinen Mitwirkungsanspruch
an der Gestaltung des Bildes vom Menschen teilweise, vielleicht ganz, aufzugeben.
Seine Fragen rücken
den Menschen in das Auge des Betrachters, der sich dadurch zum Menschen-Bildner
aufgerufen fühlt.
Wovon wir träumen, wem
wir nachjagen, wohin wir unsere Visionen ausrichten – es kann uns einholen
in Gestalt von Bildern, die nicht wir, sondern Andere von uns entwerfen.
Die stärkste Gegenkraft
gegen die Übermacht von Menschenbildern liegt jedoch in einer Position,
die nicht abrückt von jener äußersten Grenze, die dem endlosen
Verschieben des Rubikons nach vorn entgegen zu setzen ist. Jener Grenze,
die in der Verletzung der Würde des Menschen begründet ist.
Hier ist eine Bioethik der
eindeutigen Positionen aufgerufen, keine relativistische Bioethik und keine,
die dem so genannten Fortschritt vorauseilt. Keine Bioethik, die zwischen
"schwacher" und "starker" Menschenwürde unterscheidet und die die
"schwache" für verhandelbar hält (Birnbacher [48]).
In einer Zeit, in der der
Menschenwürdebegriff eine starke Aushöhlung und Infragestellung
erfährt, ist die Menschenwürde in besonderem Maße ganz
neuen Formen der Verletzung ausgesetzt. Sie gehen vielfach aus von fragwürdigen
Fortschrittsbegriffen. Sie reichen von verbrauchender Embryonenforschung
über das Klonen von Menschen bis zur Entmachtung des Menschen als
Wesen mit freiem Willen. Gerade diese Verletzlichkeit des Menschen erweist
sich als ständige Herausforderung, die nach einer Unverletzlichkeit
seiner Würde verlangt. Sie bildet ein starkes Bollwerk gegen alle
Verzerrungen von Menschenbildern.
Die dabei notwendigen Anstrengungen
werden kein Kinderspiel sein, vor allem in Zeiten, in denen, wie der französische
Psychoanalytiker Michel Tort in seinem Buch Le désir froid schreibt,
warme Leichen und kalte Embryonen zu den begehrten Objekten
der Gesellschaft und der medizinischen Wissenschaften zählen [49].
Ohne einen intensiven Dialog
von Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften (vor allem Neurowissenschaften)
und Gesellschaft werden lebbare und verantwortbare Menschenbilder kaum
entstehen können.
Die Möglichkeit, einen
solchen Dialog in Gang zu setzen, ist nicht illusorisch. Ein ernstzunehmendes
Angebot dazu haben zum Beispiel elf deutsche Spitzenforscher, überwiegend
Neurowissenschaftler, im Sommer 2004 in einem Manifest zur Hirnforschung
vorgelegt [50]. In ihrer Grundsatzerklärung prophezeien sie im Übrigen
auch, aller Fortschritt werde nicht in einem "Triumph des neuronalen Reduktionismus
enden."
Dieser Dialog wird ohne gegenseitigen
Respekt vor Werten und Wissen der jeweils Anderen nicht fruchtbar sein
können. Die Warnung von Jürgen Habermas, "schlechte Philosophie"
von Naturwissenschaftlern sei nicht besser als schlechte Naturwissenschaft
von Philosophen zeigt, welche Lernaufgaben dabei zu bewältigen sind.
Jeder sollte wissen, wovon der andere spricht.
Es ist nicht zu erwarten,
wie Christian Schwägerl in einem schönen Bild in der F.A.Z. beschrieb,
dass dann nach drei Monaten oder drei Jahrzehnten des Dialogs endlich weißer
Rauch aufsteigt, der Dialogführer vor die Presse tritt und das ersehnte
HABEMUS verkündet: Wir haben ein Bild vom Menschen!
Aber eines ist sicher, ohne
einen solchen Dialog werden keine Menschenbilder entworfen werden
können, mit denen der Mensch leben und die er verantworten kann. Und
sie werden nicht gelingen, wenn sie nicht auf folgenden drei anthropologischen
Konstanten gründen, nämlich:
-
der Einmaligkeit
-
der Unvollkommenheit und
-
der Sterblichkeit des Menschen.
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URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412aez-verlorenes_ideal.html
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URL: http://www.aerztezeitung.de/docs/2004/12/22/234a1401.asp?cat=
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[50] Schwägerl, C: Die
Schönheit der Hirnfuge. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2004,
Nr. 241, S. 42
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Weiterführender
Link:
Deutsches Hygiene Museum
Dresden
URL: http://www.dhmd.de/ -
Externer
Linus S. Geisler: Das Menschenbild
in der modernen Medizin |
Festvortrag anlässlich
75 Jahre Deutsches Hygiene Museum Dresden. Dresden, 18. Mai 2005.. |
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0505dhmd_menschenbild.html |
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