Das Verschwinden des Leibes
Linus S. Geisler
Entleiblichung, Virtualisierung:
Die Zukunft liegt, glauben wir den Auguren, nicht in der Hardware - dem
Anfaßbaren -, sondern in der Software. Auch die Medizin hat Anteil
an diesem Trend der Hochtechnologie. Was bedeutet das für den menschlichen
Körper? Wird die Hoch- und Überrüstung der Medizin den Körper
zum Bio-Kitt reduzieren?
Gottfried Benn schreibt in
seinem Gedicht "Der Arzt": "Ich lebe vor dem Leib." [1] Der Leib wird hier
noch verstanden als eine Wirklichkeit des Menschen, die das rein Organismische
weit überschreitet. Potentaten hielten sich einen Leib-Arzt, der gewiß
mehr war als ein Arzt nur für den Körper. Nicht selten wurden
früher Leib und Leben synonym gebraucht; die Leibrente war eine Zahlung
auf Lebenszeit.
Der Leib beinhaltet Personsein,
Leben haben und Körperlichkeit. Als die verleiblichte Seele sieht
Thomas von Aquin den Menschen. Die Wirkungen dieses Leibes nach innen und
außen werden auch von seiner Symbolhaftigkeit bestimmt. Der Leib
ist ein offenes System in einem sozialen Kontext. Er ist aus dem gleichen
Stoff wie die Welt, in der wir leben, zugleich aber auch letzte Subjektivität.
Leib sind wir, während wir den Körper nur haben.
Ein beeindruckendes Beispiel
dieses Leibseins in der brutalen Darstellung des nackten Körpers ist
Frida Kahlos bekanntestes Werk "Die zerbrochene Säule" von 1944: In
einer düsteren Landschaft ist ein entblößter, geöffneter
Frauenkörper aufgerichtet, in dem eine zerbröckelnde ionische
Säule, durch Riemen zusammengehalten, die zertrümmerte Wirbelsäule
der Malerin symbolisiert und zugleich den fundamentalen Bruch ihrer Existenz.
Körper ist zunächst
schon jeder materielle Gegenstand. Körper ist alles, was einen bestimmten,
meßbaren Raum füllt. Damit steht der Körper im Gegensatz
zum Unmeßbaren, zum Beispiel der Seele. Mathematisch betrachtet gilt
jedes dreidimensionale Gebilde als Körper, physikalisch jedes makroskopische
System, das aus einer sehr großen Zahl von Molekülen oder Atomen
besteht.
Die begriffliche und sprachliche
Differenzierung von Leib und Körper erfährt im historischen Verlauf
Veränderungen, die immer auch zugleich das jeweilige Menschenbild
prägen.
Indikator für das
Menschenbild
So spannt sich ein weiter
Bogen von der Antike und ihrem Verständnis der physischen Existenz
des Menschen bis hin zur Postmodeme, die ihn als fraktales Subjekt oder
menschlich kodiertes Terminal versteht und den Leichnam als herrenloses,
verfügbares Gut. [2]
Schon immer war der Umgang
einer Kultur mit dem toten Leib ein verläßlicher Indikator für
das vorherrschende Menschenbild. Seine wirklich humanen Züge entfaltete
der Homo sapiens in dem Augenblick, als er sich nicht nur altruistisch
um seine Artgenossen bemühte, sondern begann, seine Toten zu beerdigen.
Das griechische "soma" steht
anfänglich, zum Beispiel bei Homer, für den (toten) menschlichen
oder tierischen Körper, den Körper als Ding. Bei den Vorsokratikern
tritt die Seele zum Körper hinzu. Für Plato ist "soma" das Sichtbare
des Menschen, das aber noch nicht das Ganze der Person ausmacht. Der Körper
des Toten ist für ihn ein Scheinbild, während die Seele den wahren
und unsterblichen Teil darstellt. Die Stoiker betrachten den Leib als Organ
des Logos. Später erfährt der Leibbegriff überindividuelle
Ausweitungen, so in der Übertragung des Bildes vom Leib auf den Staat
bei Aristoteles, oder die Deutung des Kosmos als Leib, ebenso wie des Leibes
als Kosmos. Demokrits berühmter Satz vom Menschen als Mikrokosmos
wurzelt in dieser Betrachtungsweise. [3]
Auch bei vielen Naturvölkern
wird der Leib nicht abgetrennt von der Natur erlebt, sondern ist innig
mit ihm vermengt, bildet eine Kontinuität mit ihm. Vom langen Körper
sprechen einige Indianerstämme und verstehen darunter den Leib in
seinen Metamorphosen und Bedeutungsinhalten von der Geburt bis zum Tode.
