So steht der Arzt im Spannungsfeld
vieler Interessengruppen. Dennoch: was den guten Arzt ausmacht, definiert
sich aus der Beziehung zu seinen Patienten. Die Stunde der Wahrheit wird
in dieser Interaktion zweier Menschen offensichtlich, in der sonst kaum
gekannte Grade menschlicher Annäherung möglich sind.
Um die Frage nach dem guten
Arzt perspektivisch einzukreisen und systematisch anzugehen erscheint es
sinnvoll, an drei partizipierende Gruppen die Frage nach dem guten, dem
idealen Arzt zu stellen:
-
Medizinstudenten
-
praktizierende Ärzte und
last not least
-
Patienten
An der Universität Regensburg
wurden alle vorklinischen Studenten der Jahre 1997-2001 (816 Studenten)
im ersten und zweiten Semester gebeten, die Frage: "Wie stellen Sie sich
den idealen Arzt vor?" zu beantworten. Insgesamt zeigte sich, daß
die Studenten ein recht homogenes und differenziertes Bild vom idealen
Arzt hatten. Im Vordergrund standen seine Kompetenz, seine Aufmerksamkeit
gegenüber dem Patienten und sein Interesse an ihm. Sensibilität,
Freundlichkeit und sympathische Ausstrahlung erschienen ebenfalls als wichtig,
kamen aber erst an zweiter Stelle.
In einer Studie 1999 über
die ärztlichen Wunsch- und Leitbilder bei niedergelassenen Ärzten
und Ärztinnen in Abhängigkeit von der Dauer der Beruftätigkeit
schälte sich heraus, der ideale Arzt solle kompetent, engagiert und
verständnisvoll sein. Daneben wurden häufig Fähigkeiten
wie Zuhörenkönnen, Empathie und Fürsorge genannt. Ärzte
mit der längsten Berufserfahrung fanden die Vorstellung einer partnerschaftlichen
Arzt-Patienten-Beziehung besonders wichtig. Sie nannten als ihr Ideal am
häufigsten die menschliche Zuwendung.
In einer europäischen
Gemeinschaftsstudie führte das Institut für angewandte Qualitätsförderung
und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA) eine schriftliche Befragung unter
Patienten von zwölf Praxen, acht aus den alten und vier aus den neuen
Bundesländern durch. Gefragt wurde, wie sie ihren Hausarzt sehen wollten,
aber auch wie er nicht sein sollte.
In den 435 auswertbaren Fragebögen
rangierten neben der Erreichbarkeit und Verfügbarkeit des Hausarztes
folgende Antworten an bevorzugter Stelle: Verläßlichkeit, Vertrauen,
Information und Kommunikation, Fachkompetenz, emotionale Unterstützung
und Beratung. Nicht minder interessant sind die Angaben, wie der Hausarzt
auf keinen Fall sein sollte, nämlich unfreundlich, ungeduldig, überheblich,
unpersönlich, kalt und ohne Interesse.
Noch aufschlußreicher
erscheint mir eine kürzlich veröffentlichte Befragung von über
12 600 Patienten aus 51 Krankenhäusern in den USA. Sie wurden nach
ihrer Entlassung gebeten, mögliche Hauptgründe zu nennen, um
ein Krankenhaus weiter zu empfehlen. Die Antwort lautete: mit Respekt und
Würde behandelt zu werden und den Ärzten vertrauen zu können.
Diese Studien sollten nicht
daran hindern, kritisch die Frage nach der grundsätzlichen Definierbarkeit
des guten Arztes zu stellen. Klaus Dörner, der sich wohl die differenziertesten
Gedanken zum Phänomen des guten Arztes gemacht hat, schreibt am Ende
seines Buches "Der gute Arzt": "Ich schließe mit einer Art Scherz,
nämlich mit einer Definition des "guten Arztes", was natürlich
Unsinn ist, da dies zum nichtdefinierbaren Teil der Wirklichkeit gehört."
Es ist relativ leicht, Arzt zu werden,
aber schwer, ein guter Arzt zu sein. |
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Natürlich bleibt Dörner
dem Titel seines Buches verpflichtet und fährt fort: "Dem guten Arzt
ist bei geöffneten medizinischen Augen der ärztliche Augenaufschlag
eigen; er hört - getrennt voneinander - die Wünsche und das Wohl
der Patienten beziehungsweise der Angehörigen; er ist - ihn berührend
- vom Anderen berührt; er ist darauf aus, das Hirnkonzept des Menschen
in die größere Weisheit seines Leibes einzubetten; und sein
schon waches Können und Wissen ist von seinem Gewissen verändert,
angerufen, geweckt."
