Start  <  Vorträge  <  Linus S. Geisler: DER GUTE ARZT - AUF DER SUCHE NACH EINEM VERLORENEN IDEAL?
Download / Druck: PDF-Version (35 kb) PDF-Version
Symposium am 24. März 2004 in Werneck anlässlich der Verabschiedung von Dr. med. Klaus Dufey 
Der gute Arzt 

Auf der Suche nach einem verlorenen Ideal?

Linus S. Geisler
Sich Gedanken zu machen über die Figur des guten Arztes bedeutet, sich mit einer Abfolge stets neu auftauchender Fragezeichen auseinander zu setzen. 

Zunächst drängt sich die Frage auf, was das Wesen des Arztberufes überhaupt ausmacht. Die Antworten darauf fallen durchaus uneinheitlich aus. Der Münchener Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner [1] hat einmal über den ärztlichen Beruf gesagt, er sei wunderlicher Natur, und immer wieder würden geistvolle Köpfe darüber nachdenken, was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft, das Wesentliche sei.

Skeptiker könnten sich fragen, ob der gute Arzt vielleicht sogar in jene anrüchige Kategorie der sog. Gutmenschen gehört, die jede rationale Auseinandersetzung unter dem Deckmantel einer (fadenscheinigen) Moral zu vermeiden versuchen? Eine antiquierte Form des guten Samariters? Sollte man vielleicht besser vom "Gutarzt" sprechen?

Die Frage nach dem guten Arzt wird vielfach gestellt. Aber warum fragt keiner nach der guten Ärztin? Die Approbationsvoraussetzungen für Ärztin und Arzt sind zwar die gleichen, aber die Ausübung ihres Berufs ist unterschiedlich. Bei Problemlösungen arbeiten Männer bevorzugt rational und operieren mit direkten Lösungsansätzen und Ratschlägen, Frauen hingegen streben nach Einfühlung und Nähe und bevorzugen den Diskurs (Buller und Buller) [2]. Das wird uns von linguistischer Seite versichert. Ist also die "gute Ärztin" vielleicht der bessere "gute Arzt"?

Wer überhaupt stellt die Frage nach dem guten Arzt? Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die AOK, der Patient im Rollstuhl, Ulla Schmidt, die reifere Dame, die ihr Seelenheil in der Anwendung von Botox sucht, und die Pharmaindustrie unterschiedliche Idealbilder vom guten Arzt präferieren.

Die Patienten stellen zwar die größte Gruppe dar, aber die Krankenkassen die mächtigste und die Pharmaindustrie die reichste. Daneben existieren ausgesprochen marginale Gruppen wie die eigene Arzt-Familie, deren Vernachlässigung sich allerdings auf die Dauer, wie fast jeder weiß, bitter rächen kann. Überdurchschnittlich hohe Scheidungsraten bei Ärzten sind ein indirekter Hinweis.

Jede dieser Gruppen legt andere Bewertungsmassstäbe an. Für die Krankenkassen zum Beispiel definiert sich ein guter Arzt durch kurze Arbeitsunfähigkeitszeiten der Erkrankten, sparsame Verordnung und pünktliche Beantwortung sämtlicher Anfragen. Die alte allein stehende Dame mit Diabetes hingegen ist vielleicht weniger an einem optimalen HbA1c interessiert, als an der Gelegenheit im Gespräch mit ihrem Arzt Kindheitserinnerungen zu beschwören und angenehmere diätetische Freigrenzen auszuhandeln. 

Das in den Medien gezeigte Arztbild schließlich neigt, so der Ethiker Giovanni Maio [3], wenn es um ethische Fragen geht, zu einer Art "Hollywoodisierung" der Moral, die das Problemfeld nicht im Horizont des ethischen Diskurses interpretiert, sondern im Horizont des Kinos.

So steht der Arzt im Spannungsfeld vieler Interessengruppen. Dennoch: was den guten Arzt ausmacht, definiert sich aus der Beziehung zu seinen Patienten. Die Stunde der Wahrheit wird in dieser Interaktion zweier Menschen offensichtlich, in der sonst kaum gekannte Grade menschlicher Annäherung möglich sind.

Der gute Arzt: Studenten, Ärzte, Patienten - meinen sie den gleichen?

Um die Frage nach dem guten Arzt perspektivisch einzukreisen und systematisch anzugehen erscheint es sinnvoll, an drei partizipierende Gruppen die Frage nach dem guten, den idealen Arzt zu stellen, nämlich an:

  • Medizinstudenten
  • praktizierende Ärzte und last not least
  • Patienten
Medizinstudenten
An der Universität Regensburg wurden alle vorklinischen Studenten der Jahre 1997-2001 (816 Studenten) im ersten bzw. zweiten Semester gebeten, die Frage: "Wie stellen Sie sich den idealen Arzt vor?" zu beantworten [4]. Insgesamt zeigte sich, dass die Studenten ein recht homogenes und differenziertes Bild vom idealen Arzt hatten. Im Vordergrund standen seine Kompetenz, seine Aufmerksamkeit gegenüber dem Patienten und sein Interesse an ihm. Sensibilität, Freundlichkeit und sympathische Ausstrahlung erschienen ebenfalls als wichtig, kamen aber erst an zweiter Stelle.

Praktizierende Ärzte
In einer Studie 1999 über die ärztlichen Wunsch- und Leitbilder bei niedergelassenen Ärzten und Ärztinnen in Abhängigkeit von der Dauer der Beruftätigkeit schälte sich heraus, der ideale Arzt solle kompetent, engagiert und verständnisvoll sein. Daneben wurden häufig Fähigkeiten wie Zuhörenkönnen, Empathie und Fürsorge genannt. Ärzte mit der längsten Berufserfahrung fanden die Vorstellung einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung besonders wichtig. Sie nannten als ihr Ideal am häufigsten die menschliche Zuwendung [5].

Patienten
Im Rahmen einer europäischen Gemeinschaftsstudie führte das Institut für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA) eine schriftliche Befragung unter Patienten von 12 Praxen, 8 aus den alten und 4 aus den neuen Bundesländern durch. Gefragt wurde, wie sie ihren Hausarzt sehen wollten, aber auch wie er nicht sein sollte [6]. In den 435 auswertbaren Fragebögen rangierten neben der Erreichbarkeit und Verfügbarkeit des Hausarztes folgende Antworten an bevorzugter Stelle: Verlässlichkeit, Vertrauen, Information und Kommunikation, Fachkompetenz, emotionale Unterstützung und Beratung. Nicht minder interessant sind die Angaben, wie der Hausarzt auf keinen Fall sein sollte, nämlich unfreundlich, ungeduldig, überheblich, unpersönlich, kalt und ohne Interesse.