Beschwichtigende Sinnbilder
Im Christentum ist der Leib
ebenfalls mehr als reine Physis. Er wird spirituell und mystisch verstanden
als das Ganze, das eigentliche Ich, die Person, wie es auch in der Abendmahlszene
deutlich wird ("Dies ist mein Leib ...", Mk. 14. 22). Er steht aber auch
allegorisch als Symbol für die Kirche, den Staat oder die Familie.
Auferstehung und Weiterleben
nach dem Tod werden im christlichen Verständnis wie im Islam leiblich
begriffen, freilich im spirituellen Sinne. Wenn es einen irdischen Leib
gibt, gibt es auch einen überirdischen, so lautet die paulinische
Antwort an die Korinther (1. Kor. 15. 44). Freilich ist für Paulus
der Menschenleib nur ein "nacktes Samenkorn", das erst im Erdreich sterben
muß, bevor ihm von Gott neues Leben geschenkt wird.
Gerade durch christliches
Martyrium im 3. Jahrhundert erfuhr dieses heile Bild eine harte Prüfung:
Werden auch diejenigen "fleischlich" auferstehen, deren Leiber zerstückelt
oder von den wilden Tieren im Zirkus verschlungen wurden? Hier halfen beschwichtigende
Sinnbilder, wie die vom "wieder aufgebauten Tempel", der "reparierten Statue"
oder der "zersprungenen Vase", die von einem geduldigen Demiurgen wieder
zusammengeflickt wird.
Fleischlose Schau
Nicht minder schwierige Fragen
ergaben sich für den Zwischenzustand zwischen Tod und jüngstem
Gericht: Wie kann die Seele ohne den abgetrennten Leib bestehen? Unnatürlich
sei die Körperlosigkeit der Seele, argumentierten die Franziskaner,
sie empfinde ein regelrechtes Körperbegehren, quasi eine Art Phantomschmerz.
Dem hielt Thomas von Aquin entgegen, die Seele enthalte bereits den Leib
- als Form -, sie sei das Prinzip seiner Einheit. Eine Sonderlösung
wurde für die Heiligen ersonnen: Sie brauchten im Jenseits, so befand
Papst Benedikt XII. im Jahr 1336, keinen Leib. Fleischlos sei ihnen sofort
nach ihrem Tode die selige Schau Gottes gewiß. [4]
Nach dem Verständnis
der Scholastiker konnten aus Brot und Wein durch den Akt der Wandlung ("Transsubstantiation")
"Christi Leib und Blut" real gegenwärtig werden und sich konkret leiblich
der menschlichen Wahrnehmung darbieten. In einem Akt der Entontologisierung
hat dann der Denkgestus der Reformation Brot und Wein lediglich zu "Zeichen"
des Leibes und Blutes Christi umgedeutet, mit denen an das Erlösungsgeschehen
erinnert werden sollte.
Im Gegensatz zum Christentum
besitzen das Altsemitische und Hebräische keinen besonderen Ausdruck
oder Begriff für Leib. Wenn der Mensch dort Fleisch genannt wird,
so ist er als Ganzer in seiner Hinfälligkeit gemeint. Fleisch, das
bedeutet den unzulänglichen Menschen. So verwendet noch das Grimmsche
Wörterbuch die Begriffe "Fleischlin" für ein junges Mädchen
und "ein schlimm Stück Fleisch" für böse alte Frauen. [5]
Der Taoismus erlaubt der
Person die Überschreitung des Leibseins, in dem sie meditativ das
Universum inkorporiert. In dieser Dimension kann der Leib sich bis zum
Universum ausdehnen und ist, obwohl begrenzt, auch die ganze Welt zugleich.
Das Körperverständnis im Buddhismus, ausgehend von drei Körpern
(Hervorbringungskörper, Seligkeitskörper und Wahrheitskörper)
ist auf den abendländischen Begriff von Körper oder Leib nur
unzulänglich übertragbar. [6]
Min lip
Im Mittelalter und der frühen
Renaissance stellt der Leibbegriff immer noch eine idealisierte Projektion,
eine Entität dar, die für die erkennbare Form des Menschen steht,
ihn als Ganzes enthält. "Min lip" wurde synonym mit "ich" verwendet.