Bis zum Verstehen oder schließlich
Akzeptieren eines solchen Konzeptes ist allerdings ein weiter Weg zurückzulegen.
Es wäre vermessen zu behaupten, dieser Vortrag könnte ein Wegbereiter
sein. Viel wäre schon mit der Erkenntnis erreicht, daß ein solcher
langer Weg - sicherlich als einer unter mehreren - existiert. Denn es ist
relativ leicht, Arzt zu werden, aber schwer, ein guter Arzt zu sein (von
Troschke).
Damit taucht die nächste
Frage auf: Kann man überhaupt lernen, ein guter Arzt zu werden? Wenn
der gute Arzt die Verkörperung einer bestimmten Grundhaltung darstellt
- wie kommt man zu so einer Haltung, die offensichtlich in keinem Studienplan
als Ausbildungsziel verankert ist?
Die der Ausbildungsordnung
für Ärzte (AOÄ) vorangestellte Präambel entwirft kein
klares Bild des guten Arztes. Dort heißt es lakonisch: "Ziel der
ärztlichen Ausbildung ist der wissenschaftlich und praktisch in der
Medizin ausgebildete Arzt, der zur eigenverantwortlichen und selbständigen
Berufsausübung, zur Weiterbildung und zur ständigen Fortbildung
befähigt ist."
Klaus Dörner beginnt
sein Buch über den guten Arzt mit den Worten: "Jeder Arzt denkt im
Stillen, im Selbstgespräch, ständig darüber nach, wie er
ein ,guter Arzt‘, wie er zu einem ärztlich ,guten Leben‘ kommen könne
... Kein Arzt kann nicht darüber nachdenken."
Ist das wirklich so? Wenn
der junge Arzt, durch ein naturwissenschaftlich kopflastiges Studium im
günstigsten Fall in seinem Altruismus noch relativ unbeschädigt
seinen Beruf aufnimmt, greifen dann nicht ganz andere Überlegungen
in seinem Denken Raum? Das Unbehagen, nicht nur eingesetzt, sondern auch
ausgesetzt (ausgebeutet) zu werden? Die Sorge um die nächste Vertragverlängerung?
Die Erkenntnis, daß das System, in dem er arbeiten muß, kaum
etwas mit seinen Idealen von früher zu tun hat?
Auf hohes soziales Prestige
und üppiges Auskommen kann der junge Arzt in Zukunft nicht mehr rechnen.
Ein kaum entrinnbares Geflecht von Abhängigkeiten, Stressoren und
Pressionen tut sich auf. In den Krankenhäusern wird mit der Etablierung
der sogenannten Fallpauschalen der Vorrang der Ökonomie vor der Humanität
mit Nachdruck durchgesetzt. Arbeitszeiten von 60 Stunden pro Woche und
mehr, überholte Hierarchien und eine kaum zu bewältigende Arbeitsdichte
sind klinischer Alltag. Die Karrierechancen sind mäßig, besonders
für Ärztinnen... Wen wundert, daß rund ein Drittel der
heutigen jungen Ärzte nicht wieder den Arztberuf ergreifen würden.
Eine Art vorauseilende Distanzierung
zum Patienten zeichnet sich bereits im Verhalten der zukünftigen Ärzte
ab. Jährlich brechen 2400 junge Menschen das Medizinstudium ab. Viele
wechseln das Studienfach. Jeder zweite Medizinstudent wird später
nicht als Arzt arbeiten. Der angehende Medizinstudent erwartete vor ein
oder zwei Generationen nichts sehnlicher als den ersten Kontakt mit einem
Kranken. Heute dagegen gehen die Hälfte der neuen Ärzte auf Abstand
zum Patienten.
