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Linus S. Geisler: Das Menschenbild in der modernen Medizin. Festvortrag anlässlich 75 Jahre Deutsches Hygiene Museum Dresden. Dresden, 18. Mai 2005. 
Das Menschenbild in der modernen Medizin 

Linus S. Geisler
Ein Insel-Traum

Tropisch-maritim ist das Klima der Fiji-Inseln. Die größeren Inseln sind von jungen Vulkankegeln gekrönt. Die flachen Küstenräume werden von Mangrovenwäldern gesäumt. Eingestreut zwischen den Inseln finden sich im sonnendurchfluteten tiefblauen Meer zahllose Korallenriffe.

Was die Inseln besonders anziehend macht, für Abenteurer, Touristen und Künstler sind die Menschen. Die Mädchen und jungen Frauen sind anmutig und wohlgestaltet.

Eben bei diesen Mädchen und Frauen wurde seit 1995 ein rasanter Anstieg zuvor unbekannter Krankheitsbilder beobachtet, nämlich Magersucht und Bulimie. Binnen drei Jahren litten 15 Prozent der Mädchen an ausgeprägten Ess-Störungen. Die Erklärung des Phänomens war unschwer auszumachen. Die Ess-Störungen begannen sich auszubreiten, nachdem ein US-amerikanischer Fernsehkanal auf Sendung gegangen war. Der Export von Körperhass durch Bilder, die eine Pseudo-Ästhetik aufbauen, traf auf Menschen, hier insbesondere Frauen, die sich ihnen kaum zur Wehr setzen konnten [1].

Die Neuerfindung des menschlichen Körpers durch die moderne Medizin hatte so die kleine paradiesische Inselgruppe am südlichen Wendekreis erreicht.

Imperativ der Menschenbilder

Menschenbilder sind nicht bloße Beschreibungen des Menschen aus einer bestimmten Perspektive. Sind nicht nur deskriptiv, sondern normativ und damit in hohem Maße handlungsanleitend. Menschenbilder können nicht eingerahmt und in der guten Stube einer Ideologie als stille Dekoration an die Wand gehängt werden. Früher oder später entfalten sie Wirkung im öffentlichen Raum. Ihr appellativer Charakter macht ihre wahre Bedeutung aus.

So taucht plötzlich in der Diskussion um Gentechnik der Begriff des "technologischen Imperativ" auf [2]. Offensichtlich soll er den Kantschen "kategorischen Imperativ" ablösen, wonach bekanntlich der Mensch nach derjenigen Maxime handeln soll, von der er sich wünscht, dass sie "ein allgemeines Gesetz" werde.

Die Risiken neuer Methoden und Techniken des Fortschritts sind viel mehr an den Menschenbildern zu messen, die sie entwerfen, als an ihren praktischen Effekten. Aus gutem Grund fragte Hans Jonas in seinen Überlegungen zu einer Ethik der Verantwortung: "Wer werden die "Bild"-Macher sein" und nach wessen "Ebenbild" werden sie verfahren? Und für den New Yorker Philosophen Hartmut Rosa liegt das Bedrohliche der Biowissenschaften in der Veränderung der Bilder, in deren Licht der Mensch, das "selbstinterpretierende Tier", seine Welt deutet [3 Externer Link].

Technikfolgenabschätzung ist wichtig, Anthropologiefolgenabschätzung ist überlebenswichtig. Hierin liegt der Grund, sich mit dem "Menschenbild in der modernen Medizin" näher zu befassen.

Jahrmarkt der Menschenbilder

Doch die Themenstellung greift zu kurz. Die moderne Medizin verfügt über kein konsistentes Menschenbild. Was sich findet, ist das konkurrierende Ringen verschiedenster Disziplinen um die Deutungsmacht über den Menschen.

Dieser Wettlauf um die durchsetzungsfähigste Auslegung des Homo sapiens spiegelt sich in einem Jahrmarkt von anthropologischen Projektionen wider, auf dem auch die Option gehandelt wird, der Mensch, dessen Bild zu zeichnen ist, sei erst neu zu erschaffen. Biomedizin, Gentechnologie, Hirnforschung, Reproduktionsmedizin, Neurotheologie und Robotik sind bemüht, mit fachbegrenzten Instrumenten Teilaspekte des Menschen als dessen Gesamtbild zu präsentieren.

Was herauskommt ist ein Phantom ohne Fleisch und Blut: der fragmentierte Mensch. An ihm bewahrheitet sich: "Man kann den Menschen nicht teilen, ohne ihn zu töten." [4] Das Subjekt verschwindet mehr und mehr. Es wird ersetzt durch "Schauplätze" auf denen Glaubenssätze mit Allgemeingültigkeitsanspruch feilgeboten werden.

Diese Herangehensweise an den Menschen erinnert an die Methode der so genannten "Explosionszeichnungen" in der Technik. Dargestellt werden die gesamten Einzelteile eines Gerätes, die dem Betrachter, wie von einer Explosion zerlegt, entgegen springen. Das Komplettgerät ist oft nur umrisshaft im Hintergrund zu erkennen.

Der Prozess der Aufsplitterung der Menschenbilder begann schleichend schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. 1928 schrieb Max Scheler: "Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdeckt ... weit mehr das Wesen des Menschen, als dass sie es erleuchtet." [5] Und Scheler erkannte, dass sein Zeitalter das erste war, "in dem sich der Mensch völlig und restlos problematisch geworden ist, indem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, dass er es nicht weiß". Man ist geneigt vom Heraufziehen einer anthropologischen Blendung zu sprechen.

In einer Zeit des ausufernden Unabhängigkeitstriebes und der schrankenlosen Individualisierung und seit, so der Soziologe Peter Gross, "Gott im Sterben" liegt, setzt das Ich zu einem grandiosen Höhenflug an. Die permanente Ich-Jagd des Menschen der Postmoderne verstärkt aber eher die Brüchigkeit des Ichs und verhindert ein gelingendes Selbstbild. In seinem Buch Ich-Jagd schreibt Peter Gross [6]: "Man will sich finden. Man macht sich selber zur Aufgabe ... Aber das Ich ist bei der Anstrengung, es selbst zu werden, sich selber abhanden gekommen. Sich selbst verausgabend, erzeugt es eine Bilderflut von sich, strampelt sich ab in Selbstbeschreibungen und jagt den selbst entworfenen Möglichkeiten nach. Was ist das Ich im 21. Jahrhundert?"

Die Schwierigkeit ein konsistentes Menschenbild zu entwerfen, ist sicher also kein spezifisches Problem der Medizin, sondern ein generelles Phänomen dieses Zeitalters.

