Symposium am 24. März 2004 in Werneck anlässlich
der Verabschiedung von Dr. med. Klaus Dufey
Der gute Arzt
Auf der Suche nach einem verlorenen
Ideal?
Linus S. Geisler
Sich Gedanken zu machen über
die Figur des guten Arztes bedeutet, sich mit einer Abfolge stets neu auftauchender
Fragezeichen auseinander zu setzen.
Zunächst drängt
sich die Frage auf, was das Wesen des Arztberufes überhaupt ausmacht.
Die Antworten darauf fallen durchaus uneinheitlich aus. Der Münchener
Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner [1] hat einmal über den
ärztlichen Beruf gesagt, er sei wunderlicher Natur, und immer wieder
würden geistvolle Köpfe darüber nachdenken, was eigentlich
an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit
und Geschäft, das Wesentliche sei.
Skeptiker könnten sich
fragen, ob der gute Arzt vielleicht sogar in jene anrüchige Kategorie
der sog. Gutmenschen gehört, die jede rationale Auseinandersetzung
unter dem Deckmantel einer (fadenscheinigen) Moral zu vermeiden versuchen?
Eine antiquierte Form des guten Samariters? Sollte man vielleicht besser
vom "Gutarzt" sprechen?
Die Frage nach dem guten
Arzt wird vielfach gestellt. Aber warum fragt keiner nach der guten Ärztin?
Die Approbationsvoraussetzungen für Ärztin und Arzt sind zwar
die gleichen, aber die Ausübung ihres Berufs ist unterschiedlich.
Bei Problemlösungen arbeiten Männer bevorzugt rational und operieren
mit direkten Lösungsansätzen und Ratschlägen, Frauen hingegen
streben nach Einfühlung und Nähe und bevorzugen den Diskurs (Buller
und Buller) [2]. Das wird uns von linguistischer Seite versichert. Ist
also die "gute Ärztin" vielleicht der bessere "gute Arzt"?
Wer überhaupt stellt
die Frage nach dem guten Arzt? Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass
die AOK, der Patient im Rollstuhl, Ulla Schmidt, die reifere Dame, die
ihr Seelenheil in der Anwendung von Botox sucht, und die Pharmaindustrie
unterschiedliche Idealbilder vom guten Arzt präferieren.
Die Patienten stellen zwar
die größte Gruppe dar, aber die Krankenkassen die mächtigste
und die Pharmaindustrie die reichste. Daneben existieren ausgesprochen
marginale Gruppen wie die eigene Arzt-Familie, deren Vernachlässigung
sich allerdings auf die Dauer, wie fast jeder weiß, bitter rächen
kann. Überdurchschnittlich hohe Scheidungsraten bei Ärzten sind
ein indirekter Hinweis.
Jede dieser Gruppen legt
andere Bewertungsmassstäbe an. Für die Krankenkassen zum Beispiel
definiert sich ein guter Arzt durch kurze Arbeitsunfähigkeitszeiten
der Erkrankten, sparsame Verordnung und pünktliche Beantwortung sämtlicher
Anfragen. Die alte allein stehende Dame mit Diabetes hingegen ist vielleicht
weniger an einem optimalen HbA1c interessiert, als an der Gelegenheit im
Gespräch mit ihrem Arzt Kindheitserinnerungen zu beschwören und
angenehmere diätetische Freigrenzen auszuhandeln.
Das in den Medien gezeigte
Arztbild schließlich neigt, so der Ethiker Giovanni Maio [3], wenn
es um ethische Fragen geht, zu einer Art "Hollywoodisierung" der Moral,
die das Problemfeld nicht im Horizont des ethischen Diskurses interpretiert,
sondern im Horizont des Kinos.