Noch aufschlussreicher erscheint mir eine kürzlich veröffentlichte Befragung an über 12.600 Patienten aus einundfünfzig Krankenhäusern in den USA. Sie wurden nach ihrer Entlassung gebeten mögliche Hauptgründe zu nennen, um ein Krankhaus weiter zu empfehlen. Die Antwort lautete: mit Respekt und Würde behandelt zu werden und den Ärzten vertrauen zu können [7].

Arzt zu werden ist nicht schwer ...

Diese Studien sollten nicht daran hindern kritisch die Frage nach der grundsätzlichen Definierbarkeit des guten Arztes zu stellen. Klaus Dörner, der sich wohl die differenziertesten Gedanken zum Phänomen des guten Arztes gemacht hat, schreibt am Ende seines Buches "Der gute Arzt" [8]:

"Ich schließe mit einer Art Scherz, nämlich mit einer Definition des "guten Arztes", was natürlich Unsinn ist, da dies zum nichtdefinierbaren Teil der Wirklichkeit gehört." 
Natürlich bleibt Dörner dem Titel seines Buches verpflichtet und fährt fort:
"Dem guten Arzt ist bei geöffneten medizinischen Augen der ärztliche Augenaufschlag eigen; er hört - getrennt voneinander - die Wünsche und das Wohl der Patienten bzw. der Angehörigen; er ist - ihn berührend - vom Anderen berührt; er ist darauf aus, das Hirnkonzept des Menschen in die größere Weisheit seines Leibes einzubetten; und sein schon waches Können und Wissen ist von seinem Gewissen verändert, angerufen, geweckt."
Bis zum Verstehen oder schließlich Akzeptieren eines solchen Konzeptes ist allerdings ein weiter Weg zurückzulegen. Es wäre vermessen zu behaupten, dieser Vortrag könnte ein Wegbereiter sein. Viel wäre schon mit der Erkenntnis erreicht, dass ein solcher langer Weg - sicherlich als einer unter mehreren - existiert. Denn es ist relativ leicht, Arzt zu werden, aber schwer, ein guter Arzt zu sein (von Troschke) [9].

Auf der Suche nach dem guten Arzt

Damit taucht die nächste Frage auf: Kann man überhaupt lernen ein guter Arzt zu werden? Wenn der gute Arzt die Verkörperung einer bestimmten Grundhaltung darstellt - wie kommt man zu so einer Haltung, die offensichtlich in keinem Studienplan als Ausbildungsziel verankert ist?

Die der Ausbildungsordnung für Ärzte (AOÄ) vorangestellte Präambel entwirft kein klares Bild des guten Arztes. Dort heißt es lakonisch: 

"Ziel der ärztlichen Ausbildung ist der wissenschaftlich und praktisch in der Medizin ausgebildete Arzt, der zur eigenverantwortlichen und selbständigen Berufsausübung, zur Weiterbildung und zur ständigen Fortbildung befähigt ist."
Klaus Dörner beginnt sein Buch über den guten Arzt mit den Worten:
"Jeder Arzt denkt im Stillen, im Selbstgespräch, ständig darüber nach, wie er ein "guter Arzt", wie er zu einem ärztlich "guten Leben" kommen könne ... Kein Arzt kann nicht darüber nachdenken." 
Ist das wirklich so? Wenn der junge Arzt, durch ein naturwissenschaftlich kopflastiges Studium im günstigsten Fall in seinem Altruismus noch relativ unbeschädigt seinen Beruf aufnimmt, greifen dann nicht ganz andere Überlegungen in seinem Denken Raum? Das Unbehagen, nicht nur eingesetzt sondern auch ausgesetzt (ausgebeutet) zu werden? Die Sorge um die nächste Vertragverlängerung? Die Erkenntnis, dass das System, in dem er arbeiten muss, kaum etwas mit seinen Idealen von früher zu tun hat?

Der Arzt im System

Auf hohes soziales Prestige und üppiges Auskommen kann der junge Arzt in Zukunft nicht mehr rechnen. Ein kaum entrinnbares Geflecht von Abhängigkeiten, Stressoren und Pressionen tut sich auf. In den Krankenhäusern wird mit der Etablierung der so genannten Fallpauschalen der Vorrang der Ökonomie vor der Humanität mit Nachdruck durchgesetzt. Arbeitszeiten von 60 Stunden pro Woche und mehr, überholte Hierarchien und eine kaum zu bewältigende Arbeitsdichte sind klinischer Alltag. Die Karrierechancen sind mäßig, besonders für Ärztinnen. Sie besetzen nur jede zehnte leitende Krankenhausposition. Unflexible Arbeitszeiten und fehlende Kinderhortplätze verstärken den Doppel-Stress durch Beruf und Haushalt. Wen wundert, dass rund ein Drittel der heutigen jungen Ärzte nicht wieder den Arztberuf ergreifen würden [10].

Eine Art vorauseilende Distanzierung zum Patienten zeichnet sich bereits im Verhalten der zukünftigen Ärzte ab. Jährlich brechen 2400 junge Menschen das Medizinstudium ab. Viele wechseln das Studienfach. Jeder zweite Medizinstudent wird später nicht als Arzt arbeiten. Beliebte nichtkurative Ausweichberufe sind Pharmaindustrie, Krankenhausmanagement, Unternehmensberatungen oder Forschung. Während der angehende Medizinstudent vor ein oder zwei Generationen nichts sehnlicher erwartete als den ersten Kontakt mit einem Kranken, geht heute die Hälfte der neuen Ärzte auf Abstand zum Patienten.