Bilderwelten

Die Beantwortung der Frage: Was ist der Mensch? fiel bis zum 16. Jahrhundert ausschließlich an die Theologie und Philosophie. Eine quasi "Kopernikanische Wende" in den Wissenschaften etwa im 16. und 17. Jahrhundert führte zu einer radikalen Umkehrung des historischen Abhängigkeitsverhältnisses der Naturwissenschaften von Philosophie und Theologie und damit gleichzeitig zum Sturz eines anthropozentrischen Menschenbildes.

Die Biowissenschaften zeigen ein Menschenbild, in dem der Mensch als ein Geschöpf mit freiem Willen und moralischer Verantwortung nicht mehr zu halten ist. In diesen Bildern der Naturwissenschaften ist der Menschen nur noch unvollständig auszumachen. Gerade sein innerstes Wesen suchen wir bei aller Anstrengung vergeblich. Es erscheint wie ausgespart.

Die Geburt des modernen Körpers als Objekt von Medizin und Biologie, seine Versachlichung als anatomisches Gebilde, als mechanistische Konstruktion bis zur heutigen Auffassung als biochemische Maschine, vollzieht sich im 16. Jahrhundert.

Im gleichen Jahr 1543, in dem Kopernikus sein Werk "De revolutionibus orbium coelestium" veröffentlicht, legt Vesalius sein Werk "De humanis corpori fabrica" vor. Es sind anatomische Darstellungen des Menschen von höchster Detailtreue. Sie ermöglichten die präparatorischen Schauspiele in den anatomischen Theatern von Padua bis Leiden, oft vor illustrem Publikum von hohem Rang, und fokussierten das Interesse auf die Körperlichkeit des Menschen.

Aber die Vesalschen Abbildungen des menschlichen Körpers haben bereits den kalten Blick der Vivisektion. Die gehäuteten Objekte sind Projektionen einer herzlosen Schau. Der aufschneidbare Körper wird separiert von den "höheren" Eigenschaften des Geistes, er gilt jetzt als "niedrig" und steht damit zur freien Verfügung. [7 Interner Link]

Jenseits der Therapie

Vor zwei Jahren legte das oberste bioethische Gremium des amerikanischen Präsidenten, das President's Council on Bioethics, G. W. Bush einen bemerkenswerten Bericht vor. Darin befassen sich Bushs Berater nicht mit trivialen Fragen der medizinischen Therapie. Der Titel des Berichtes macht die Stoßrichtung der neuen Forschungsaktivitäten deutlich: "Beyond Therapy" bedeutet, dass die Forschung sich anschickt das vergleichsweise niedrige Handwerk des Therapierens zu verlassen [8]. Und der Untertitel "Biotechnology and the Pursuit of Happiness", das in der amerikanischen Verfassung verankerte Streben nach Glück, zeigt, wohin die Biotechnik aufbricht: zur globalen Glücks-Jagd.

Beyond Therapy - 2003Die zu erobernden Claims werden in dem Report systematisch abgesteckt:
 
Optimierte Kinder (Better Children)
Überragende Leistungsfähigkeit (Superior Performance)
Alterslose Körper (Ageless Bodies)
Glückliche Seelen (Happy Souls)

Schönheit, Stärke, überragende Intelligenz, permanente Hochstimmung und Kinder nach Maß machen das immerwährende Glück aus. In-vitro-Befruchtung, Embryonenselektion, maßgeschneiderte Psychodrogen, Botox-Injektionen, Produkte der Gentechnik und Eingriffe in die Keimbahn, also in das befruchtete Ei, bilden das Rüstzeug. Selbst verkorkste Biographien können – in Grenzen – korrigiert werden: beispielsweise durch Medikamente, die die Erinnerungen positiver tönen.

Das neue Arztbild folgt jetzt einer einzigen Leitdevise: Enhancement – Steigerung ohne Grenzen.

Der lupenreine Fuß oder "dirty medicine"

In dem Magazin VOGUE erschien im März 2003 eine Story mit dem Titel "Der lupenreine Fuß" (the flawless foot), basierend auf Interviews mit New Yorker Fußspezialisten. Deren chirurgisches Angebot umfasste mittlerweile auch die operative Umformung der Füße von Frauen, um ihnen zu ermöglichen Designerschuhe zu tragen, einfach um darin gut auszusehen. Solche Schuhe, erklärte ein Fußspezialist, benötigen "Designer-Füße". Bis vor kurzem hätten ihn Patientinnen aufgesucht, um vor allem von schmerzhaften Fußdeformitäten befreit zu werden. Jetzt kämen sie in die Sprechstunde, zögen ein paar heiße Stilettos aus der Tasche und sagten: "Die will ich tragen!"

Als "dirty medicine" bezeichnet Arthur W. Franck von der Universität Calgary diese Art "neo-liberaler" Medizin. [9]

Styling, Piercing, Tattooing, Bodybuilding, Lifting, vergrößern, verkleinern, absaugen, straffen. Nach einer Studie der Universität Koblenz-Landau würde sich jeder fünfte Deutsche für die Schönheit unters Messer legen. Unter Frauen ist sogar jede zweite nicht abgeneigt. Auch Männer entwickeln zunehmend ein kosmetisches und "prothetisches Bewusstsein". Inzwischen sind etwa 15 Prozent der Schönheitsoperierten männlich [10]. Und die Patienten werden immer jünger.

Bei all dem herrscht eine auffallende Polarität zwischen Körpervergessenheit und Körperversessenheit.

Körpervergessenheit beispielsweise durch Raubbau in Beruf, Sport, Freizeit oder auch durch Instrumentalisierung frühen menschlichen Lebens zu Zwecken der Forschung.

Körperversessenheit, reichend über Körperkult, Beauty- und Wellnesswelle und Schönheitschirurgie bis zur gentechnischen Optimierung des Körpers. Allein für den Beauty- und Wellness-Bereich werden in Deutschland jährlich zweistellige Milliardenbeträge ausgegeben [11].

Cher vs. Dürer's MutterBis zu 600 000 kosmetische Operationen werden jährlich in Deutschland durchgeführt. Tendenz: steigend [12]. Hinzu kommen 400 000 kleine "Lunchtime-Eingriffe" in der Mittagspause, wie etwa das Aufspritzen der Lippen. 30 000 bis 50 000 Deutsche werden pro Jahr mit Botox-Injektionen zur Faltenglättung behandelt, in den USA 2,8 Millionen. Von dort schwappt die Welle der Botox-Partys herüber, auf denen sich Freundinnen im Wohnzimmer bei Sekt und Fingerfood zu Sonderpreisen Stiche mit Botulinustoxin, dem stärksten Nervengift der Natur, setzen lassen. Der Deal ist klar: statt Fältchen gefrorene Mimik. Botox-Injektionen gibt es inzwischen auch für Hunde.