Wer den Klinikalltag tretmühlenhaft
erlebt, schleift sich selbst allmählich bis zur Farblosigkeit ab. |
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Auseinanderfallende Menschenbilder
und Verstörungen im Rollenverständnis irritieren die Suche des
Arztes nach seiner Identität. Sie zu artikulieren erscheint im System
einer hochtechnisierten Medizin immer schwieriger. Das Resultat ist eine
auffallende Konturlosigkeit der Handelnden und ein kompensatorisches Getriebensein
mit Tunnelblick. So beschreibt sich der amerikanische Klinikarzt Frank
Huyler in seinem Buch "Notaufnahme. Geschichten zwischen Leben und Tod"
als wenig hervorstechende Figur: "Keine großen Einsichten, keine
besondere Freundlichkeit, keine ungewöhnlichen Fähigkeiten, kein
Anzeichen von Zufriedenheit oder Einsamkeit, keine Spur von Visionen oder
Träumen ."
Weltweit ist in der Tat ein
alarmierendes Phänomen zu beobachten: das Phänomen des unglücklichen
Arztes. Eine aktuelle Untersuchung an Allgemeinärzten in England ergab
eine deutliche Abnahme der beruflichen Zufriedenheit. Sie sank, gemessen
an einer Sieben-Punkte-Skala, von durchschnittlich 4,64 Punkten 1998 auf
3,96 Punkte 2001. Die Zahl der Ärzte, die sich in den nächsten
fünf Jahren aus der direkten Patientenversorgung zurückziehen
wollen, stieg im gleichen Zeitraum von 14 auf 22 Prozent.
Ein Editorial des "British
Medical Journal" vom April 2002 widmet sich ausschließlich dem weltweiten
Phänomen der unglücklichen Ärzte ("unhappy doctors"). Arbeitslast
und als unzureichend wahrgenommene Bezahlung scheinen allerdings das Problem
nicht vollständig zu erklären. Als Schlüsselfaktor wertet
die Analyse im BMJ einen Wandel im Verhältnis zwischen Beruf, Patienten
und der Gesellschaft, der Ursache dafür ist, daß der Arztberuf
heute nicht mehr dem entspricht, was die Ärzte sich ursprünglich
erwartet hatten.
Nicht besser ergeht es den
niedergelassenen Ärzten in Deutschland. Mehr als 90 Prozent der niedergelassenen
Vertragsärzte fühlen sich durch die Gesetzgebung im Gesundheitswesen
und durch die Einflußnahme der Politik beziehungsweise der Kassen
auf die Patientenversorgung belastet (NAV-Virchow-Bund). 59 Prozent sind
"ausgelaugt", ebenso viele fühlen sich am Tagesende "völlig erledigt".
Individuation und Sozialisation
der deutschen Ärzte führen, so der Arzt und Politologe Ruebsam-Simon
im "Deutschen Ärzteblatt", zu einem isolierten und autistischen Verhaltensmuster.
Die Wirklichkeit wird mit medikalisiertem "Tunnelblick" unter Ausblendung
politischer und sozialer Wirkfaktoren wahrgenommen. Angstgesteuertes Verhalten
statt Selbstbewußtsein und Zivilcourage wird mehr und mehr zum dominierenden
Verhaltensmuster.
Diese Phänomene sind
aber mit Sicherheit kein spezifisch deutsches Problem. Einschränkung
der Autonomie, massive externe Kontrollen, Zunahme berufsfremder Tätigkeiten
und sinkende Einnahmen sind in weiten Teilen der westlichen Welt - so der
Internationale Kongress für Ärztegesundheit im Oktober 2002 in
Vancouver - das hervorstechende Charakteristikum ärztlicher Arbeitsbedingungen.
Sie finden ihren Niederschlag
unter anderem in einem erhöhten Suizidrisiko (das wiederum Ärztinnen
besonders betrifft), in Depressionen und Abhängigkeitsproblemen (Alkohol,
Sedativa, Opiate). Das Privatleben leidet; 69 Prozent der niedergelassenen
Ärzte bezeichnen es als unbefriedigend und nur 21 Prozent haben genügend
Zeit für eigene Interessen. Trennungs- und Scheidungswahrscheinlichkeit
liegen bei Ärzten über dem Durchschnitt.
Alles ungünstige Vorzeichen
für die Entwicklung zum guten Arzt, denn können unglückliche
Ärzte glückliche Patienten haben? Können die Patienten unzufriedener
Ärzte selbst zufrieden sein? Mit Sicherheit nicht, denn zwischenmenschliche
Kommunikation läuft regelhaft als zirkulärer Prozeß ab.