Auseinanderfallende Menschenbilder und Verstörungen im Rollenverständnis irritieren die Suche des Arztes nach seiner Identität. Sie zu artikulieren erscheint im System einer hochtechnisierten Medizin immer schwieriger. Das Resultat ist eine auffallende Konturlosigkeit der Handelnden und ein kompensatorisches Getriebensein mit Tunnelblick. Wer den Klinikalltag tretmühlenhaft erlebt, schleift sich selbst allmählich bis zur Farblosigkeit ab [11 Interner Link]. So beschreibt sich der amerikanische Klinikarzt Frank Huyler in seinem Buch "Notaufnahme. Geschichten zwischen Leben und Tod" [12] als wenig hervorstechende Figur: 

"Keine großen Einsichten, keine besondere Freundlichkeit, keine ungewöhnlichen Fähigkeiten, kein Anzeichen von Zufriedenheit oder Einsamkeit, keine Spur von Visionen oder Träumen ...".
Unhappy doctors 

Weltweit ist in der Tat ein alarmierendes Phänomen zu beobachten: das Phänomen des unglücklichen Arztes. Eine aktuelle Untersuchung an Allgemeinärzten in England ergab eine deutliche Abnahme der beruflichen Zufriedenheit. Diese sank, gemessen an einer Sieben-Punkte-Skala, von durchschnittlich 4,64 Punkten 1998 auf 3,96 Punkte 2001 [13 Externer Link]. Die Zahl der Ärzte, die sich in den nächsten fünf Jahren aus der direkten Patientenversorgung zurückziehen wollen, stieg im gleichen Zeitraum von 14 auf 22 Prozent. 

Ein Editorial des British Medical Journal vom April 2002 widmet sich ausschließlich dem weltweiten Phänomen der unglücklichen Ärzte ("unhappy doctors") [14 Externer Link]. Arbeitslast und als unzureichend wahrgenommene Bezahlung scheinen allerdings das Problem nicht vollständig zu erklären. Als Schlüsselfaktor wertet die Analyse im BMJ einen Wandel im Verhältnis zwischen Beruf, Patienten und der Gesellschaft, der dafür verantwortlich ist, dass der Arztberuf heute nicht mehr dem entspricht, was die Ärzte sich ursprünglich erwartet hatten. 

Nicht besser ergeht es den niedergelassenen Ärzten in Deutschland. Mehr als 90 Prozent der niedergelassenen Vertragsärzte fühlen sich durch die Gesetzgebung im Gesundheitswesen und durch die Einflussnahme der Politik bzw. der Kassen auf die Patientenversorgung belastet (NAV-Virchow-Bund) [15]. 59 Prozent sind "ausgelaugt", ebenso viele fühlen sich am Tagesende "völlig erledigt". 

Individuation und Sozialisation der deutschen Ärzte führen, so der Politologe Ruebsam-Simon [16 Externer Link] im Deutschen Ärzteblatt, zu einem isolierten und autistischen Verhaltensmuster. Die Wirklichkeit wird mit medikalisiertem "Tunnelblick" unter Ausblendung politischer und sozialer Wirkfaktoren wahrgenommen. Angstgesteuertes Verhalten statt Selbstbewusstsein und Zivilcourage wird mehr und mehr zum dominierenden Verhaltensmuster. Ruebsam-Simons Artikel zur Krise des Arztberufs erhielt soviel Zustimmung von Seiten der Leserschaft wie kaum sonst ein Beitrag im Deutschen Ärzteblatt. 

Diese Phänomene sind aber mit Sicherheit kein spezifisch deutsches Problem. Einschränkung der Autonomie, massive externe Kontrollen, Zunahme berufsfremder Tätigkeiten und sinkende Einnahmen sind in weiten Teilen der westlichen Welt - so der Internationale Kongress für Ärztegesundheit im Oktober 2002 in Vancouver - das hervorstechende Charakteristikum ärztlicher Arbeitsbedingungen [17 Externer Link]. Sie finden ihren Niederschlag unter anderem in einem erhöhten Suizidrisiko (das wiederum Ärztinnen besonders betrifft), in Depressionen und Abhängigkeitsproblemen (Alkohol, Sedativa, Opiate). Das Privatleben leidet; 69 Prozent der niedergelassenen Ärzte bezeichnen es als unbefriedigend und nur 21 Prozent haben genügend Zeit für eigene Interessen [18]. Trennungs- und Scheidungswahrscheinlichkeit liegen bei Ärzten über dem Durchschnitt [19].

Unzufriedene Ärzte - zufriedene Patienten?

Alles ungünstige Vorzeichen für die Entwicklung zum guten Arzt, denn können unglückliche Ärzte glückliche Patienten haben? Können die Patienten unzufriedener Ärzte selbst zufrieden sein? Mit Sicherheit nicht, denn zwischenmenschliche Kommunikation läuft regelhaft als zirkulärer Prozess ab. 

Eine von der Bertelsmann Stiftung initiierte und vom Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen wissenschaftlich betreute Befragung (Ende 2001/Mitte 2002) unter rund 3000 Bürgern über ihre Erfahrungen in Arztpraxen und Kliniken ergab, dass fast jeder dritte Befragte (31 Prozent) schon einmal den Hausarzt gewechselt hatte, weil er mit dessen Behandlung nicht einverstanden war [20]. Über die Hälfte der Kassenpatienten halten die Qualität der medizinischen Versorgung in Deutschland für verbesserungsbedürftig, was gut im Einklang mit der Meinung der behandelnden Ärzte selbst steht: Etwas mehr als die Hälfte von ihnen ist überzeugt, dass die Qualität der Behandlungen nicht dem neuesten medizinischen Standard entspricht. Im Vergleich mit den Staaten der Europäischen Union belegt die Patientenzufriedenheit in Deutschland nur einen mittleren Platz [21].

Der Arzt als Feind?

Nicht selten entwickelt sich ein Konfrontationsverhältnis zwischen Arzt und Patient, das seinen Niederschlag auch in der Literatur gefunden hat. In der Geschichte "The Use of Force" beschreibt William C. Williams, selbst Arzt, wie ein Arzt bei der Untersuchung eines behinderten Mädchens die Geduld verliert, schließlich Gewalt anwendet, bis ihre Tränen fließen [22]. Innerlich beschimpft er sie als "brat" (Balg). Nur flüchtig hat er das Gefühl, er könne sich falsch verhalten haben und müsse sich vielleicht bei den passiv dabeistehenden Eltern entschuldigen. Im Grunde befriedigt ihn sogar der gebrochene Widerstand der Patientin.

Ein ausgelaugter Assistenzarzt, der Endlosschleife zermürbender Dienste nicht mehr gewachsen, gesteht, für ihn werde nach dreißig Stunden Dienst "jeder Patient zum Feind" (O-Ton) [23]. Sind seine Chancen, ein guter Arzt zu werden, nicht längst schon verspielt?