Offensichtlich gebiert die Leere im Zentrum die Prächtigkeit der Peripherie. Die Versuchung, Probleme in der Tiefe an der Oberfläche zu lösen, scheint unwiderstehlich.

Der Leib, die körperliche Präsentation des Ichs, gerät außer Kontrolle. Das Bild vom eigenen Körper verzerrt sich unter dem Einfluss von Medizin und Medien. Die gewaltsam in Szene gesetzten Körperideale der Gesellschaft orientieren sich an superdünnen Models oder Schauspielerinnen. Sie prägen das weibliche Körperideal – in einer Gesellschaft, die ständig übergewichtiger wird. Hier haben schwere Körperschemastörungen, die in Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie einmünden, eine ihrer Wurzeln. Rund 700 000 Menschen, vor allem Frauen, zunehmend aber auch Männer, leiden in Deutschland an diesen lebensbedrohlichen Krankheitsbildern mit schlechter Prognose.

Im Zuge eines übersteigerten Körperkults greifen Dysmorphophobien, d.h. die krankhafte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, in epidemischem Ausmaß um sich. Meist betrifft das massiv verzerrte Körperbild das Gesicht, bei Frauen auch Brüste und Beine, bei Männern Körpergröße oder Genitalien. Dieser sog. Thersites-Komplex – Thersites soll der hässlichste Grieche gewesen sein – führt die Patienten immer wieder zum plastischen Chirurgen. Der Körper gerät zur ewigen Baustelle ohne Richtfest, Zutritt für Kinder und Jugendliche nicht mehr verboten.

Selbst die US-Army bietet ihren Angehörigen das ganze Repertoire der Schönheitschirurgie als Belohnung für die Strapazen in Afghanistan oder im Irak kostenlos an: zwischen 2000 und 2003 alleine 496 Brustvergrößerungen. Allerdings, räumte eine Armeesprecherin ein, ein gelungener kosmetischer Eingriff sei zwar ein schöner Nebeneffekt für eine Soldatin. Das Hauptziel aber sei, den eigenen Operateuren kontinuierliche Übungsmöglichkeiten für den Ernstfall rekonstruktiver Eingriffe nach entstellenden Verwundungen zu bieten.

Die Neuerfindung des Körpers das Verschwinden des Leibes

Adorno und Horkheimer haben das "Interesse am Körper" als "todbringend" bezeichnet. Der Umgang des modernen Menschen mit seinem Körper erschien ihnen als gestört, denn der Mensch gehe mit seinen Körperteilen um, als wären sie bereits Prothesen [13]. Sie schrieben: "In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, dass der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial gemacht hat".

Die Transplantationsmedizin steht paradigmatisch für diese Neuerfindung und -nutzung des Körpers. Sie ist Extremmedizin, denn in ihr wird eine elementar neue Dimension eröffnet: Heilung oder Linderung sind im Körper eines Anderen lokalisiert [14]. Auch hier bestätigt sich, dass Ausübung von Macht, wie Canetti schreibt, stets Macht über Fleisch ist [15].

Ohne Änderung des Menschenbildes ist ein reibungsloser Vollzug des Transplantationsystems nicht machbar [16 Interner Link]. Neue Körperkonzepte sind zu entwerfen, die das Tabuisierte zulassen. Das körperliche Dasein wird umdefiniert in eine bloße Ansammlung von Organen, in der das Ich für eine begrenzte Zeit seinen Platz findet. Die Vorstellung von der Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit des Körpers und seiner Organe wird aufgegeben. Neue Verfügungsrechte sind auszuhandeln, denn die körperlichen Grenzverletzungen zwischen Spender und Empfänger bedürfen der Legalisierung [17].

Transplantationsmedizin versucht die Endlichkeit des Menschen zu verdrängen. Doch sie kann nicht leugnen, dass Endlichkeit eine anthropologische Konstante ist. In der medizinischen Ethik liefert aber gerade die Einsicht in die existentiale Endlichkeit des Menschen ein hilfreiches Korrektiv zur bisweilen absolut gesetzten ärztlichen Pflicht, zu helfen und zu heilen [18].

Die Trivialisierung und Profanisierung des Systems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten [19]. Diese beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe. Das Diktat der Anspruchserfüllung ebnet die Wege zur Ökonomisierung, in der nur noch Marktmechanismen zählen. Scheinbar folgerichtig propagieren deutsche Wirtschaftswissenschaftler wie Peter Oberender monetäre Anreize auf einem Markt für Organtransplantate als legale Lösung des Problems "Organmangel" und behaupten, dass alle Beteiligten dabei gewinnen [20]. Philosophen wie Hartmut Kliemt stellen die Frage: "Warum darf ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" [21] Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker macht sich für einen regulierten Organhandel, auch in der westlichen Welt, stark. Deutsche Gesundheitsökonomen diskutieren ernsthaft weltweite Spotmärkte für Organe.

Kopfverpflanzung

Makabre Krönung transplantationschirugischer Visionen sind die Phantasien des amerikanischen Hirnchirurgen Dr. Robert White, Mitglied der bioethischen Kommission des Vatikans. White träumt von der Verpflanzung menschlicher Köpfe auf den abgetrennten Körper von Hirntoten. Bei Affen hat er bereits ganze Köpfe bzw. Körper transplantiert [22]. Wer genau überlebt da? Ein hirntoter Körper mit aufgepfropftem Bewusstsein oder ein Gehirn, durch den Körper eines Hirntoten in Betrieb gehalten? White verkündet mit sakral-pathetischen Worten: "Und ich sage: Fürchtete euch nicht, ihr werdet einen neuen Körper von mir erhalten" [23].

Kaleidoskop der Menschenbilder

Die Menschenbilder, die heute in der Sprache von Biomedizin, Neurologie und Evolutionsbiologie ausbuchstabiert werden, erweisen sich als gewaltige perspektivische Verkürzungen, die weit mehr ausblenden, als sie beleuchten.

Für den Genetiker Richard Dawkins sind Menschen nur "Überlebensmaschinen – Roboter, blind programmiert zur Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle, die Gene genannt werden." [24]

Der französische Biochemiker und Nobelpreisträger Jacques Monod weist dem Menschen, diesem "sonderbaren Tier" ein trostloses Szenario zu: Dieser Mensch erkennt "... seine totale Verlassenheit und seine radikale Fremdheit" in dieser Welt. Er hat "... seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums ..., das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen ... Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben."  [25] Für Monod sind Lebewesen "chemische Maschinen, der Organismus ist eine Maschine, die sich selbst aufbaut."