Der Leibeigene war seinem Herrn mit dem "Übe eigen", mit seinem Leben
als Person zugehörig. Ganz anders bereits der Sklave im Amerika des
17. und 18. Jahrhunderts, der als purer Körper in harter Währung
gehandelt und dessen Wert nach seiner körperlichen Funktionsfähigkeit
bemessen wurde.
Die Geburt des modernen Körpers
als Objekt von Medizin und Biologie, seine Versachlichung als anatomisches
Gebilde, als mechanistische Konstruktion bis zur heutigen Auffassung als
biochemischer Maschine, vollzieht sich im 16. Jahrhundert. Im gleichen
Jahr 1543, in dem Kopernikus "De revolutionibus orbium coelestium" veröffentlicht,
legt Vesalius [7] sein Werk "De humanis corpori fabrica" vor, anatomische
Darstellungen des Menschen von höchster Detailtreue. Sie ermöglichen
die präparatorischen Schauspiele in den anatomischen Theatern von
Padua bis Leiden, oft vor illustrem Publikum von hohem Rang, und fokussieren
das Interesse auf die Körperlichkeit des Menschen, seine strukturellen
Manifestationen.
Aber die Vesalschen Abbildungen
des menschlichen Körpers haben bereits den kalten Blick der Vivisektion.
Die gehäuteten Objekte sind Projektionen einer herzlosen Schau, ganz
anders als die Darstellungen Leonardo da Vincis. Obwohl auch er Perfektion
anstrebt - zwei Dutzend Leichen mußte er nachts öffnen, bis
er glaubte, ein einziges Organ aus allen Perspektiven erfaßt zu haben
- eignet seinen Darstellungen noch die Qualität des Lebendigen. Dennoch:
Der aufschneidbare "niedrige" Körper wird zwangsläufig separiert
von den "höheren" Eigenschaften des Geistes.
In der Betrachtung Michel
Foucaults "Die Geburt der Klinik", [8] die er eine "Archäologie des
ärztlichen Blicks" nennt, regt er an, die Abhängigkeit der Medizin
von den unterschiedlichen Interpretationen des menschlichen Körpers
zu studieren. Ihre Geschichte sei besser zu begreifen, wenn man der Logik
der verschiedenen Konzepte des Körpers folge. "Öffnen Sie einige
Leichen!", ruft Foucault aus, und "die Nacht des Lebendigen weicht vor
der Helligkeit des Todes ...!"
Das größte Hindernis
bei der anatomischen Präparation bildete zunächst die katholische
Kirche. Noch um 1300 wetterte Papst Bonifatius VIII. in seiner Bulle De
sepultris gegen die Zerlegung von Leichen, dem Anschein nach aus Pietät,
obwohl öffentliche Folterungen, Zerstückelungen und Exekutionen
von der Kirche sehr wohl geduldet wurden. Die Bulle richtete sich vordergründig
gegen die zunehmende Gewohnheit, das Skelett der im Orient umgekommenen
Kreuzfahrer nach Abkochen der Leiche zurück nach Europa zu verfrachten.
Der tiefere Grund aber mag die drohende Entthronung des Schöpfers
durch die Zerteilung seiner Geschöpfe sein.
"Denn Autopsie", so Durs
Grünbein, "ist der sicherste Weg zum Verlust des Glaubens oder, wem
das nicht ausreicht, zur Befestigung des Unglaubens." [9] Und er weiß
um die Folgen: "Das Zerlegen der Körper ist der Königsweg zum
Absurden genauso wie zur äußeren pragmatischen Demut."
Schatten des Mechanismus
Descartes [10] leitet die
Subjekt-Objektspaltung ein, nach deren Verständnis der Körper
eine menschliche Maschine ist und der kranke Mensch vergleichbar einer
schlecht gemachten Uhr, Betrachtungsweisen die den Ausgangspunkt für
epochale Entdeckungen, wie der des Kreislaufs durch William Harvey bilden.