Unter dem Pseudonym Samuel Shem hat der Harvard-Professor für Psychiatrie Stephen Bergmann 1998 einen Roman mit dem Titel "House of God" veröffentlicht, ein bitterböses Werk, das die Erfahrungen und Leiden eines jungen Arztes im ersten klinischen Weiterbildungsjahr schildert [24]. Er lebt in ständiger Angst, Angst vor den Erwartungen der Vorgesetzten, den Bedürfnissen und Emotionen seiner Patienten. Die Kranken erscheinen ihm fast ausnahmslos als Monster, die nichts anderes im Sinn haben, als die behandelnden Ärzte zu quälen. Im Klinikjargon werden sie als Gomer ("get out of my emergency room") bezeichnet: 

"Gomers sind Wesen, die das verloren haben, was ein menschliches Wesen ausmacht. Sie wollen sterben, und wir lassen sie nicht sterben. Wir sind grausam zu den Gomers, und sie sind grausam zu uns, indem sie mit Zähnen und Klauen gegen unsere Versuche ankämpfen, sie zu retten. Sie quälen uns, wir quälen sie". 
Sollten diese Schilderungen der Verhältnisse in einer der besten Medical Schools der USA auch nicht frei von Überzeichnungen sein, so ist die Erkenntnis des Protagonisten über die Ursachen dieser Übel sehr wohl von paradigmatischem Wert. Er kommt zu dem Schluss: 
"Was wir sagen wollen, ist, dass das eigentliche Problem ... nicht die Gomers waren, sondern die Tatsache, dass wir niemanden hatten, zu dem wir aufsehen konnten". 
Hier wird ein wesentliches Phänomen thematisiert: Kaum noch finden sich heute begeisternde ärztliche Vorbilder oder gar "Meister", die Halt geben, Lehrer, die Schulen begründen, ärztliche Figuren, deren Wirken und Leben der Stoff sind, den der junge Arzt auf dem Weg zum guten Arzt unverzichtbar braucht. Die Älteren von uns werden sich sehr wohl noch an große Arztgestalten ihrer Studien- und frühen Berufsjahre erinnern wie beispielsweise Ludwig Heilmeyer (1899-1969), Gotthard Schettler (1917-1996) oder Hans Erhard Bock (1903).

Gute Ärzte - gute Menschen?

Die Frage, ob ein guter Mensch selbst ein gutes Leben führen kann, ist oft gestellt worden. In Bert Brechts Theaterstück "Der gute Mensch von Sezuan" [25] ist dieser gute Mensch die Dirne Shen Te. Drei Götter, die ihr aufgetragen hatten gut zu sein, sitzen schließlich über sie zu Gericht. Vor ihnen klagt Shen Te:

"Euer einstiger Befehl / gut zu sein und doch zu leben / zerriss mich wie ein Blitz in zwei Hälften ... gut sein zu andern / Und zu mir konnte ich nicht zugleich. / Ach, eure Welt ist schwierig!"
Die Götter wissen keine Antwort auf Shen Tes Klagen. Brecht lässt den Schluss des Stücks offen. Es endet mit dem bekannten Ausruf: 
"Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen."
Die Frage nach der Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Welt des Arztes auf seinem Weg zum guten Arzt entzieht sich einer definitiven Beantwortung, alleine schon auf Grund der Vielfalt der ärztlichen Charaktere. Sicher aber ist, dass der gute Arzt nicht umhin kommt zu lernen, in einem Spannungsfeld zu leben. Ihn zeichnet aus, dass er zu jener inneren Polarität fähig ist, die durch Freiheitsbewusstsein einerseits und Bereitschaft zum Dienen andererseits bestimmt wird. 

Der Grossteil der medizinischen Studienanfänger ist durchaus guten willens, altruistisch motiviert und psychosozial engagiert. In einer von dem Medizinsoziologen Professor Jürgen von Troschke durchgeführten Fragebogenerhebung bei Medizinstudenten verschiedener Studiensemester bekannten sich 80,5 % eindeutig und ohne Einschränkungen zu der Aussage: "Mein Ziel ist, später ein guter Arzt zu werden". Nur 1,8 % der Befragten wollten dieser Aussage in keiner Weise zustimmen. Skeptisch hingegen bewerteten die Studenten die Aussage: "Unsere Fakultät bietet gute Voraussetzungen für Studenten, alles zu lernen, was einen guten Arzt ausmacht". 

Kein Zweifel: der ganz überwiegende Teil der Studienanfänger im Fach Medizin hat das Ziel, ein guter Arzt zu werden. Kein Zweifel aber auch, dass dies langfristig nicht allen gelingt. 

Wo liegen die Gründe? Im allgemeinen Phänomen, dass sich die beruflichen Ideale des Anfangs im nüchternen Berufsalltag zwangsläufig abschleifen? Ist der gute Arzt vielleicht ein Ideal, das sich immer nur kurzfristig erreichen lässt? Bewirken das System und eine neue Patientengeneration mit möglicherweise unangemessenen Ansprüchen, dass sich zwischen Arzt und Patient nur noch ein Klima der Vertragserfüllung und nicht des Vertrauens entwickeln kann?

Arztbilder 

Es ist bemerkenswert, dass in den letzten zwei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, also in der Phase einer relativen Prosperität der Medizin, keine nennenswerten Selbstreflexionen des Arztbildes publiziert wurden. Die Faszination des Machbaren lenkte den Blick nicht nach innen sondern auf das außen verfügbare Instrumentarium. 