Eine von der Bertelsmann
Stiftung initiierte und vom Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen
wissenschaftlich betreute Befragung (Ende 2001/Mitte 2002) unter rund 3000
Bürgern über ihre Erfahrungen in Arztpraxen und Kliniken ergab,
daß fast jeder dritte Befragte (31 Prozent) schon einmal den Hausarzt
gewechselt hatte, weil er mit dessen Behandlung nicht einverstanden war.
Über die Hälfte
der Kassenpatienten halten die Qualität der medizinischen Versorgung
in Deutschland für verbesserungsbedürftig, was gut im Einklang
mit der Meinung der behandelnden Ärzte selbst steht: Etwas mehr als
die Hälfte von ihnen ist überzeugt, daß die Qualität
der Behandlungen nicht dem neuesten medizinischen Standard entspricht.
Im Vergleich mit den Staaten der Europäischen Union belegt die Patientenzufriedenheit
in Deutschland nur einen mittleren Platz.
Heute steht nicht das Wohl, sondern der
Wille des Patienten im Vordergrund - ein Paradigmenwechsel. |
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Heute steht nicht das Wohl,
sondern der Wille des Patienten im Vordergrund. Ein Paradigmenwechsel vom
Modell der Fürsorge zum Modell der Autonomie hat sich in den letzten
20 bis 30 Jahren vollzogen und damit auch eine deutliche Verlagerung von
Verantwortung in Richtung des Patienten.
Der gute Samariter von heute
klärt seinen Patienten umfassend, wenn es sein muß schonungslos
auf (informed consent), zeigt ihm alle vernünftigen diagnostischen
und therapeutischen Optionen, sichert sich damit rechtlich weitgehend ab
und überläßt am Ende dem Kranken die Entscheidung. Jetzt
wird dem Patienten alles gewährt, was er will und nichts was er nicht
will - aber auch alles, was er wirklich braucht?
Hat dies noch irgendetwas
zu tun mit der "Idee des Arztes", die Karl Jaspers 1953 konzipierte. Der
Arzt müsse "anders werden, wie Menschen sonst sind". Das Höchste,
was dem Arzt gelingen könne "ist schicksalsgefährdet zu werden
mit dem Kranken". In nicht vorausberechenbaren Grenzfällen könne
zwischen Arzt und Krankem "Freundschaft" entstehen...
Wer nach dem guten Arzt fragt,
müßte auch nach dem "guten Patienten" fragen. Vielleicht ist
auch er nur ein Phantom, eine Projektionsfläche des kranken Menschen,
das sich komplementär zur Welt des guten Arztes verhält. In Wirklichkeit
aber, so wird eingewandt, dominiert heute eher der sogenannte "fragmentierte
Patient" (Walter Böker). Die konventionelle Gesprächstechnik
der Ärzte zerlegt die Patientenäußerungen in Einzelbeschwerden
und blendet das Selbstbild des Kranken, seine Deutung und Auslegung der
Krankheit aus.
Die auf dieser Grundlage
in Gang gesetzte, oft rational letztlich gar nicht begründbare umfangreiche
Diagnostik liefert dann zwangsläufig Datensammlungen, die das Leiden
des Kranken nur bruchstückhaft und unzusammenhängend wiedergeben.
Was resultiert ist der fragmentierte Patient. Der Arzt, der sich diese
Herangehensweise an den Kranken langfristig zu eigen macht, wird schließlich
zum fragmentierten Arzt, unfähig seinen Patienten in der Ganzheit
seines Leidens wahrzunehmen.
Es ist unverkennbar, daß
dieser fragmentierte Arzt als Gegenstück des guten Arztes zu begreifen
ist. Er freilich ist wiederum das Resultat einer ärztlichen Ausbildung,
die das dialogische Prinzip als Urelement des Umgangs von Arzt und Patient
sträflich vernachlässigt, den klinischen Blick als Hantieren
mit weichen Daten abtut und auf die unlimitierte Erhebung harter Daten
setzt.
In diesen Datenbergen, die
manchmal nicht mehr als Datenfriedhöfe sind, ist der Patient mit seiner
individuellen Leidens- und Lebensgeschichte nur noch auszumachen, wenn
der Blick auf Person und Persönlichkeit nicht durch sie restlos verstellt
wird.