Das mechanistische Körperverständnis begleitet von da an Biologie
und Medizin wie ein Schatten, der selbst die Seelenforschung nicht ausspart:
Von (An-)Trieb spricht Freud, vom psychischen Apparat. [11]
Der Körper der klassischen
Medizin war ein diffiziles Gebilde aus Säften und Eigenschaften. Jetzt
begannen die Ärzte zum erstenmal den Körper als großes
mechanisches Gebilde zu sehen, als extrem komplizierte Maschine. Der französische
Arzt und Philosoph Julien Offray de La Mettrie widmet dieser aufregenden
Maschine sein revolutionäres Buch: "L'Homme machine":
Braucht es noch
mehr ...um zu beweisen, daß der Mensch nichts als ein Tier ist oder
ein Bündel mechanischer Federn, die sich gegenseitig in einer Weise
aufziehen, daß man nicht sagen kann, an welchem Punkt des menschlichen
Triebwerks die Natur begonnen hat? In der Tat, ich irre mich nicht; der
menschliche Körper ist ein Uhrwerk. [12]
In der Hochblüte der latromechanik
beschrieb Friedrich Hoffmann [13] (Entdecker der "Hoffmanns-Tropfen"),
Aesculapius hallensis genannt, um 1720 den Menschen in seiner "Medicina
mechanica" als "hydraulische Maschine", zusammengesetzt aus großen
und kleinen Röhren, in denen Blut, Lymphe und eine hypothetische Nervenflüssigkeit,
der sogenannte "Spiritus animalis", zirkulierte. Das Ganze wurde immerhin
noch von Gott in Bewegung gesetzt.
Die Weisheit des Körpers,
der der amerikanische Physiologe Walter Bradford Cannon [14] in den dreißiger
Jahren ein ganzes Buch widmete, wird nunmehr folgerichtig nicht spirituell
verstanden, sondern rein biologistisch. Sie äußert sich in einem
möglichst perfekten physiologischen Funktionieren des menschlichen
Körpers als Maschine und stellt auch eine Eigenschaft des Tierkörpers
dar. [15]
Als biochemische Maschine
verstehen moderne Biologen wie zum Beispiel Jacques Monod [16] den Menschen,
und Genetiker wie Richard Dawkins [17] weisen ihm die Funktion eines puren
DNA-Replikators zu, einer Überlebensmaschine für seine Gene.
Die Reduktion des Menschen oder seiner Organe auf das Fleisch findet sich
auch in der Sprache der künstlichen Intelligenz, wenn beispielsweise
Marvin Minsky das menschliche Gehirn als Fleischmaschine [18] ("meat-machine")
apostrophiert. Er benutzt nicht den Terminus "flesh", also lebendiges Fleisch,
sondern "meat", das Fleisch von Kadavern. Daß in der Sprache der
Organtransplantation von "Kadaver-Nieren" gesprochen wird, dürfte
nicht nur auf einer schludrigen Übersetzung von "cadaver" beruhen,
was im Englischen Leichnam bedeutet, im Deutschen aber verwesendes Fleisch.
In einem amerikanischen Chirurgie-Lehrbuch, dessen Autoren den Begriff
"Organ-Emte" für das Sammeln von "Leichenorganen" zur Transplantation
verwenden, wird der Körper des kranken Menschen als versagende Maschine
beschrieben:
Der Mensch fällt
auseinander, Stück für Stück, ... und ... es ist die Aufgabe
der Transplantation, die verbrauchten Teile zu ersetzen, wenn sie ausfallen.
[19]
Und natürlich hält
das Maschinenbild vom Menschen auch unaufhaltsam Einzug in Kunst und Dichtung.
In Krieg und Frieden schreibt Tolstoi: "Unser Körper ist eine Maschine,
um zu leben. Er ist dafür gebaut, es ist seine Natur." [20]
Nach und nach gerät
der Körper zur Erfindung, er wird zum "sozialen Konstrukt" [21]. "Es
ist der Geist, der sich den Körper baut", findet sich schon bei Schiller.
[22] Der Körper hat keine intrinsische Bedeutung mehr. Die Gesellschaften
erschaffen ihre eigenen Bedeutungen des Körpers. In diesen Prozessen
der Erschaffung des Körpers, seinen Änderungen und Umdeutungen,
wird er schließlich zum sozialen Gebilde, zum sozialen Körper
("social body"). Der individuelle Körper muß dem sozialen Körper
weichen.
Im englischen Habeas Corpus
Act (Gesetz von 1679; Habeas Corpus = "du habest den Körper") wurde
noch deutlich, daß der Körper eine letzte Grenze repräsentiert,
die nicht überschritten werden darf. Diese Grenzlinie ist längst
überwunden. Die Folge sind unter anderem radikale Änderungen
der Körpermodelle.
Die Erfindung des Körpers
Den Körper der heutigen
Frau, so findet Barbara Duden [23], habe weder ihre Großmutter gehabt,
noch Königin Luise oder eine antike Göttin. Die Sozialisierung
des Körpers, seine generelle Verfügbarkeit für die Gesellschaft,
erfährt unter anderem eine unmißverständliche Artikulation
in der Transplantationsmedizin. "Was wertvoll für die Gesellschaft
ist," so lautet der Appell eines Transplantationschirurgen [24], "gebe
ich nach meinem Tod an sie zurück."