So steht der Arzt im Spannungsfeld
vieler Interessengruppen. Dennoch: was den guten Arzt ausmacht, definiert
sich aus der Beziehung zu seinen Patienten. Die Stunde der Wahrheit wird
in dieser Interaktion zweier Menschen offensichtlich, in der sonst kaum
gekannte Grade menschlicher Annäherung möglich sind.
Der gute Arzt: Studenten,
Ärzte, Patienten - meinen sie den gleichen?
Um die Frage nach dem guten
Arzt perspektivisch einzukreisen und systematisch anzugehen erscheint es
sinnvoll, an drei partizipierende Gruppen die Frage nach dem guten, den
idealen Arzt zu stellen, nämlich an:
-
Medizinstudenten
-
praktizierende Ärzte und
last not least
-
Patienten
Medizinstudenten
An der Universität
Regensburg wurden alle vorklinischen Studenten der Jahre 1997-2001 (816
Studenten) im ersten bzw. zweiten Semester gebeten, die Frage: "Wie stellen
Sie sich den idealen Arzt vor?" zu beantworten [4]. Insgesamt zeigte sich,
dass die Studenten ein recht homogenes und differenziertes Bild vom idealen
Arzt hatten. Im Vordergrund standen seine Kompetenz, seine Aufmerksamkeit
gegenüber dem Patienten und sein Interesse an ihm. Sensibilität,
Freundlichkeit und sympathische Ausstrahlung erschienen ebenfalls als wichtig,
kamen aber erst an zweiter Stelle.
Praktizierende Ärzte
In einer Studie 1999 über
die ärztlichen Wunsch- und Leitbilder bei niedergelassenen Ärzten
und Ärztinnen in Abhängigkeit von der Dauer der Beruftätigkeit
schälte sich heraus, der ideale Arzt solle kompetent, engagiert und
verständnisvoll sein. Daneben wurden häufig Fähigkeiten
wie Zuhörenkönnen, Empathie und Fürsorge genannt. Ärzte
mit der längsten Berufserfahrung fanden die Vorstellung einer partnerschaftlichen
Arzt-Patienten-Beziehung besonders wichtig. Sie nannten als ihr Ideal am
häufigsten die menschliche Zuwendung [5].
Patienten
Im Rahmen einer europäischen
Gemeinschaftsstudie führte das Institut für angewandte Qualitätsförderung
und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA) eine schriftliche Befragung unter
Patienten von 12 Praxen, 8 aus den alten und 4 aus den neuen Bundesländern
durch. Gefragt wurde, wie sie ihren Hausarzt sehen wollten, aber auch wie
er nicht sein sollte [6]. In den 435 auswertbaren Fragebögen rangierten
neben der Erreichbarkeit und Verfügbarkeit des Hausarztes folgende
Antworten an bevorzugter Stelle: Verlässlichkeit, Vertrauen, Information
und Kommunikation, Fachkompetenz, emotionale Unterstützung und Beratung.
Nicht minder interessant sind die Angaben, wie der Hausarzt auf keinen
Fall sein sollte, nämlich unfreundlich, ungeduldig, überheblich,
unpersönlich, kalt und ohne Interesse.
Noch
aufschlussreicher erscheint mir eine kürzlich veröffentlichte
Befragung an über 12.600 Patienten aus einundfünfzig Krankenhäusern
in den USA. Sie wurden nach ihrer Entlassung gebeten mögliche Hauptgründe
zu nennen, um ein Krankhaus weiter zu empfehlen. Die Antwort lautete: mit
Respekt und Würde behandelt zu werden und den Ärzten vertrauen
zu können [7].
Arzt
zu werden ist nicht schwer ...
Diese Studien sollten nicht
daran hindern kritisch die Frage nach der grundsätzlichen Definierbarkeit
des guten Arztes zu stellen. Klaus Dörner, der sich wohl die differenziertesten
Gedanken zum Phänomen des guten Arztes gemacht hat, schreibt am Ende
seines Buches "Der gute Arzt" [8]:
"Ich schließe
mit einer Art Scherz, nämlich mit einer Definition des "guten Arztes",
was natürlich Unsinn ist, da dies zum nichtdefinierbaren Teil der
Wirklichkeit gehört."