Zuvor, mit Beginn der Hochtechnisierung der Medizin, befassten sich unter anderem zwei bemerkenswerte Werke mit dem Spannungsbogen zwischen ärztlichem Auftrag und technischen Eingriffsmöglichkeiten in den Patientenkörper:

  • 1977 publizierte Dietrich Rössler, Arzt und Theologe, seine Monographie "Der Arzt zwischen Technik und Humanität" [26]. Er warnte vor einer "ideologisierten Verwissenschaftlichung des Lebens".
  • einige Jahre später (1986) veröffentlichte Karl Jaspers sein noch heute lesenswertes Buch "Der Arzt im technischen Zeitalter" [27].
Im Kontrast zur enormen Leistungsfähigkeit der modernen Medizin, so Jaspers, sei nicht selten eine Stimmung des Versagens zu beobachten. Für die Menge der kranken Menschen werde es immer schwerer, ihren für den einzelnen Menschen rechten Arzt zu finden. Und dann findet sich jener Satz, der heute mehr Gültigkeit hat denn je: 
"Man könnte meinen, die guten Ärzte würden seltener, während Wissenschaft als Können ständig wächst."
Die heute vielfach empfundene Krise der Medizin und die daraus erwachsende Suche nach einer neuen Identität, der Wunsch nach beruflicher Erfüllung und Sinnstiftung haben dazu geführt, dass die Gestalt des guten Arztes aktuell wieder intensiv thematisiert wird.

So sind jetzt fast zeitgleich drei Bücher zum Thema der gute Arzt erschienen, wobei sich jedes von einem anderen Ansatz her seiner Thematik nähert. Alle drei garantieren eine faszinierende Auseinandersetzung mit der Gestalt des guten Arztes, seinen Wesenszügen, seinen Wurzeln und seiner Transponierbarkeit in die Wirklichkeit der Medizin des 21. Jahrhunderts. 

Jürgen von Troschke fasst in seinem Buch "Die Kunst ein guter Arzt zu werden" [28] in zehn Thesen die Wege zum guten Arzt zusammen. 

Von Bernard Lown, den die meisten als Erstbeschreiber des "Sick-Sinus-Syndroms" und der Klassifikation der ventrikulären Extrasystolen kennen, stammt das Buch "Die verlorene Kunst des Heilens" [29]. Die für ihn denkwürdigste Beschreibung einer guten Arzt-Patient-Beziehung, schreibt Lown, stamme von einer einfachen sibirischen Ärztin. Sie habe ihm gesagt: "Jedes Mal, wenn ein Arzt einen Patienten sieht, sollte sich der Patient anschließend besser fühlen." Ich möchte ergänzen: Idealerweise sollten sich beide besser fühlen.

Das anspruchvollste und differenzierteste der drei Werke hat Klaus Dörner geschrieben: "Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung" [30]. Ein philosophisches Werk, das sich häufig aus überraschenden Perspektiven seinem Stoff nähert, eine vielschichtige Betrachtung zur Beziehung zwischen Arzt und Patient. 

Keines der drei Bücher ist im Kern resignativ oder larmoyant, jedes ist auf seine Weise geprägt vom Glauben an den guten Arzt, jedes gibt ihm eine Zukunft, jedes zeigt und ebnet Wege zu diesem Ziel. 

Der gute Arzt über die Jahrtausende hinweg

Beim Blick zurück in die Vergangenheit stellt sich die Frage, ob der gute Arzt medizinhistorisch betrachtet überhaupt durchgängig eine konsistente Gestalt war, ob es einen Wesenskern gibt, der alle guten Ärzte über alle Zeiten hinweg verbindet und ausmacht?

Christoph Wilhelm Hufeland, Mitbegründer der neuzeitlichen Medizin, schrieb vor rund 200 Jahren: 

"Es bedarf noch immer derselben Eigenschaften, um ein großer Arzt zu sein, wie zu Hippokrates' Zeiten." 
Gilt das aber auch heute noch, angesichts einer Medizin, zu deren Arsenal Chemotherapie, Organtransplantation, Gentechnik und bereits auch Nanotechnologie gehören?

Eben jener Christoph Wilhelm Hufeland zeichnete ein romantisches, aber auch rigoroses Bild vom guten Arzt. Dieser solle nicht nach Ehre und Geld streben, denn der wahre Lohn seines Berufes sei nicht zu bestimmen. Wie ein Künstler solle er nicht durch "mechanische Geschäftigkeit" wirken, sondern seinen Gegenstand "ins innerste Gemüth" aufnehmen. Er dürfe nicht anderes tun, als Leben unter allen Umständen zu erhalten, sonst werde er der "gefährlichste Mann im Staate" [31].

In der Antike war der "göttliche Arzt" das Idealbild des Arztes, am prägnantesten verkörpert in der Gestalt des Asklepios, Sohn des Gottes Apollo und der schönen Koronis aus Thessalien [32]. Der Arzt sollte philosophisches Wissen in die Heilkunde und Heilkunde in die Wissenschaft der Philosophen einführen. Helfendes Können und philosophisches Wissen vereinigte Asklepios in sich und galt deshalb als göttergleich. Ärzte auf der Höhe ihrer Laufbahn wurden damals mit goldenen Kränzen bedacht, so auch Hippokrates, der mit einem goldenen Kranz im Wert von tausend Goldstücken bekränzt worden sein soll. 

Die spekulativen, auf mystischen Hintergründen basierenden Auffassungen mittelalterlicher Ärzte wurden später abgelöst durch den naturwissenschaftlichen Arzt. Beispielhaft steht dafür Bernhard Naunyn, einer der bedeutendsten Internisten des 19. Jahrhunderts, dessen Medizinverständnis in dem berühmten Satz seinen Ausdruck findet: "Medizin muss Wissenschaft sein, oder sie wird nicht sein." Wobei damals "Wissenschaft" mit "Naturwissenschaft" gleichgesetzt wurde.

Dass aber ein ausschließlich naturwissenschaftliches Verständnis der Medizin zu kurz greift, war den damaligen Ärzten durchaus bewusst. Eine der besten Charakterisierungen des guten Arztes im gleichen Jahrhundert stammt von französischen Medizinern. Sie nannten den guten Arzt einen "père maternel", einen "mütterlichen Vater" - jemanden, der zugleich lenkender Vater und warmherzig verstehende Mutter ist.

Der Wandel von der hippokratischen zur heutigen Medizin ist augenfällig. Die hippokratische Medizin war im Wesentlichen ein paternalistische Entwurf, bestimmt von den Zielen, dem Patienten Nutzen zu bringen und ihm keinesfalls zu schaden. Die Selbstbestimmung des Kranken taucht in den hippokratischen Schriften nicht auf. Hippokrates hielt Ärzte für gut, wenn sie "sich aus fremdem Leiden eigene Sorgen" bereiten.