Folgt man dieser fragwürdigen
Interpretation, so wird der Körper nicht mehr als Frucht eines Zeugungsaktes
verstanden, sondern als (Aus-) Geburt der Gesellschaft, über die sie
autonom verfügen kann. Das Verständnis des Körpers als soziales
Konstrukt macht ihn zu einem diskursiven Gebilde (discursive formation).
Sobald die Patienten selbst begännen, ihren Körper in dieser
neuen Weise zu verstehen, so die Vision von Levin und Solomon [25], könnten
sie sich auch von seinen kontraproduktiven Konzepten befreien. Werden sie
aber, so muß die Gegenfrage lauten, gefeit sein gegen andere Konzepte,
die ihnen aus den verschiedensten Motiven von außen aufoktroyiert
werden?
Wenn der genormte, wie geklont
wirkende Körper des Models zum Ideal stilisiert wird, wie dann auskommen
mit dem eigenen Körper, sobald er als subjektives Körperschema
vom Ideal abweicht? Bleibt dann nur die Flucht in Anorexie und Bulimie,
die - auch bei jungen Männern - im Zunehmen begriffen sind?
Dieser Körper als soziales
Konstrukt ist ein öffentlicher Körper, ein "öffentlicher
Ort". Seine Sichtbarmachung, noch bevor er geboren ist, wird konsequent
mittels Ultraschall oder Fötoskopie in situ betrieben. Hier geht es
nicht mehr um die noch naive Neugierde, die vielleicht vor mehreren Jahrzehnten
den damals aufregenden Bildern heranreifender Föten eines Lennart
Nilsson zugrunde lag, sondern um entlarvende optische Vorgriffe, nicht
selten mit letaler Konsequenz.
Die Enthüllung des sozialen
Körpers ist geboten und wird freizügig gewährt. Dies gilt
ebenso für amerikanische Präsidenten, deren Operationssitus in
den Medien detailliert dargestellt wird, wie für den Rentner mit der
AOK-Chipcard. Schritt für Schritt wurde so der einst geheiligte Leib,
geschützt durch kulturelle Tabus, der nicht verfügbar und nicht
teilbar war, der einen Wert hatte, aber keinen Preis, zur weltlichen Maschine,
zu profanem Fleisch.
Demütigung
Dieser Objektkörper
ist allen invasiven Methoden geöffnet. Kaum irgendwo wurde die Demütigung
des Menschen durch solche Eingriffe, aber auch die verlorengegangene Ehrfurcht
vor dem Leib treffender beschrieben als in dem Gedicht "Scham" von Zbiginiew
Herbert: [26]
Als ich sehr krank
war verließ mich die Scham
ohne Einspruch enthüllte
ich fremden Händen überließ fremden Augen
die armseligen Geheimnisse
meines Leibes
Sie drangen alsbald in mich
ein und vergrößerten die Erniedrigung
Mein Professor der Gerichtsmedizin
der alte Mancewicz
verneigte sich wenn er die
Leiche des Selbstmörders
aus dem Formalinteich holte
tief vor ihm als wollte
er um Vergebung bitten
und öffnete dann mit
geübter Hand den herrlichen Brustkorb
die verstummte Kathedrale
des Atems
zart fast zärtlich...
Das Selbstverständnis des
Menschen als Maschine, freilich anfällig und immer wieder reparaturbedürftig,
spielt bis in die Alltagssprache hinein. Der ärztliche Check-up gerät
zur TÜV-Prüfung, die sich an einem DIN-Körper vollzieht.
"Ich komme zum Batteriewechsel", sagt der alte Herr mit Herzschrittmacher
bei der stationären Aufnahme. Auf die Frage, ob er wisse, wo er sich
befinde, antwortet ein deliranter Kranker: "Natürlich, im Krankenhaus,
Abteilung Maschinen und Elektronik."
Barbara Duden beschreibt,
wie ihre Studentinnen in Amerika von sich und ihrer Umwelt als "Systemen"
sprechen: "I must take care of my system, ... my system cannot take this
stress." [27] Eine nicht seltene Redewendung Verliebter lautet: "Honey,
you got into my system ..." Und die feministische Politologin Donna Haraway
[28] schlägt ernsthaft vor, Frauen sollten sich als Cyborgs erleben,
als synthetische Geschöpfe aus kybernetischen Systemen und Organismen.