Natürlich bleibt Dörner
dem Titel seines Buches verpflichtet und fährt fort:
"Dem guten Arzt
ist bei geöffneten medizinischen Augen der ärztliche Augenaufschlag
eigen; er hört - getrennt voneinander - die Wünsche und das Wohl
der Patienten bzw. der Angehörigen; er ist - ihn berührend -
vom Anderen berührt; er ist darauf aus, das Hirnkonzept des Menschen
in die größere Weisheit seines Leibes einzubetten; und sein
schon waches Können und Wissen ist von seinem Gewissen verändert,
angerufen, geweckt."
Bis zum Verstehen oder schließlich
Akzeptieren eines solchen Konzeptes ist allerdings ein weiter Weg zurückzulegen.
Es wäre vermessen zu behaupten, dieser Vortrag könnte ein Wegbereiter
sein. Viel wäre schon mit der Erkenntnis erreicht, dass ein solcher
langer Weg - sicherlich als einer unter mehreren - existiert. Denn es ist
relativ leicht, Arzt zu werden, aber schwer, ein guter Arzt zu sein (von
Troschke) [9].
Auf der Suche nach dem
guten Arzt
Damit taucht die nächste
Frage auf: Kann man überhaupt lernen ein guter Arzt zu werden?
Wenn der gute Arzt die Verkörperung einer bestimmten Grundhaltung
darstellt - wie kommt man zu so einer Haltung, die offensichtlich in keinem
Studienplan als Ausbildungsziel verankert ist?
Die der Ausbildungsordnung
für Ärzte (AOÄ) vorangestellte Präambel entwirft kein
klares Bild des guten Arztes. Dort heißt es lakonisch:
"Ziel der ärztlichen
Ausbildung ist der wissenschaftlich und praktisch in der Medizin ausgebildete
Arzt, der zur eigenverantwortlichen und selbständigen Berufsausübung,
zur Weiterbildung und zur ständigen Fortbildung befähigt ist."
Klaus Dörner beginnt sein
Buch über den guten Arzt mit den Worten:
"Jeder Arzt denkt
im Stillen, im Selbstgespräch, ständig darüber nach, wie
er ein "guter Arzt", wie er zu einem ärztlich "guten Leben" kommen
könne ... Kein Arzt kann nicht darüber nachdenken."
Ist das wirklich so? Wenn der
junge Arzt, durch ein naturwissenschaftlich kopflastiges Studium im günstigsten
Fall in seinem Altruismus noch relativ unbeschädigt seinen Beruf aufnimmt,
greifen dann nicht ganz andere Überlegungen in seinem Denken Raum?
Das Unbehagen, nicht nur eingesetzt sondern auch ausgesetzt (ausgebeutet)
zu werden? Die Sorge um die nächste Vertragverlängerung? Die
Erkenntnis, dass das System, in dem er arbeiten muss, kaum etwas mit seinen
Idealen von früher zu tun hat?
Der Arzt im System
Auf hohes soziales Prestige
und üppiges Auskommen kann der junge Arzt in Zukunft nicht mehr rechnen.
Ein kaum entrinnbares Geflecht von Abhängigkeiten, Stressoren und
Pressionen tut sich auf. In den Krankenhäusern wird mit der Etablierung
der so genannten Fallpauschalen der Vorrang der Ökonomie vor der Humanität
mit Nachdruck durchgesetzt. Arbeitszeiten von 60 Stunden pro Woche und
mehr, überholte Hierarchien und eine kaum zu bewältigende Arbeitsdichte
sind klinischer Alltag. Die Karrierechancen sind mäßig, besonders
für Ärztinnen. Sie besetzen nur jede zehnte leitende Krankenhausposition.