Heute steht nicht das Wohl, sondern der Wille des Patienten im Vordergrund. Ein Paradigmenwechsel vom Modell der Fürsorge zum Modell der Autonomie hat sich in den letzten 20 bis 30 Jahren vollzogen und damit auch eine deutliche Verlagerung von Verantwortung in Richtung des Patienten [33 Interner Link]. Der gute Samariter von heute klärt seinen Patienten umfassend, wenn es sein muss schonungslos auf (informed consent), zeigt ihm alle vernünftigen diagnostischen und therapeutischen Optionen, sichert sich damit rechtlich weitgehend ab, und überlässt am Ende dem Kranken die Entscheidung. Jetzt wird dem Patienten alles gewährt, was er will und nichts was er nicht will - aber auch alles, was er wirklich braucht?

Fragmentierte Ärzte

Hat dies noch irgendetwas zu tun mit der "Idee des Arztes", die Karl Jaspers 1953 konzipierte [34]. Der Arzt müsse "anders werden, wie Menschen sonst sind". Das Höchste, was dem Arzt gelingen könne "ist schicksalsgefährdet zu werden mit dem Kranken". In nicht vorausberechenbaren Grenzfällen könne zwischen Arzt und Krankem "Freundschaft" entstehen. Tatsächlich gab es diesen Arzt, der zugleich Freund war, manchmal ein Leben lang. So war Max Schur Arzt und Freund von Sigmund Freud. Er war es auch, der Freud nach ungezählten Krebsoperationen mit einer Dosis von 20 mg Morphin in einen Schlaf versetzte, aus dem dieser nicht mehr erwachte [35].

Wer nach dem guten Arzt fragt, müsste auch nach dem "guten Patienten" fragen. Vielleicht ist auch er nur ein Phantom, eine Projektionsfläche des kranken Menschen, das sich komplementär zur Welt des guten Arztes verhält. In Wirklichkeit aber, so wird eingewandt, dominiert heute eher der sog. "fragmentierte Patient" (Walter Böker) [36 Externer Link]. Die konventionelle Gesprächstechnik der Ärzte zerlegt die Patientenäußerungen in Einzelbeschwerden und blendet das Selbstbild des Kranken, seine Deutung und Auslegung der Krankheit aus. 

Die auf dieser Grundlage in Gang gesetzte, oft rational letztlich gar nicht begründbare umfangreiche Diagnostik liefert dann zwangsläufig Datensammlungen, die das Leiden des Kranken nur bruchstückhaft und unzusammenhängend wiedergeben. Was resultiert ist der "fragmentierte Patient". Der Arzt, der sich diese Herangehensweise an den Kranken langfristig zu Eigen macht, wird schließlich zum "fragmentierten Arzt", unfähig seinen Patienten in der Ganzheit seines Leidens wahrzunehmen. 

Es ist unverkennbar, dass dieser "fragmentierte Arzt" als Gegenstück des guten Arztes zu begreifen ist. Er freilich ist wiederum das Resultat einer ärztlichen Ausbildung, die das dialogische Prinzip als Urelement des Umgangs von Arzt und Patient sträflich vernachlässigt, den klinischen Blick als Hantieren mit "weichen Daten" abtut und auf die unlimitierte Erhebung harter Daten setzt. In diesen Datenbergen, die manchmal nicht mehr als Datenfriedhöfe sind, ist der Patient mit seiner individuellen Leidens- und Lebensgeschichte nur noch auszumachen, wenn der Blick auf Person und Persönlichkeit nicht durch sie restlos verstellt wird. 

Es wird beklagt und trifft in vielem zu, dass der heutige Arzt sich häufig als hilfloser Akteur im Gesundheitswesen zwischen Patienten, Kollegen, Krankenversicherungen und Politik tief verunsichert erlebt. Richtlinien, Grundsätze und Empfehlungen zum Beispiel der BÄK zu aktuellen Fragen wie Sterbebegleitung, Transplantationsmedizin oder Fortpflanzungsmedizin geben seinen Handlungsspielraum vor. Diagnose und Therapie der verschiedensten Krankheitsbilder, von der Hypertonie bis zur Fußmykose erheben in Form von Leitlinien diverser Fachgesellschaften den Anspruch normierter Handlungsanweisungen. Die evidenz-basierte Medizin (EBM) versteht sich als "Grundlage ärztlichen Handelns" [37 Externer Link], ein Anspruch, der völlig verkennt, dass Medizin bei aller Naturwissenschaftlichkeit ebenso Erfahrungswissenschaft ist, und verschweigt, dass EBM selbst nicht evidenz-basiert ist [38].

Internationale Abkommen wie der Nürnberger Kodex von 1947, die Deklaration von Helsinki 1964 oder die EU-Biopatentrichtlinie von 1998 stellen weitere bioethische Rahmenrichtlinien dar, ohne dass hier eine weltweit verbindliche ethische Sprachregelung, ein "moralisches Esperanto" gelungen wäre. 

Hinzu kommt, dass im biotechnologischen Zeitalter Menschenbilder das gegenwärtige "Ethos des Heilens" dominieren, deren therapeutische Optionen vorwiegend auf Reparatur, regenerative Eingriffe und Ersatz ausgerichtet sind.

Niemand kann ernsthaft verkennen, dass ärztlichen Entfaltungsmaßnahmen und Handlungsspielräumen dadurch in einer bisher kaum bekannten Weise Grenzen gesetzt werden. Bedeutet dies aber auch, dass der Arzt nur noch in schachfigurenhafter Manier, gelenkt von Systemen, die er nur noch unvollständig durchschaut, zu agieren vermag? Ist dies der fast unmerklich schon vollzogene Abschied von einem nostalgischen Relikt, nämlich dem "guten Arzt" von gestern?

Oder reicht es, sich mit einem den Zeitverhältnissen angepassten, quasi entidealisierten Arztbild zu begnügen, das im Mainstream eines vorwiegend ökonomisch ausgerichteten Gesundheitswesens nirgendwo mehr aneckt? 

Die These, die dem heutigen Arzt zwar eine Suche nach neuer Identität zugesteht, deren Ergebnis aber nicht mehr der gute Arzt ist, sondern allenfalls der "bessere Arzt" [39], quasi eine rudimentäre Plusvariante des "unhappy doctors", überzeugt nicht. Denn der gute Arzt, so schwer er auch definitorisch festgemacht werden kann, eines ist er auf keinen Fall: eine Kompromissfigur im Spannungsfeld diverser Interessengruppen.