Ihr Uterus sei potentiell das systemische Umfeld für ein sich dort
einnistendes Immunsystem.
Warme Leichen und kalte
Embryonen
Der Körper der modernen
Medizin ist reduziert auf die Summe seiner Organe und Funktionen. Er ist
beliebig zergliederbar, in wachsendem Maße in seinen Teilen austauschbar.
Die Quelle der "lebensfrischen" Organe ist der hirntote Mensch. Eine "leere
Körperhülle" soll dieser Mensch sein, ein Körper, in dem
kein "Du" mehr angesprochen werden kann. [29] Die hirntote Schwangere wird
als "Retorte" bezeichnet, als "hochkomplizierter Brutkasten", als "uterines
Versorgungssystem", obwohl ihr Körper noch imstande ist, zu gebären
und gesunde Kinder auszutragen.
Daß ein menschliches
Herz innerhalb von zwei Wochen durch Reimplantation in drei verschiedenen
Körpern schlägt, ist schon keine Sensation mehr. [30] Bei der
"Domino-Transplantation" [31] werden überzählige Organe des Empfängers,
wie beispielsweise bei en-bloque-Einpflanzung eines Herz-Lungen-Transplantats
das "alte" Herz einem anderen Empfängern implantiert; schauriger Reigen
oder ökonomischer Umgang mit Körperteilen?
Warme Leichen und kalte Embryonen
werden, wie es der französische Psychoanalytiker Michel Tort beschreibt,
zu den begehrten Objekten der Gesellschaft. [32] Die Industrialisierung
des Lebens, die historisch mit dem Verkauf von Muskelarbeit in der Sklaverei
ihren Anfang genommen hat, setzt sich konsequent über die Vermietung
des Körpers (Leihmutterschaft) bis zur Organtransplantation fort.
[33]
Der Körper wird verstanden
und gehandhabt als Ressource von Fremdkörpern für andere Körper
und mit allen denkbaren Fremdkörpern bestückbar. Nicht mehr in
Afrika oder Südamerika liegen die umkämpften Rohstoffe, sondern
"im körperlichen wie genetischen 'Material' von Menschen". [34]
Das Genom des Menschen, also
die Summe seiner Erbeigenschaften, wurde soeben in einer Bioethik-Deklaration
der UNESCO zum gemeinsamen Erbe der Menschheit ernannt. [35] Eine großartige
Geste, wie es scheint. Aber kann man die eigentliche Identität des
Menschen zum biologischen und rechtlichen Objekt machen und zur allgemeinen
Verfügung freigeben wie die Mondoberfläche oder den Meeresboden?
Die Motivation für dieses globale Vermächtnis wird deutlicher,
wenn in dem gleichen Papier von der Möglichkeit und Rechtmäßigkeit
von Eingriffen zu "wissenschaftlichen, therapeutischen und diagnostischen
Zwecken" die Rede ist.
Simulated patient
Dieser Körper ist käuflich
und verkäuflich, wie der florierende Organhandel in der Dritten Welt
zeigt. [36] Er wird zum Objekt sozialer Verfügbarkeit und fremder
Ansprüche. Als Ressource betrachtet, muß er zwangsläufig
einer gerechten Verteilung zugeführt werden. "Nach unserer Auffassung
scheint es ganz natürlich, zu sagen, daß die Organe lebender
Personen lebenswichtige Gesundheitsressourcen sind, die wie alle andere
lebenswichtigen Ressourcen gerecht verteilt werden müssen", schreiben
zwei Bioethiker:
Wir könnten
uns daher gezwungen sehen, daß alte Menschen getötet werden,
damit ihre Organe an jüngere, schwerstkranke Personen umverteilt werden
können, die ohne diese Organe bald sterben. ... Schließlich
benutzen die alten Menschen lebenswichtige Ressourcen auf Kosten von bedürftigen
jüngeren Menschen [37]
Dieser Körper weckt Begehrlichkeiten,
die die Medizin zunehmend weniger befriedigen kann. Im Fadenkreuz eines
expandierenden Utilitarismus gilt er als herrenloses Gut. Sein einziges
legitimes Geheimnis besteht in seiner Funktionalität. Die Bionik,
[38] deren ausschließliches Interesse als unheiliger Allianz aus
Biologie und Technik darin besteht, der Natur Anregungen für eigenständiges,
technisches Gestalten abzugewinnen ("Technische Biologie") wird als unverzichtbare
Grundlagenforschung und zivilisatorisch-kulturelle Aufgabe bewertet. Für
den Reichtum an den überwältigenden ästhetischen Aspekten
der Körperlichkeit ist sie blind.