Francis Crick, gemeinsam mit James Watson Erstbeschreiber der räumlichen Struktur der DNA, ordnet den Menschen in das Tierreich ein: "Die menschliche Natur wird als einzigartig und heilig angesehen ... Doch soweit die Wissenschaft das sagen kann, ist der Homo sapiens ein Vertreter des Tierreichs." [26] Für Crick speist sich "... das reiche menschliche Repertoire an Gedanken, Gefühlen, Sehnsüchten und Hoffnungen aus elektrochemischen Hirnprozessen" und "nicht aus einer immateriellen Seele".

Hubert Markl, Ex-Präsident der Max-Planck-Gesellschaft meint, dass der "Mensch" nichts anderes sei als "ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff von Menschen ... und keine rein biologische Tatsache, ... eine kulturell-sozial begründete Attribution". Dahinter steht ein weiter Spielraum der Zuschreibung von Würde.

Zu den Molekularbiologen gesellen sich Hirnforscher, für die der freie Wille nicht mehr ist als "eine nützliche Illusion" (Gerhard Roth) und deren Menschenbild "... den Himmel leer fegt von lenkenden Göttern ..." (Wolf Singer [27]).

Der Mensch in seiner frühesten Erscheinungsform, als Retortenembryo vor der Einpflanzung in einen Mutterleib, geriet besonders in der Hochphase um die Stammzellen-Gesetzgebung, in ein Kaleidoskop der Deutungen. Der Blick auf ihn erinnerte an jenen Blick auf den Menschen, von dem Primo Levi in seinem autobiografischen Auschwitz-Bericht schrieb, dieser sei "nicht von der Art, wie ein Mensch einen anderen Menschen anschaut" [28].

Die Entwicklung des Menschen ist durch Identität und Kontinuität von der Zeugung bis zum Tod gekennzeichnet. Die befruchtete Eizelle ist kein anderer Mensch, als der, der später geboren wird. Der Edinburgher Stammzellforscher Austin Smith artikuliert seine Sicht früher menschlicher Embryonen allerdings ganz anders: "... es ist eindeutig nicht dasselbe wie du und ich. Es hat keine Nase, kein Herz, es kann nicht fühlen. Niemand weiß, ob es sich je zu menschlichem Leben entwickeln kann. Es ist nicht nichts. Aber es nicht vergleichbar mit dem, was wir unter menschlichem Leben verstehen."

Die metaphorische Verbiegung erfährt noch eine letzte Steigerung, wenn der Embryo schließlich nur noch als "symbol of future human life" [29], als "Symbol künftigen menschlichen Lebens" bezeichnet wird.

Produzieren, Selektieren, Töten

Die Macht von Menschenbildern ist exemplarisch an der Entwicklung der Reproduktionsmedizin abzulesen. Als 1978 der erste in der Retorte gezeugte Mensch, Louise Brown, geboren wurde, galt dies als ein an Wunder grenzendes biologisches Ereignis.

In nicht ganz drei Jahrzehnten hat sich die Fortpflanzungsmedizin aus einem frauenärztlichen Randgebiet zu einer sich verselbständigenden Reproduktionsmaschinerie entwickelt. Weltweit verdanken jährlich mehrere 10 000 Neugeborene reproduktionsmedizinischen Maßnahmen ihr Leben.

Diesen Aktivitäten der Reproduktionszentren steht allerdings mittlerweile das neue "Ideal der freiwilligen Kinderlosigkeit" gegenüber (Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung BIB in Wiesbaden) [30].

Die Techniken der Fortpflanzungsmedizin beinhalten inzwischen die assistierte Erzeugung des Menschen ebenso wie seine Verhinderung oder seine Tötung. Töten hat begonnen, als therapeutischer Akt in die Geburtshilfe einzuziehen, einer Disziplin, die sich seit Jahrhunderten der Aufgabe verschrieben hatte, dem Menschen den ersten Schritt in das Leben zu erleichtern. Die Reproduktionsmedizin beschafft das Wunschkind, gleichgültig ob dahinter das Leiden an der tatsächlichen oder vermeintlichen Unfruchtbarkeit oder neurotisch-verbissene Besitzansprüche stehen, und sie selektioniert mit gleicher Routine das vermeintliche Horrorkind.

Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) wird mit den Keimzellen genetisch belasteter, jedoch fruchtbarer Paare eine Reagenzglasbefruchtung durchgeführt. Ziel ist es, nur genetisch "gesunde" Embryonen in den mütterlichen Uterus einzusetzen. Embryonen, die den gesuchten genetischen Defekt aufweisen, werden "verworfen". Willkommene Embryonen "geerntet", die anderen sind reproduktives Fallobst, das dem Kontingent der "Forschungsembryonen" zum alsbaldigen Verbrauch zugewiesen wird oder zu Zehntausenden als "souls on ice", als "Gefrierfachwaisen" in Tiefkühltruhen bis zum Tag ihrer Verwertung oder Verwerfung lagert.

Mehr und mehr wird PID mittlerweile zur Selektion von "qualitativ hochwertigen" Embryonen und zur Geschlechtsauswahl eingesetzt. Es ist belegt dass auf diese Weise erzeugte, vollkommen gesunde Kinder, die jedoch das "falsche" Geschlecht aufwiesen, abgetrieben werden, um die Harmonie des "Geschwisterdesigns" nicht zu trüben. [31]

Mutterlose Gesellschaft?

Die Neubesetzung von Forschungsfeldern in der Fortpflanzungsmedizin geht weiter. Im Science-Fiction-Klassiker "Matrix" schwimmt Homo Sapiens in der chemischen Lebensbrühe einer künstlichen High-Tech-Gebärmutter. Unabhängig von einer Mutter kontrolliert die Maschine die Technologie der Aufzucht.

Matrix vs. RealitätDas Projekt des künstlichen Uterus (artificial womb) ist bereits ins Visier reproduktionsmedizinischer Experimentatoren geraten. Der Ansatz erscheint zunächst ethisch vertretbar: die Rettung von Föten, deren Mutter sich beispielsweise in einer intensivmedizinischen Extremsituation befindet. In Tokio forscht ein Team des Gynäkologen Yosinori Kuwabara seit zehn Jahren an einem künstlichen Uterus – nicht ohne Erfolg. In einem Fruchtwassercocktail schwimmen fetale Lämmer, angeschlossen an eine künstliche Plazenta. Der Rekord: drei Wochen Überleben im neugeschaffenen fetalen Universum.

Die Vision vom künstlichen Uterus hat viele Reize: von der Last der Schwangerschaft freigestellte berufstätige Frauen, ein durchgängiger Zugriff auf den Embryo ohne die biologische Barriere der Mutter, der Ersatz für den Mutterersatz Leihmutter. Matrix statt Mater? Aufbruch in die mutterlose Gesellschaft?