Reicht es, sich mit einem entidealisierten
Arztbild zu begnügen, das im Mainstream nirgendwo aneckt? |
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Es wird beklagt und trifft in
vielem zu, daß der heutige Arzt sich häufig als hilfloser Akteur
im Gesundheitswesen zwischen Patienten, Kollegen, Krankenversicherungen
und Politik tief verunsichert erlebt. Richtlinien, Grundsätze und
Empfehlungen zum Beispiel der BÄK zu aktuellen Fragen wie Sterbebegleitung,
Transplantationsmedizin oder Fortpflanzungsmedizin geben seinen Handlungsspielraum
vor.
Diagnose und Therapie bei
verschiedensten Krankheitsbildern, von der Hypertonie bis zur Fußmykose,
erheben in Form von Leitlinien diverser Fachgesellschaften den Anspruch
normierter Handlungsanweisungen. Die evidenz-basierte Medizin (EBM) versteht
sich als Grundlage ärztlichen Handelns, ein Anspruch, der völlig
verkennt, daß Medizin bei aller Naturwissenschaftlichkeit ebenso
Erfahrungswissenschaft ist, und verschweigt, daß EBM selbst nicht
evidenz-basiert ist.
Internationale Abkommen wie
der Nürnberger Kodex von 1947, die Deklaration von Helsinki 1964 oder
die EU-Biopatentrichtlinie von 1998 stellen weitere bioethische Rahmenrichtlinien
dar, ohne daß hier eine weltweit verbindliche ethische Sprachregelung,
ein moralisches Esperanto gelungen wäre.
Hinzu kommt, daß im
biotechnischen Zeitalter Menschenbilder das gegenwärtige Ethos des
Heilens dominieren, deren therapeutische Optionen vorwiegend auf Reparatur,
regenerative Eingriffe und Ersatz ausgerichtet sind.
Niemand kann ernsthaft verkennen,
daß ärztlichen Entfaltungsmaßnahmen und Handlungsspielräumen
dadurch in einer bisher kaum bekannten Weise Grenzen gesetzt werden. Bedeutet
dies aber auch, daß der Arzt nur noch in schachfigurenhafter Manier,
gelenkt von Systemen, die er nur noch unvollständig durchschaut, zu
agieren vermag? Ist dies der fast unmerklich schon vollzogene Abschied
von einem nostalgischen Relikt, nämlich dem guten Arzt von gestern?
Oder reicht es, sich mit
einem den Zeitverhältnissen angepaßten, quasi entidealisierten
Arztbild zu begnügen, das im Mainstream eines vorwiegend ökonomisch
ausgerichteten Gesundheitswesens nirgendwo mehr aneckt?
Die These, die dem heutigen
Arzt zwar eine Suche nach neuer Identität zugesteht, deren Ergebnis
aber nicht mehr der gute Arzt ist, sondern allenfalls der bessere Arzt,
quasi eine rudimentäre Plusvariante des unhappy doctors, überzeugt
nicht. Denn der gute Arzt, so schwer er auch definitorisch festgemacht
werden kann, eines ist er auf keinen Fall: eine Kompromißfigur im
Spannungsfeld diverser Interessengruppen.
Ein wesentlicher Charakterzug
des guten Arztes sind seine Fähigkeit und seine Bereitschaft, sich
auf seinen Patienten einzulassen. Sich auf den Patienten einzulassen, bedeutet
auch, sich ihm auszusetzen. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas
beschreibt diese Beziehung vom anderen her in einem eindringlichen Bild:
"Es sind die sprechenden Augen des ungeschützten Antlitzes des Anderen,
die mich dazu bewegen, mich ihm auszusetzen."
Die Sprache dieser Augen
läßt sich nicht in einem binären Code erfassen. Sie zu
verstehen und in einer für den Patienten verstehbaren Sprache antworten
zu können, macht eine essentielle Fähigkeit des guten Arztes
aus. Dieser Dialog hat sich wahrscheinlich in seinem Kern nicht verändert,
seit es Ärzte und Patienten gibt, auch wenn er sich in einem gewandelten
technischen Umfeld vollzieht.