Unflexible Arbeitszeiten und fehlende Kinderhortplätze verstärken
den Doppel-Stress durch Beruf und Haushalt. Wen wundert, dass rund ein
Drittel der heutigen jungen Ärzte nicht wieder den Arztberuf ergreifen
würden [10].
Eine Art vorauseilende Distanzierung
zum Patienten zeichnet sich bereits im Verhalten der zukünftigen Ärzte
ab. Jährlich brechen 2400 junge Menschen das Medizinstudium ab. Viele
wechseln das Studienfach. Jeder zweite Medizinstudent wird später
nicht als Arzt arbeiten. Beliebte nichtkurative Ausweichberufe sind Pharmaindustrie,
Krankenhausmanagement, Unternehmensberatungen oder Forschung. Während
der angehende Medizinstudent vor ein oder zwei Generationen nichts sehnlicher
erwartete als den ersten Kontakt mit einem Kranken, geht heute die Hälfte
der neuen Ärzte auf Abstand zum Patienten.
Auseinanderfallende Menschenbilder
und Verstörungen im Rollenverständnis irritieren die Suche des
Arztes nach seiner Identität. Sie zu artikulieren erscheint im System
einer hochtechnisierten Medizin immer schwieriger. Das Resultat ist eine
auffallende Konturlosigkeit der Handelnden und ein kompensatorisches Getriebensein
mit Tunnelblick. Wer den Klinikalltag tretmühlenhaft erlebt, schleift
sich selbst allmählich bis zur Farblosigkeit ab [11 ].
So beschreibt sich der amerikanische Klinikarzt Frank Huyler in seinem
Buch "Notaufnahme. Geschichten zwischen Leben und Tod" [12] als
wenig hervorstechende Figur:
"Keine großen
Einsichten, keine besondere Freundlichkeit, keine ungewöhnlichen Fähigkeiten,
kein Anzeichen von Zufriedenheit oder Einsamkeit, keine Spur von Visionen
oder Träumen ...".
Unhappy doctors
Weltweit ist in der Tat ein
alarmierendes Phänomen zu beobachten: das Phänomen des unglücklichen
Arztes. Eine aktuelle Untersuchung an Allgemeinärzten in England ergab
eine deutliche Abnahme der beruflichen Zufriedenheit. Diese sank, gemessen
an einer Sieben-Punkte-Skala, von durchschnittlich 4,64 Punkten 1998 auf
3,96 Punkte 2001 [13 ].
Die Zahl der Ärzte, die sich in den nächsten fünf Jahren
aus der direkten Patientenversorgung zurückziehen wollen, stieg im
gleichen Zeitraum von 14 auf 22 Prozent.
Ein Editorial des British
Medical Journal vom April 2002 widmet sich ausschließlich dem weltweiten
Phänomen der unglücklichen Ärzte ("unhappy doctors") [14 ].
Arbeitslast und als unzureichend wahrgenommene Bezahlung scheinen allerdings
das Problem nicht vollständig zu erklären. Als Schlüsselfaktor
wertet die Analyse im BMJ einen Wandel im Verhältnis zwischen Beruf,
Patienten und der Gesellschaft, der dafür verantwortlich ist, dass
der Arztberuf heute nicht mehr dem entspricht, was die Ärzte sich
ursprünglich erwartet hatten.
Nicht besser ergeht es den
niedergelassenen Ärzten in Deutschland. Mehr als 90 Prozent der niedergelassenen
Vertragsärzte fühlen sich durch die Gesetzgebung im Gesundheitswesen
und durch die Einflussnahme der Politik bzw. der Kassen auf die Patientenversorgung
belastet (NAV-Virchow-Bund) [15]. 59 Prozent sind "ausgelaugt", ebenso
viele fühlen sich am Tagesende "völlig erledigt".
Individuation und Sozialisation
der deutschen Ärzte führen, so der Politologe Ruebsam-Simon [16 ]
im Deutschen Ärzteblatt, zu einem isolierten und autistischen Verhaltensmuster.