Das Projekt des künstlichen Uterus, also das technische Outsourcing der Schwangerschaft, könnte in absehbarer Zeit eine völlig neue Bedeutung erhalten. Vor dem Hintergrund einer überalterten Welt und einer sich abzeichnenden Bevölkerungsimplosion, so der amerikanische Soziologie Stanley Kurtz (Hoover Institution, Universität Stanford), könnte bald nicht die Erzeugung von Supermenschen die wichtigste Herausforderung der Zukunft sein, "... sondern die Entwicklung einer künstlichen Gebärmutter." [32]

Methusalem-Komplott?

Der größten medizinischen Herausforderung des 21. Jahrhunderts, dem demographischen Wandel stellt sich die moderne Medizin hingegen nur halbherzig. Erweisen sich die Prognosen der Demographen als richtig, wird die Erde noch in diesem Jahrhundert, "wie ein riesiges Altersheim durchs Weltall kreisen." [33]

Obwohl die Zahl der über 80jährigen in den letzten 50 Jahren um 1000 Prozent zugenommen hat, gibt es in Deutschland nur vier Lehrstühle für Geriatrie. Das Feld der Altersforschung galt noch bis vor kurzem als der "Felsen, an dem Forscher ihre Karrieren zerschmetterten" oder schlicht als Nachttopf-Forschung [34 Externer Link]. Kaum ein heute praktizierender Arzt hat sich während seines Studiums mit der Behandlung betagter Patienten befasst, die das Gros seiner Klientel stellt. Sein Blick auf alte Menschen ist, ähnlich wie der auf Behinderte, meist durch die Wahrnehmung von Defekten bestimmt.

Der Zukunftsblick auf den alten Menschen ist von Verunsicherungen bestimmt: auf der einen Seite eine bedrohliche, dahindämmernde Masse Demenzkranker, deren Versorgung Unsummen verschlingt, auf der anderen Seite eine nicht minder bedrohliche "Gerontokratie" biologisch fitter, ewig gutgelaunter Narzissten.

An Verlegenheitslösungen, wie Pflegerobotern, die zuverlässig, stets guter Laune und ohne Aggressionen gegen ihre Objekte, die dann hoffnungslos überforderte Altenpflege entlasten sollen (Care-O-Bot) wird gearbeitet [35]. Natürlich gibt es einflussreiche Strömungen gegen Altern und Sterben wie z.B. die American Academy of Anti-Aging Medicine, die der "Todeskultur der Gerontologen" den Kampf angesagt hat [36]. Ein Europäisches Kryonik-Projekt zur "Lebensverlängerung" befindet sich in Planung [37 Externer Link] und es existiert die Immortalitäts-Technosophie des Transhumanismus [38 Externer Link].
Als anderer Ansatz wird die gentechnische Manipulation des subjektiven Zeitempfindens diskutiert, die eine quasi intrinsische Unsterblichkeit simulieren könnte (Freeman Dyson, theoretischer Physiker) [39].

Obwohl die Hirnforschung als eines ihrer erstaunlichsten Ergebnisse herausgefunden hat, dass die Adaptations- und Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns im Alter weit weniger abnimmt als bisher vermutet, kann angesichts der z.T. skandalösen Verhältnisse in vielen Pflege- und Altenheimen von einer praktischen Umsetzung dieser Erkenntnisse nicht die Rede sein [40 Externer Link].

Konzepte, wie Medizin und Gesellschaft den angemessenen Wünschen und Bedürfnissen des extrem heterogenen Kollektivs der alten Menschen gerecht werden könnten sind nicht in Sicht. Zumindest nicht als systemischer und realistischer Entwurf.

Nach oben offener Wahn

Der optimierte Mensch, der Neue Mensch, sollen wir uns auf ihn freuen? Wird der Mensch von heute, dieses Halbfabrikat, wie Trotzki ihn nannte, dieser widerspruchsvolle und unharmonische Mensch überwunden sein, abgelöst von einer neuen und glücklichen Menschheit?

Der Neue Mensch, ausgestattet mit den Potenzen der Selbstermächtigung, der Selbstgestaltung und damit auch der Selbstvernichtung wird er schließlich nur noch sein, was er buchstäblich aus sich macht, besser gesagt, was andere aus ihm machen?

Denn nach wie vor gilt, was C.S. Lewis schon vor mehr als einem halben Jahrhundert in seinem Buch The Abolition of Man [41], der Abschaffung des Menschen, schrieb: "Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet ... die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt."

Vielleicht wird schon in Kürze ein Forschungszentrum des Pentagon, die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), mittels "Military Bioengineering", die ersten Exemplare des Neuen Menschen präsentieren ganz in der Tradition der US-amerikanischen Vorreiterrolle. Ausgehend von der Erkenntnis, dass das schwächste System in einem Krieg der Mensch ist, plant das Pentagon aus Soldaten mit Hilfe von Drogen, genetischer Manipulation und neuronalen Mikrochips ideale Kampfmaschinen zu machen: Schmerzunempfindlich, stressfrei und nimmermüde.

Bilder vom Menschen, die perspektivisch auf eine illusionäre, nach oben offene Skala des Enhancement ausgerichtet sind, drohen, sich schließlich in einer unerreichbaren Ferne zu verlieren. Ihr Entwurf kann dann vom Ansatz her keine noch so extreme Entwicklung ausschließen. Damit entziehen sich diese Bilder geschickt einer ethischen Bewertung. Aber sie führen sich auch selbst ad absurdum: Bilder, die das nicht mehr Imaginierbare abzubilden versuchen, betreiben ihre eigene Entbildlichung.

Biologisch halten solche Menschenbilder nicht einmal mehr vor der letzten, bisher als unüberschreitbar geltenden Grenze, nämlich der Grenze des Menschen als Gattungswesen.

Der Mensch im Tier

Chimären-Forschung ist einer der neuen Trends der Biotech-Revolution. Ihre Ursprünge reichen in den USA bis 1988 zurück (Experimente von Irving Weissman). Weltweit laufen Versuche, in denen die Zellen von Menschen und Tieren kombiniert werden, um so genannte Chimären, Mischgeschöpfe, zu kreieren. Wissenschaftler beginnen, sich über das letzte Tabu der natürlichen Welt hinwegzusetzen: die Kreuzung von Mensch und Tier zur Erschaffung neuer Mensch-Tier-Hybriden aller Art.