Die Einmaligkeit der Begegnung
zwischen Arzt und Patient als einer Interaktion von Ich und Du, die im
Extremfall schicksalsbestimmend sein kann und eine Vertrautheit voraussetzt,
die sonst nur zwischen Ehepartnern oder freundschaftlich tief verbundenen
Menschen gegeben ist, bleibt weitgehend unberührt von den Machbarkeitspotentialen
der jeweils vorherrschenden Medizin. Der gute Arzt ist sich dessen, zumindest
intuitiv bewußt. Nicht umsonst gehört Martin Bubers Buch "Ich
und Du" von 1923 zur Pflichtlektüre von Harvard-Studenten.
Was bisher in diesen Überlegungen
zum guten Arzt nicht auftaucht, ist eine bindende Definition. Aber kann
es sie überhaupt geben? Viele charakteristische Eigenschaften des
guten Arztes sind bereits genannt worden.
Aber wäre es nicht geradezu
kontraproduktiv angesichts der Vielfalt ärztlicher Persönlichkeiten,
ihrer unterschiedlichen Philosophien, ihrer individuellen Erfahrungen eine
in Erz gegossene Figur des guten Arztes schaffen zu wollen, die am Ende
statisch und erhaben kaum mehr etwas mit der komplexen Wirklichkeit einer
patientenzentrierten Medizin zu tun hat? Insofern kann man Jürgen
von Troschke zustimmen, wenn er sagt, schließlich könne jeder
Arzt nur auf seine Weise ein guter Arzt werden und sein.
Vielleicht ist es daher erlaubt,
den guten Arzt einfach zu beschreiben als den Arzt, den wir als Ärzte
uns selbst wünschen, wenn wir krank geworden sind und Hilfe brauchen.
Kein untauglicher Weg, denke ich, denn es hat sich gezeigt, daß der
Arzt, trotz seines Wissens und Könnens, wenn er selbst krank wird,
sich kaum anders verhält als seine Patienten: Er will ernst genommen
werden, er erwartet neben Fachkompetenz Einfühlung, Fürsorge
und Respekt. Er wünscht sich einen dialogfähigen Arzt, der seinen
Blick von Skalen, Zahlen und Monitoren lösen kann und ihm in die Augen
sieht, sich ihm aussetzt und seine eigenen Grenzen kennt.
Der gute Arzt hat den Mut, sich einem
Wandel des ärztlichen Selbstbildes auszusetzen. |
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Dieser Arzt geht der Beziehung
zu seinem Patienten nicht aus dem Weg und weiß, daß diese Beziehung
nur aus einer empathischen Haltung und einem vorurteilslosen Sich-Einlassen
auf den anderen entstehen kann. Sie reicht über das bloße Verstehen
des Kranken hinaus und zielt auch darauf ab, daß dieser sich selbst
versteht. In dieser Beziehung sind ärztliches Krankheitsverständnis
und die Selbstauslegung von Krankheit durch den Patienten nicht sich ausschließende
sondern komplementäre Wirklichkeiten.
Der gute Arzt kennt Mut und
Demut. Er hat den Mut, sich einem Wandel des ärztlichen Selbstbildes
auszusetzen, und ist tapfer genug, sich drohenden institutionellen Einbindungen
und Zwängen nicht kampflos zu unterwerfen. Er ist bemüht, zwischen
vernünftigen Zukunftsvisionen der Wissenschaft und Utopien zu unterscheiden,
die gegen Menschenwürde und menschliches Leben gerichtet sind. Er
ist bemüht, in seinem Wirkungsbereich gerecht zu sein, obgleich er
in einer globalisierten Welt leben muß, in der die gerechte Verteilung
knapper Güter nur unzulänglich gelingt. Er ist demütig genug,
seine eigenen Grenzen und die seiner Profession anzuerkennen.
Ich bin zuversichtlich, daß
die Kunst des guten Arztes nach wie vor erlernbar ist. Es ist mein brennender
Wunsch, daß gerade die junge Ärzteschaft sich für diese
Zuversicht öffnet, auch wenn ihr ärztlicher Alltag nicht selten
im Kontrast zu dieser Hoffnung zu stehen scheint.
Meine Zuversicht leitet sich
ab von der Erkenntnis, daß die "sprechenden Augen" des ungeschützten
Angesichts des Anderen uns wie eh und je ansehen und uns bewegen können,
sich diesem Anderen auszusetzen.
Auszug aus einem Vortrag,
gehalten im März bei einem Symposium in Werneck