Die Verzichtbarkeit des realen
Körpers in bestimmten Bereichen, von der Edukation bis zum Cybersex
zeichnet sich ab. [39] Der simulierte Körper in der virtuellen Realität
ist im Vormarsch. Der SP, der "simulated patient" gehört in den USA
bereits zum Alltag der Medizinerausbildung. Der digitale Leichnam und das
virtuelle Gelenk dienen anatomischen Studien sowie der Übung und Planung
von Operationen. Im "OP 2015" beschmutzt kein Chirurg mehr dank der von
ihm entwickelten Software seine Hände, sondern betreibt unbefleckt
"Cyberstick-Chirurgie". Aus einer "algorithmischen" Ursuppe, so die Visionen
der virtual reality-Experten, [40] also mittels Rechenprozessen, wird sich
eines Tages im Cyberspace virtuelles Leben erschaffen lassen.
Körper oder Biokitt?
Die Kolonisierung des Körpers,
wie Paul Virilio sie nennt, [41] schreitet unaufhaltsam fort, beschleunigt
durch die ständig weiter ins Extrem getriebene Miniaturisierung technischer
Mittel. Die natürliche Evolution macht schrittweise der technischen
Selektion Platz, weicht einer Art Technodarwinismus. Die implantierbaren
Bioprothesen der guten alten Zeit (Schrittmacher, Defibrillatoren, Pumpen,
Stents, Ventile) wirken wie Fossilien, gemessen an den Produkten einer
Nanotechnologie, die das neue Design des Menschen bestimmt.
Seine Hoch- und Überrüstung
reduziert den Körper schließlich zum Biokitt, zum Platzhalter
für neue Organe und technische Implantate. Im Jahr 2000 werden nach
ernsthaften Einschätzungen Transplantationen und die Inkorporierung
von (Mikro-) Prothesen die Hälfte aller chirurgischen Eingriffe ausmachen.
Die Vision des Australiers Stelarc [42] vom entleerten menschlichen Körper,
dessen "unnütze" Organe in Zukunft durch die neuen Technologien ersetzt
werden, nimmt Gestalt an.
Das Verschwinden des Leibes
und der fragwürdige Triumph eines Körpers, der mit einem sozioökonomischem
Aufwand jenseits aller Vernunft zum biologischen Perpetuum mobile hochgerüstet
werden soll, sind verzahnte Komponenten des gleichen Systems. Systeme gehorchen
in der Regel zirkulären Mechanismen. Arzt und Patient erfahren diese
unentrinnbare Gesetzmäßigkeit tagtäglich aufs neue. [43]
Die Fremdheit, mit der sich beide begegnen, nicht selten die Feindseligkeit,
das Gefühl der Verlorenheit innerhalb einer unüberschaubaren
Gesundheitsmaschinerie von babylonischen Ausmaßen, die Technologien
auch als Zuwendungsersatz mißbraucht, wurzeln letztlich in der Aufgabe
der Idee eines Leibes, der mehr ist als funktionierendes Fleisch. [44]
Mit dem Verschwinden des
Leibes verschwindet nach und nach auch die Fähigkeit zu "leibhaftiger"
Empfindung und Wahrnehmung. "In der Welt, in der ich lebe", schreibt die
junge Soziologin Annegret Fründ, [45] "trauere ich der verlorengegangenen
Leibhaftigkeit von Gefühlen nach." Die Warnung Nietzsches an die Verächter
des Leibes, den er "eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem
Sinne" nannte und ihn höher schätzte als die "beste Weisheit",
[46] ist längst in den Wind geschlagen.
Folgt dem Verschwinden des
Leibes vielleicht auch die Auflösung des Körpers, die Liquidation
der körperlichen Individualität zugunsten von Fremdkörper-Konglomeraten,
in denen weder Person noch Seele Raum haben? Wir bleiben in unserem Pessimismus
nicht ungetröstet. Nach der Eigengesetzlichkeit des Machbaren wird
die Medizin ihr Versprechen "Wir machen alles neu", nicht uneingelöst
lassen. [47] Ob sie dann die Sprache des Leibes noch verstehen wird, sei
dahingestellt. "Sie interessieren sich hauptsächlich für mein
Herz und meine Lunge", sagt die junge Organempfängerin. "Aber das
sind ja gar nicht meine Organe. Das bin ich nicht. Mich gibt es nicht mehr."