Die experimentellen Begehrlichkeiten sind auch auf die Schaffung von Hybrid-Wesen, halb Mensch, halb Affe gerichtet. Als besonders geeignete Kandidaten gelten die mit dem Menschen genetisch eng verwandten Schimpansen. Biologische Hürden werden nicht als grundsätzliches Problem gesehen. Eher noch der Verwendungszweck für die neuen Mischwesen, die eine Intelligenz etwa vierjähriger Kinder erreichen könnten. Welche juristischen und moralischen Kategorien sollen für sie gelten? Stehen sie unter dem Schutz der Menschenrechte? Vielleicht wird eine Art Menschlichkeitstest darüber entscheiden, wozu man sie am besten verwendet: zu niedrigen Dienstleistungen, als humanoide Clowns oder für Zwecke der Forschung [42].

Die Spekulationen reichen noch weiter. Der Wissenschaftsautor Jamie Shreeve stellt die Frage nach dem tieferen Sinn solcher Experimente. Vielleicht könnten uns solche Hybridwesen in einer Art Zeichensprache bisher unbekannte und unerreichbare Einblicke in die Innenwelt von Tieren geben. Shreeve fragt allerdings auch: Was ist der Preis für dieses Wissen? [43]

Hier geht es nicht um Horrorszenarien der SF-Literatur. Göttinger Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie haben vor kurzem menschliche embryonale Stammzellen in das Gehirn von Affen gespritzt, zunächst mit dem Ziel, die Dopamin-Produktion anzuregen. Die Primaten haben das Experiment nicht überlebt, weil sie Tumoren bekamen. Die so behandelten Affen waren zwar keine Chimären im biologischen Sinn, die angewandte Methode aber ein erster Schritt in diese Richtung. [44]

Der fragmentierte Mensch im Gesundheitssystem

Kehren wir zum Schluss zurück in die Realität dessen, was sich als modernes Gesundheitssystem geriert.

Patienten sind in diesem Gesundheitssystem auf den drei Ebenen, der Mikro-, Meso- und Makroebene, in unterschiedlichen Rollen, sprich Bildern, repräsentiert:

  • Auf der Mikroebene als akut oder chronisch Kranke, die eine wirksame Behandlung für ihre Erkrankung suchen
  • Auf der Mesoebene als Versicherte, die sich gegen das Risiko Krankheit und die damit entstehenden Kosten absichern wollen bzw. müssen
  • Auf der Makroebene als Bürger, die die Gewährleistung funktionierender Versorgungsstrukturen und gesundheitsförderlicher Lebensbedingungen erwarten.
Je nach dem Blickwinkel, unter dem Menschen im Gesundheitssystem betrachtet werden, stehen medizinische oder ethische, ökonomische oder demokratische Perspektiven im Vordergrund.

Die differierenden Bilder vom kranken Menschen bestimmen auch die jeweilige Diktion. So ist nicht mehr vom Patienten die Rede, sondern vom Kunden, von Leistungen statt von Engagement, von Verträgen statt Vertrauen. Am Ende stehen sich "Health-Care-Consumers" und "Leistungserbringer" in nüchternem Umgang gegenüber. Der Patient als Kunde ist mit dem Arzt als Dienstleister konfrontiert. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient wird in jedem Sinne berechnender, häufig gehen sie miteinander um wie misstrauische Geschäftpartner. Praxis und Krankenhaus werden zum "Profit-Center".

Das Gesundheitssystem als Markt, auf dem Patienten sich als Kunden verhalten sollen, erweist sich als fragwürdiges Zerrbild. Kunden können Waren und Anbieter kritisch vergleichen, ihre Entscheidung in Ruhe treffen, probeweise ein Produkt testen, Garantieansprüche stellen und eventuell Entschädigung einklagen. All dies trifft für den Patienten, vor allem den akut erkrankten, nicht zu: er steht unter Zeitdruck, er wünscht sich keine kritische sondern eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung, für ihn gilt kein Testsieger im Spektrum der Anbieter, als Leidender ist seine Kompetenz eingeschränkt und er kann die Ware Gesundheit nicht auf Probe mit nach Hause nehmen und testen.

Der Trend zur Standardisierung im Gesundheitswesen unter wachsendem ökonomischem Druck, verbunden mit Sanktionen für ärztliche "Abweichler", gefährdet die individuelle Therapie des Patienten. Über allem schwebt der fiktive Entwurf des "Normpatienten", einer schrecklichen Figur, die es in der Welt frei und verantwortungsvoll handelnder Ärzte nicht gibt.

Menschenbilder schlagen aber auch auf die Betrachter zurück. Die Zahl beruflich frustrierter und enttäuschter Ärzte war noch nie so groß wie heute. So widmete sich ein Editorial des "British Medical Journal" vom April 2002 ausschließlich dem weltweiten Phänomen der unglücklichen Ärzte ("unhappy doctors"). Hohe Arbeitslast, unangemessene Bezahlung und ein kaum entrinnbares Geflecht von Abhängigkeiten, Stressoren und Pressionen scheinen das Problem jedoch nicht vollständig zu erklären. Die wohl stärkste Tiefenwirkung geht vom anscheinend unwiederbringlichen Verlust früherer ärztlicher Ideale aus [45 Interner Link].

Unglückliche Ärzte aber können keine glücklichen Patienten haben. So schließt sich ein fataler Zirkel.

Kein weißer Rauch aber Hoffnungen?

Zu welcher Bilanz können wir kommen?

Haben die alten Bilder der Theologie und Philosophie endgültig ausgedient? Radikal hinweggefegt vom Ikonoklasmus, vom Bildersturm der neuen Naturwissenschaften mit ihrem "ozeanischen" Fortschritt?

Wird die Welt von gestern mit ihren gerade noch überschaubaren Bildern vom Menschen einer Neuvermessung unterworfen, die nun in ganz anderen Händen liegt?

Vor allem aber, wie muss sich der Mensch in diesem neuen Weltenentwurf begreifen?

  • Als Blaupause seiner genetischen Determinanten?
  • Als neuronal gläserner Mensch, dessen Tun, Empfinden und Denken durch Eingriffe von außen offen gelegt, aus neuronalen Mechanismen erklärt, vorhergesagt und jederzeit auch durch neuronale Eingriffe manipuliert werden kann? [46]
  • Als Wesen ohne freien Willen, weder fähig zur Schuld noch zur Buße?
  • Allein gelassen unter einem von Göttern gründlich leergefegten Himmel? [47]
Denn nach Ansicht von Sozialbiologen ist auch Religion nur eine von Genen gesteuerte Anpassungsstrategie des Gehirns und Gott, so behauptet die Neurotheologie, letztlich nur ein "Hirn-Gespinst".

Soll der Mensch tatsächlich unter dem Joch solcher Menschenbilder leben, ja überhaupt leben können?

Die Antwort lautete: Nein! Es gibt etwas in uns, dass sich gegen solche Bilder auflehnt. Wir erleben sie als übergestülpte Masken, gegen die wir uns wehren möchten. Gibt es eine Chance?