Sprechende Augen

Ein wesentlicher Charakterzug des guten Arztes ist seine Fähigkeit und seine Bereitschaft, sich auf seinen Patienten einzulassen. Sich auf den Patienten einzulassen bedeutet auch, sich ihm auszusetzen. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas beschreibt diese Beziehung vom Anderen her in einem eindringlichen Bild: 

"Es sind die sprechenden Augen des ungeschützten Antlitzes des Anderen, die mich dazu bewegen, mich ihm auszusetzen." [40]
Die Sprache dieser Augen lässt sich nicht in einem binären Code erfassen. Sie zu verstehen und in einer für den Patienten verstehbaren Sprache antworten zu können, macht eine essentielle Fähigkeit des guten Arztes aus. Dieser Dialog hat sich wahrscheinlich in seinem Kern nicht verändert seit es Ärzte und Patienten gibt, auch wenn er sich in einem gewandelten technischen Umfeld vollzieht.

Die Einmaligkeit der Begegnung zwischen Arzt und Patient als einer Interaktion von Ich und Du, die im Extremfall schicksalsbestimmend sein kann und eine Vertrautheit voraussetzt, die sonst nur zwischen Ehepartnern oder freundschaftlich tief verbundenen Menschen gegeben ist, bleibt weitgehend unberührt von den Machbarkeitspotentialen der jeweils vorherrschenden Medizin. Der gute Arzt ist sich dessen, zumindest intuitiv bewusst. Nicht um sonst gehört es zur Pflichtlektüre von Harvard-Studenten, Martin Bubers Buch "Ich und Du" von 1923 zu lesen [41].

Zuversicht

Was bisher in diesen Überlegungen zum guten Arzt nicht auftaucht, ist eine bindende Definition. Aber kann es sie überhaupt geben? Viele charakteristische Eigenschaften des guten Arztes sind bereits genannt worden. Aber wäre es nicht geradezu kontraproduktiv angesichts der Vielfalt ärztlicher Persönlichkeiten, ihrer unterschiedlichen Philosophien, ihrer individuellen Erfahrungen eine in Erz gegossene Figur des guten Arztes schaffen zu wollen, die am Ende statisch und erhaben kaum mehr etwas mit der komplexen Wirklichkeit einer patientenzentrierten Medizin zu tun hat? Insofern kann man Jürgen von Troschke zustimmen, wenn er sagt, schließlich könne jeder Arzt nur auf seine Weise ein guter Arzt werden und sein.

Vielleicht ist es daher erlaubt, den guten Arzt einfach zu beschreiben als den Arzt, den wir als Ärzte uns selbst wünschen, wenn wir krank geworden sind und Hilfe brauchen. Kein untauglicher Weg, denke ich, denn es hat sich gezeigt, dass der Arzt, trotz seines Wissens und Könnens, wenn er selbst krank wird, sich kaum anders verhält als seine Patienten: Er will ernst genommen werden, er erwartet neben Fachkompetenz Einfühlung, Fürsorge und Respekt. Er wünscht sich einen dialogfähigen Arzt, der seinen Blick von Skalen, Zahlen und Monitoren lösen kann und ihm in die Augen sieht, sich ihm aussetzt und seine eigenen Grenzen kennt. 

Dieser Arzt geht der Beziehung zu seinem Patienten nicht aus dem Weg und weiß, dass diese Beziehung nur aus einer empathischen Haltung und einem vorurteilslosen Sich-Einlassen auf den anderen entstehen kann. Sie reicht über das bloße Verstehen des Kranken hinaus und zielt auch darauf ab, dass dieser sich selbst versteht. In dieser Beziehung sind ärztliches Krankheitsverständnis und die Selbstauslegung von Krankheit durch den Patienten nicht sich ausschließende sondern komplementäre Wirklichkeiten.

Der gute Arzt kennt Mut und Demut. Er hat den Mut, sich einem Wandel des ärztlichen Selbstbildes auszusetzen und ist tapfer genug, sich drohenden institutionellen Einbindungen und Zwängen nicht kampflos zu unterwerfen. Er ist bemüht, zwischen vernünftigen Zukunftsvisionen der Wissenschaft und Utopien zu unterscheiden, die gegen Menschenwürde und menschliches Leben gerichtet sind. Er ist bemüht, in seinem Wirkungsbereich gerecht zu sein, obgleich er in einer globalisierten Welt leben muss, in der die gerechte Verteilung knapper Güter nur unzulänglich gelingt. Er ist demütig genug, seine eigenen Grenzen und die seiner Profession anzuerkennen.

Ich bin zuversichtlich, dass die Kunst des guten Arztes nach wie vor erlernbar ist. Es ist mein brennender Wunsch, dass gerade die junge Ärzteschaft sich für diese Zuversicht öffnet, auch wenn ihr ärztlicher Alltag nicht selten im Kontrast zu dieser Hoffnung zu stehen scheint. 

Meine Zuversicht leitet sich ab von der Erkenntnis, dass die "sprechenden Augen" des ungeschützten Angesichts des Anderen uns wie eh und je ansehen und uns bewegen können, sich diesem Anderen auszusetzen.

Literatur:

[1] Kerschensteiner, H.: zit. n. Wittern, R.: Kontinuität und Wandel des Arztbildes im Abendland. In: Geßler, U., R. Pilgrim, B. Gmelin: Der Arzt. Dustri-Verlag, München-Deisenhofen. 1991

[2] Buller MK, DB Buller: Physician’s communication style and patient satisfication. J of Health and Social Behavior. 28, 375-388. 1987

[3] Maio G.: Zur fernsehmedialen Konstruktion von Bioethik. Ethik Med (2000) 12:122-138

[4] Schmädel D. v., Götz K.: Das Arztbild bei Medizinstudenten. Allgemeinarzt 2000;22:738-43

[5] Jurkat HB, Reimer C, Plewina CG: Arztideal und der ideale Arzt. Ärztliche Wunsch- und Leitbilder in Abhängigkeit von der Dauer der Berufstätigkeit. Allgemeinarzt 1999;21:969-72

[6] Klingenberg A, Bahrs O, Szecsenyi J: Was wünschen Patienten vom Hausarzt? Erste Ergebnisse aus einer europäischen Gemeinschaftsstudie. Z. Allgemeinmed 1996;72:180-6

[7] Joffe S, M Manocchia, J C Weeks, P D Cleary: What do patients value in their hospital care? An empirical perspective on autonomy centered bioethics. J Med Ethics 2003; 29:103-108.