[48]
Literatur:
[1] Benn, G.: Der
Arzt. Ges. Werke. München 1975. S.11.
[2] Schoeppe, W.: Der
Leichnam gesetzlich ein herrenloses Gut. F.A.Z., 22.07.1994. S. 8.
[3] Stoa: Seneca:
Epistulae morales ad Lucilium. (An Lucilius. Briefe über Ethik. Hrsg.
u. übers. v. M. Rosenbach. Darmstadt 1989.); Aristoteles: Opera.
Hrsg. v. I. Bekker, 5. Bde. Nachdruck. 1961-1970; Demokrit: Kranz, W./Diehls
H. (Hg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. 1985.
[4] Bynum, C.W.: The
Ressurection of the Body in Western Christianity. 200-1336. Columbia University
Press, New York 1995.
[5] Grimm, J. u. W.: Deutsches
Wörterbuch. Leipzig.1854-1961
[6] Dalai Lama, S. H.
der XIV.: Einführung in den Buddhismus - Die Harvard-Vorlesungen.
Herder Verlag; Freiburg im Breisgau 1993.
[7] Vesalius, A.: De
humani corporis fabrica libri septem. Basel 1543.
[8] Foucault, M.: Die
Geburt der Klinik. Fischer Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1988.
[9] Grünbein, D.:
Rede
zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 1995 am 21. Oktober 1995
in Darmstadt. taz, 23. 10.1995, S. 15
[10] Descartes, R.: Discours
de la Méthode. Leiden 1637
[11] Freud, S.: Abriß
der Psychoanalyse. Frankfurt/Main 1972.
[12] La Mettrie, J. O.
de: L´Homme machine. 1748.
[13] Hoffmann, F.:
Opera omnia. 1753
[14] Cannon, W. B.: The
Wisdom of the Body. Norton, New York 1932.
[15] Preuss, F. R.: Die
Weisheit des Tierkörpers. In: Anat. Histol. Embryol. 20/1991, S. 261-264
[16] Monod, J.: Zufall
und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. R. Piper
& Co. München. 5. Aufl. 1973
[17] Dawkins, R.:
Das egoistische Gen. Berlin 1978. S. 227
[18] Weizenbaum, J.:
Wer erfindet Computermythen?. Herder. Freiburg/Basel/Wien 1993.
[19] Schwartz, S.I./Shires,
G.T/Spencer, F.C./Stoner, E.H.: Principles of Surgery. 3rd Ed. New
York, McGraw Hill 1979.
[20] Tolstoi, L.:
Krieg und Frieden. Buch X, Kapitel 1
[21] Synnott, A.:
Tomb, temple, machine and self: the social construction of the body. Br.
J. Sociol. 1/1992, Seite 79 bis 110
[22] Schiller, F. von:
Wallensteins
Tod II, 13
[23] Duden, B.: Der
Frauenleib als öffentlicher Ort. München 1994.
[24] Gubernatis, G.:
Hannoversche Zeitung, 27.10.1994
[25] Levin, D. M./Solomon,
G.F.: The discursive formation of the body in the history of medicine.
J. Med. Philos. (Netherlands), 5/1990, Seite 515 bis 537
[26] Herbert, Z.: Rovigo.
Gedichte. Frankfurt am Main. 1995. S. 37
[27] Duden, B.: ebd.
[28] Haraway, D.:
The Bio-Politics of Postmodern Bodies: Constitutions of Self in Immune
System Discourse. In: Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature.
London. 1991
[29] Schöne-Seifert,
B.: Stellungnahme zum Transplantationsgesetz am 28. Juni 1995 vor dem
Gesundheitsausschuß des Bundetages in Bonn.
[30] Pasic, M. u.a.: Brief
Report: Reuse of a transplanted heart. In: N. Engl. J. Med 5/1993, S. 319
bis 320
[31] Cochrane, A.D./Smith
J.A./Esmore, D.S.: The "domini-donor" operation in heart and lung transplantation
. In: Med. J. Aust. 9/1991, S. 589 bis 593
[32] Tort, M.: Le
désir froid - Procreation artificielle et crise des repères
symboliques.
[33] Mies, M.: Wider
die Industrialisierung des Lebens. Eine feministische Kritik der Gen- und
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Geisler, Linus S.: Das Verschwinden
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UNIVERSITAS, Nr. 598, Stuttgart 1996, 51. Jahrgang, S. 386 bis 397. |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9604universitas_leib.html |
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