Vernunft und Moral sind die Potentiale des Menschen, um die Macht dieser Bilder zu brechen und Chancen auf andere Bilder zu eröffnen, deren Perspektive nicht von einer derart trostlosen Ohnmacht bestimmt sind.

Keine der aufgezeigten Perspektiven hat zwangsläufigen Charakter. Der Macht dieser Bilder kann manches entgegengesetzt werden:

Zunächst die Entlarvung absolut gesetzter Bilder als solche und ihre Relativierung auf das, was sie in Wirklichkeit sind: mehr oder minder beschränkte Teilansichten vom Menschen, die nur einige Körnchen der Wahrheit enthalten, manchmal nicht einmal das.

Dies bedeutet, dass die Naturwissenschaften in Zugzwang gebracht werden können, ihren Anspruch, einzige Erklärer der Welt zu sein, zurückzustellen zugunsten eines Dialogs mit den Geisteswissenschaften, der Theologie, der Gesellschaft und der Politik.

Dieser Dialog wird am ehesten Annäherung erwarten lassen, wenn er in der Haltung einer neuen "Bescheidenheit" und mit ethischer Wachsamkeit geführt wird.

Es ist aber auch zu bedenken: Wer heute Fragen an die Wissenschaften stellt, bleibt nicht ohne Antworten. Und er muss wissen, dass er dabei Gefahr läuft, seinen Mitwirkungsanspruch an der Gestaltung des Bildes vom Menschen teilweise, vielleicht ganz, aufzugeben.

Seine Fragen rücken den Menschen in das Auge des Betrachters, der sich dadurch zum Menschen-Bildner aufgerufen fühlt.

Wovon wir träumen, wem wir nachjagen, wohin wir unsere Visionen ausrichten – es kann uns einholen in Gestalt von Bildern, die nicht wir, sondern Andere von uns entwerfen.

Die stärkste Gegenkraft gegen die Übermacht von Menschenbildern liegt jedoch in einer Position, die nicht abrückt von jener äußersten Grenze, die dem endlosen Verschieben des Rubikons nach vorn entgegen zu setzen ist. Jener Grenze, die in der Verletzung der Würde des Menschen begründet ist.

Hier ist eine Bioethik der eindeutigen Positionen aufgerufen, keine relativistische Bioethik und keine, die dem so genannten Fortschritt vorauseilt. Keine Bioethik, die zwischen "schwacher" und "starker" Menschenwürde unterscheidet und die die "schwache" für verhandelbar hält (Birnbacher [48]).

In einer Zeit, in der der Menschenwürdebegriff eine starke Aushöhlung und Infragestellung erfährt, ist die Menschenwürde in besonderem Maße ganz neuen Formen der Verletzung ausgesetzt. Sie gehen vielfach aus von fragwürdigen Fortschrittsbegriffen. Sie reichen von verbrauchender Embryonenforschung über das Klonen von Menschen bis zur Entmachtung des Menschen als Wesen mit freiem Willen. Gerade diese Verletzlichkeit des Menschen erweist sich als ständige Herausforderung, die nach einer Unverletzlichkeit seiner Würde verlangt. Sie bildet ein starkes Bollwerk gegen alle Verzerrungen von Menschenbildern.

Die dabei notwendigen Anstrengungen werden kein Kinderspiel sein, vor allem in Zeiten, in denen, wie der französische Psychoanalytiker Michel Tort in seinem Buch Le désir froid schreibt, warme Leichen und kalte Embryonen zu den begehrten Objekten der Gesellschaft und der medizinischen Wissenschaften zählen [49].

Ohne einen intensiven Dialog von Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften (vor allem Neurowissenschaften) und Gesellschaft werden lebbare und verantwortbare Menschenbilder kaum entstehen können.

Die Möglichkeit, einen solchen Dialog in Gang zu setzen, ist nicht illusorisch. Ein ernstzunehmendes Angebot dazu haben zum Beispiel elf deutsche Spitzenforscher, überwiegend Neurowissenschaftler, im Sommer 2004 in einem Manifest zur Hirnforschung vorgelegt [50]. In ihrer Grundsatzerklärung prophezeien sie im Übrigen auch, aller Fortschritt werde nicht in einem "Triumph des neuronalen Reduktionismus enden."

Dieser Dialog wird ohne gegenseitigen Respekt vor Werten und Wissen der jeweils Anderen nicht fruchtbar sein können. Die Warnung von Jürgen Habermas, "schlechte Philosophie" von Naturwissenschaftlern sei nicht besser als schlechte Naturwissenschaft von Philosophen zeigt, welche Lernaufgaben dabei zu bewältigen sind. Jeder sollte wissen, wovon der andere spricht.

Es ist nicht zu erwarten, wie Christian Schwägerl in einem schönen Bild in der F.A.Z. beschrieb, dass dann nach drei Monaten oder drei Jahrzehnten des Dialogs endlich weißer Rauch aufsteigt, der Dialogführer vor die Presse tritt und das ersehnte HABEMUS verkündet: Wir haben ein Bild vom Menschen!

Aber eines ist sicher, ohne einen solchen Dialog werden keine Menschenbilder entworfen werden können, mit denen der Mensch leben und die er verantworten kann. Und sie werden nicht gelingen, wenn sie nicht auf folgenden drei anthropologischen Konstanten gründen, nämlich:

  • der Einmaligkeit
  • der Unvollkommenheit und
  • der Sterblichkeit des Menschen.

Literatur:

[1] "Wir exportieren Körperhass". Interview mit Susie Orbach. Frankfurter Rundschau, 25.08.2001

[2] Grewel, H: Herrschaft über das Leben? Anfragen an eine technologisch orientierte Medizin. In: Lade, E (Hrsg): Christliches ABC heute und morgen. Handbuch für Lebensfragen und kirchliche Erwachsenenbildung. Bad Homburg. 1978 ff, Ergänzungslieferung Nr. 1/1998, S. 345-362

[3] Im Treibsand. - Der neue Mensch? Eine theologische Tagung in Ahaus fragt nach der Krise des Humanismus im Bio-Zeitalter. Die Zeit, Nr. 51, 13.12.2001
URL: http://www.zeit.de/archiv/2001/51/200151_monotheismus.xml - Externer Externer Link

[4] Kessler, H: Die Welt des Menschen. 1992. S. 125

[5] Scheler, M: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmstadt. 1928. S. 9

[6] Gross, P: Ich-Jagd. Suhrkamp. Frankfurt/Main 1999.