[8] Dörner, K: Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart, New York: Schattauer. 2001

[9] Troschke, J. v.: Die Kunst, ein guter Arzt zu werden. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Hans Huber. 2001

[10] Brennecke R, Brendler Cl, Gerhardus T: Arbeit in der Endlosschleife. Ergebnisse einer Befragung junger Ärztinnen und Ärzte in Berlin, Berliner Ärzte, Heft 5, 2002, S. 18 ff

[11] Geisler, L.S.: Plädoyer für einen "Neuen Arzt" - Arzt-Patient-Beziehung im Wandel. Dr. med. Mabuse, Nr. 142, 28. Jahrgang, März/April 2003, S. 34-37 
URL: http://www.linus-geisler.de/art2003/03mabuse-arzt.html Interner Link

[12] Huyler, F.: Notaufnahme. Geschichten zwischen Leben und Tod. Verlag C.H. Beck, München. 2002

[13] Sibbald B, Ch Bojke, H Gravelle: National survey of job satisfaction and retirement intentions among general practitioners in England. BMJ Volume 326, 4 January 2003, p. 1-4 
URL: http://bmj.com/cgi/reprint/326/7379/22.pdf Externer Link

[14] Edwards, N. et al.: Unhappy doctors: what are the causes and what can be done? BMJ, 324, 2002, S. 835-838. 
URL: http://bmj.com/cgi/reprint/324/7341/835.pdf Externer Link

[15] NAV-Virchow-Bund, Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands. Belfortstr. 9, 50668 Köln. Befragung: Die vertragsärztliche Gegenwart im Licht des Burnout-Syndroms; die wirtschaftliche Entwicklung und die ärztliche Selbstverwaltung in der vertragsärztlichen Meinung

[16] Ruebsam-Simon E: Arztberuf in der Krise: Deutsches Ärzteblatt 99, Ausgabe 43 vom 25.10.2002, Seite A-2840 / B-2415 / C-2261 
URL: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikeldruck.asp?id=34102 Externer Link

[17] Mäulen, B.: Förderung der Ärztegesundheit: Es besteht Nachholbedarf. Deutsches Ärzteblatt 99, Ausgabe 50 vom 13.12.2002, Seite A-3392 
URL: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=34878 Externer Link

[18] Gebuhr K, Brendan-Schmittmann-Stiftung: Die vertragsärztliche Gegenwart im Lichte des Burnout-Syndroms; Die wirtschaftliche Entwicklung und die ärztliche Selbstverwaltung in der vertragsärztlichen Meinung, Berlin, Mai 2002

[19] Institut für Ehe- und Familienforschung. Ärztezeitung, 14.05.1992, S. 1

[20] Böken, J. Braun, B., Schnee, M. (Hrsg.): Gesundheitsmonitor 2002 - Die ambulante Versorgung aus Sicht von Bevölkerung und Ärzteschaft. Gütersloh 2002

[21] Mossialos, E.: Citizens‘ views on health care system in the 15 member states of the European Union. Health Econ 1977 Mar-Apr; 6(2):109-16

[22] Rosenthal ML (Hrsg): The William Carlos Williams Reader. New York. 1966

[23] Graupner H, A. Hoffmann: Nach 30 Stunden wird jeder Patient zum Feind. Süddeutsche Zeitung. 26.1. 2004

[24] Shem, S.: House of God. München: Drömer Taschenbuch. Nr. 60906. 1998

[25] Brecht B: Der gute Mensch von Sezuan. 1943

[26] Rössler D.: Der Arzt zwischen Technik und Humanität. Religiöse und ethische Aspekte der Krise im Gesundheitswesen. München. R. Piper. 1977

[27] Jaspers K.: Der Arzt im technischen Zeitalter. Piper. München. 1986

[28] Troschke, J. v.: Die Kunst, ein guter Arzt zu werden. Bern, Göttingen, Toronto, Seattle: Hans Huber. 2001. ISBN 3-456-83049-1

[29] Lown B.: Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken. Stuttgart, New York: Schattauer. 2002. ISBN 3-7945-2168-4

[30] Dörner, K.: Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung. Stuttgart, New York: Schattauer. 2001. ISBN 3-7945-2050-5

[31] zit. n. Bauer A.W.: Der "gute Arzt". Ein Spiegelbild zeitbedingter Normen. 2. Teil. Universitas. 58, 688. 1022-1035. 2003

[32] Kerenyi K.: Der Göttliche Arzt. Studien über Asklepios und seine Kultstätten. Hermann Gentner. Darmstadt. 1956

[33] Geisler, L.S.: Patientenautonomie - eine kritische Begriffsbestimmung. Dtsch. Med. Wschr. 2004; 129: 453-456. 
URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/03dmw-patientenautonomie.html Interner Link

[34] Jaspers, K.: Die Idee des Arztes und ihre Erneuerung. Universitas, 8 (11), 1121-1131, 1953

[35] Schur, M.: Sigmund Freud, Leben und Sterben. Frankfurt am Main. 1973. S. 620

[36] Böker, W.: Arzt-Patient-Beziehung: Der fragmentierte Patient. Deutsches Ärzteblatt 100, 06.01.2003, S. A-24 
URL: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikeldruck.asp?id=35041 Externer Link

[37] Weingart O.: Evidenzbasierte Medizin: Grundlage ärztlichen Handelns. Deutsches Ärzteblatt 99, Ausgabe 41 vom 11.10.02, Seite A-2685 
URL: http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikeldruck.asp?id=33822 Externer Link

[38] Rogler G, J Schölmerich: "Evidence-Biased Medicine" - oder: die trügerische Sicherheit der Evidenz. Dtsch. Med. Wschr. 2000; 125: 1122-1128

[39] Bauer AW: aaO. [31]

[40] zit. n. Dörner K.: aaO. [8] S. 7

[41] Buber M: Ich und Du. Leipzig 1923
 


Linus S. Geisler: Der gute Arzt - Auf der Suche nach einem verlorenen Ideal? 
Symposium am 24. März 2004 in Werneck anlässlich der Verabschiedung von Dr. med. Klaus Dufey
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0403guter_arzt.html

© beim Autor
Start  <  Vorträge  <  dieser Vortrag