Die Wirklichkeit wird mit medikalisiertem "Tunnelblick" unter Ausblendung
politischer und sozialer Wirkfaktoren wahrgenommen. Angstgesteuertes Verhalten
statt Selbstbewusstsein und Zivilcourage wird mehr und mehr zum dominierenden
Verhaltensmuster. Ruebsam-Simons Artikel zur Krise des Arztberufs erhielt
soviel Zustimmung von Seiten der Leserschaft wie kaum sonst ein Beitrag
im Deutschen Ärzteblatt.
Diese Phänomene sind
aber mit Sicherheit kein spezifisch deutsches Problem. Einschränkung
der Autonomie, massive externe Kontrollen, Zunahme berufsfremder Tätigkeiten
und sinkende Einnahmen sind in weiten Teilen der westlichen Welt - so der
Internationale Kongress für Ärztegesundheit im Oktober 2002 in
Vancouver - das hervorstechende Charakteristikum ärztlicher Arbeitsbedingungen
[17 ].
Sie finden ihren Niederschlag unter anderem in einem erhöhten Suizidrisiko
(das wiederum Ärztinnen besonders betrifft), in Depressionen und Abhängigkeitsproblemen
(Alkohol, Sedativa, Opiate). Das Privatleben leidet; 69 Prozent der niedergelassenen
Ärzte bezeichnen es als unbefriedigend und nur 21 Prozent haben genügend
Zeit für eigene Interessen [18]. Trennungs- und Scheidungswahrscheinlichkeit
liegen bei Ärzten über dem Durchschnitt [19].
Unzufriedene Ärzte
- zufriedene Patienten?
Alles ungünstige Vorzeichen
für die Entwicklung zum guten Arzt, denn können unglückliche
Ärzte glückliche Patienten haben? Können die Patienten unzufriedener
Ärzte selbst zufrieden sein? Mit Sicherheit nicht, denn zwischenmenschliche
Kommunikation läuft regelhaft als zirkulärer Prozess ab.
Eine von der Bertelsmann
Stiftung initiierte und vom Zentrum für Sozialpolitik der Uni Bremen
wissenschaftlich betreute Befragung (Ende 2001/Mitte 2002) unter rund 3000
Bürgern über ihre Erfahrungen in Arztpraxen und Kliniken ergab,
dass fast jeder dritte Befragte (31 Prozent) schon einmal den Hausarzt
gewechselt hatte, weil er mit dessen Behandlung nicht einverstanden war
[20]. Über die Hälfte der Kassenpatienten halten die Qualität
der medizinischen Versorgung in Deutschland für verbesserungsbedürftig,
was gut im Einklang mit der Meinung der behandelnden Ärzte selbst
steht: Etwas mehr als die Hälfte von ihnen ist überzeugt, dass
die Qualität der Behandlungen nicht dem neuesten medizinischen Standard
entspricht. Im Vergleich mit den Staaten der Europäischen Union belegt
die Patientenzufriedenheit in Deutschland nur einen mittleren Platz [21].
Der Arzt als Feind?
Nicht selten entwickelt sich
ein Konfrontationsverhältnis zwischen Arzt und Patient, das seinen
Niederschlag auch in der Literatur gefunden hat. In der Geschichte "The
Use of Force" beschreibt William C. Williams, selbst Arzt, wie ein
Arzt bei der Untersuchung eines behinderten Mädchens die Geduld verliert,
schließlich Gewalt anwendet, bis ihre Tränen fließen [22].
Innerlich beschimpft er sie als "brat" (Balg). Nur flüchtig hat er
das Gefühl, er könne sich falsch verhalten haben und müsse
sich vielleicht bei den passiv dabeistehenden Eltern entschuldigen. Im
Grunde befriedigt ihn sogar der gebrochene Widerstand der Patientin.