[7] Geisler, LS: Das Verschwinden des Leibes. Universitas, Nr. 598, Stuttgart 1996, 51. Jahrgang, S. 386 bis 397. 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9604universitas_leib.html - Interner Interner Link

[8] Beyond Therapy. Biotechnology and the pursuit of Happiness. The President's Council on Bioethics. A Report of The President's Council on Bioethics. 2003

[9] Frank, AW: Connecting Body Parts: Technoluxe, Surgical shapings and Bioethics. Vital Politics Conference. London School of Economics. September 2003.

[10] Boom der Schönheitsoperationen. Frankfurter Rundschau, 02.05.2005

[11] Grönemeyer, D: Die Gesundheitswirtschaft braucht schnellstens eine Wellnesskur: Wie wir sie auf die Füße stellen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2004, Nr. 280, S. 40

[12] Zahl der Schönheitsoperationen in Deutschland gestiegen. Deutsches Ärzteblatt Online. 04.03.2005

[13] Adorno/Horkheimer: "Das Interesse am Körper", Dialektik der Aufklärung. Aufzeichnungen und Entwürfe, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 265.

[14] Schneider, I: Ein Markt für Organe? Die Debatte um ökonomische Anreize zur Organspende. In: Oduncu FS, U. Schroth, W. Vossenkuhl (Hg.): Transplantation. Organgewinnung und -allokation. Göttingen. 2003. S. 189-208

[15] Canetti, E: Masse und Macht. Hamburg 1969.

[16] Geisler, LS.: Organlebendspende. Routine - Tabubrüche - Systemtragik. Universitas, 59. Jahrgang, Nr. 702, Dezember 2004, S. 1214-1225
URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412universitas-organlebendspende.html - Interner Interner Link

[17] Schlich, T: Transplantation. Geschichte, Medizin, Ethik der Organverpflanzung. München 1998

[18] Sitter-Liver, B: Gerechte Organallokation. Ethisch-philosophische Überlegungen zur Verteilung knapper medizinischer Güter in der Transplantationsmedizin. Studie zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Bern. 15. September 2003.

[19] Fox RC, JP Swazey: Spare Parts. Organ Replacement in American Society. Oxford University Press, New York, Oxford 1992

[20] Oberender, O, T. Rudolf: Das belohnte Geschenk - Monetäre Anreize auf dem Markt für Organtransplantate. Wirtschaftswissenschaftliches Diskussionspapier 12-03. Universität Bayreuth. ISSN 1611-3837. Oktober 2003

[21] Kliemt, H: Warum kann ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht? Vortrag zum Symposium "Ethik der Lebendorganspende" am 11.9.2002. In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.
Medizinische Forschung. Band 14 (i.E.)

[22] White: "Ich hatte es kreiert. Es gab dafür kein anderes Beispiel in der Biologie. Nicht einmal Gott hatte dieses Tier geschaffen."

[23] Jungblut, C: Meinen Kopf auf deinen Hals. - Die neuen Pläne des Dr. Frankenstein alias Robert White. Stuttgart, Leipzig 2001.

[24] Dawkins, R.: Das egoistische Gen. Berlin 1978, S. 237

[25] Monod, J: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. München 1971, S.211 ff.

[26] Crick, F: Free Inquiry Magazine, Vol. 17, No 3

[27] Singer, W: Ein neues Menschenbild? Gespräche über die Hirnforschung. Frankfurt/Main 2003.

[28] Levi, P: Ist das ein Mensch? Dtv. 1992

[29] ESHRE Task Force on Ethics and Law. The moral status of pre-implantation embryo. Hum. Reprod. 16, 1046-1048, 2001.

[30] Der Kinderwunsch nimmt weiter ab. Studie von Bevölkerungsforschern. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.05.2005, Nr. 102, S. 9.

[31] Lenzen-Schulte, M: Wunschkind.de. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.02.2005, Nr. 47, S. 37.

[32] Kurtz, S: Demographie und der Krieg der Kulturen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.03.2005, Nr. 59, S. 42

[33] Birg, H.: Die demographische Zeitenwende. München 2001

[34] Bahnsen, U: Das Projekt Unsterblichkeit. Die Zeit, Nr. 5, 23.01.2003. 
URL: http://www.zeit.de/2003/05/Aging - Externer Externer Link

[35] Roboter: Die Zukunft kommt später. FOCUS Magazin, 09.08.2004, Nr. 33

[36] Binstock, RH: The War on Antiaging Medicine. The Gerontologist 43. 2003. S. 4-14

[37] Krempl, S: Europäisches Kryonik-Projekt zur "Lebensverlängerung" in Planung. Telepolis, 25.06.2001. 
URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/konf/7962/1.html - Externer Externer Link

[38] Mania, H: Die Immortalitäts-Technosophie des Transhumanismus. Telepolis, 19.08.2001 
URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/9341/1.html - Externer Externer Link

[39] Schirrmacher, F: Das Methusalem-Komplott. München. 2004. S. 103.

[40] Manifest elf führender Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn & Geist 6/2004
URL: http://www.gehirnundgeist.de/blatt/det_gg_manifest - Externer Externer Link

[41] Lewis, CS: Die Abschaffung des Menschen. 5. Aufl. Freiburg. 2003. S. 62

[42] Rifkin, J: Gefährliche Kreuzung von Mensch und Tier. Süddeutsche Zeitung, 13.04.2005, S. 2.

[43] Shreeve, J: The other stem-cell debate. New York Times. 10.04.2005.

[44] Schwägerl, C: Stammzellforschung. Die Göttinger Chimäre. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.05.2005, Nr. 102, S. 34

[45] Geisler, L: Suche nach einem verlorenen Ideal. Ärzte Zeitung vom 22. Dezember 2004. 
URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412aez-verlorenes_ideal.html - Interner Interner Link
URL: http://www.aerztezeitung.de/docs/2004/12/22/234a1401.asp?cat= - Externer Externer Link

[46] Tetens, H: Der neuronal gläserne Mensch. Frankfurter Rundschau, 30.03.2004

[47] Singer, W: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung. Frankfurt/Main. 2003

[48] Uns ist so kannibalisch wohl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.11.2001, Nr. 259, S. 55

[49] Tort, M: Le désir froid: Procreation artificielle et crise des repères symboliques. (Éd. La Découverte). Paris. 1987.

[50] Schwägerl, C: Die Schönheit der Hirnfuge. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2004, Nr. 241, S. 42
 

 
Weiterführender Link: 
Deutsches Hygiene Museum Dresden
URL: http://www.dhmd.de/ - Externer Externer Link

Linus S. Geisler: Das Menschenbild in der modernen Medizin
Festvortrag anlässlich 75 Jahre Deutsches Hygiene Museum Dresden. Dresden, 18. Mai 2005..
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0505dhmd_menschenbild.html

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