Ein ausgelaugter Assistenzarzt,
der Endlosschleife zermürbender Dienste nicht mehr gewachsen, gesteht,
für ihn werde nach dreißig Stunden Dienst "jeder Patient zum
Feind" (O-Ton) [23]. Sind seine Chancen, ein guter Arzt zu werden, nicht
längst schon verspielt?
Unter dem Pseudonym Samuel
Shem hat der Harvard-Professor für Psychiatrie Stephen Bergmann 1998
einen Roman mit dem Titel "House of God" veröffentlicht, ein
bitterböses Werk, das die Erfahrungen und Leiden eines jungen Arztes
im ersten klinischen Weiterbildungsjahr schildert [24]. Er lebt in ständiger
Angst, Angst vor den Erwartungen der Vorgesetzten, den Bedürfnissen
und Emotionen seiner Patienten. Die Kranken erscheinen ihm fast ausnahmslos
als Monster, die nichts anderes im Sinn haben, als die behandelnden Ärzte
zu quälen. Im Klinikjargon werden sie als Gomer ("get out of my emergency
room") bezeichnet:
"Gomers sind Wesen,
die das verloren haben, was ein menschliches Wesen ausmacht. Sie wollen
sterben, und wir lassen sie nicht sterben. Wir sind grausam zu den Gomers,
und sie sind grausam zu uns, indem sie mit Zähnen und Klauen gegen
unsere Versuche ankämpfen, sie zu retten. Sie quälen uns, wir
quälen sie".
Sollten diese Schilderungen
der Verhältnisse in einer der besten Medical Schools der USA auch
nicht frei von Überzeichnungen sein, so ist die Erkenntnis des Protagonisten
über die Ursachen dieser Übel sehr wohl von paradigmatischem
Wert. Er kommt zu dem Schluss:
"Was wir sagen wollen,
ist, dass das eigentliche Problem ... nicht die Gomers waren, sondern die
Tatsache, dass wir niemanden hatten, zu dem wir aufsehen konnten".
Hier wird ein wesentliches Phänomen
thematisiert: Kaum noch finden sich heute begeisternde ärztliche Vorbilder
oder gar "Meister", die Halt geben, Lehrer, die Schulen begründen,
ärztliche Figuren, deren Wirken und Leben der Stoff sind, den der
junge Arzt auf dem Weg zum guten Arzt unverzichtbar braucht. Die Älteren
von uns werden sich sehr wohl noch an große Arztgestalten ihrer Studien-
und frühen Berufsjahre erinnern wie beispielsweise Ludwig Heilmeyer
(1899-1969), Gotthard Schettler (1917-1996) oder Hans Erhard Bock (1903).
Gute Ärzte - gute
Menschen?
Die Frage, ob ein guter Mensch
selbst ein gutes Leben führen kann, ist oft gestellt worden. In Bert
Brechts Theaterstück "Der gute Mensch von Sezuan" [25] ist
dieser gute Mensch die Dirne Shen Te. Drei Götter, die ihr aufgetragen
hatten gut zu sein, sitzen schließlich über sie zu Gericht.
Vor ihnen klagt Shen Te:
"Euer einstiger
Befehl / gut zu sein und doch zu leben / zerriss mich wie ein Blitz in
zwei Hälften ... gut sein zu andern / Und zu mir konnte ich nicht
zugleich. / Ach, eure Welt ist schwierig!"
Die Götter wissen keine
Antwort auf Shen Tes Klagen. Brecht lässt den Schluss des Stücks
offen. Es endet mit dem bekannten Ausruf:
"Wir stehen selbst
enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen."
Die Frage nach der Leichtigkeit
oder Schwierigkeit der Welt des Arztes auf seinem Weg zum guten Arzt entzieht
sich einer definitiven Beantwortung, alleine schon auf Grund der Vielfalt
der ärztlichen Charaktere. Sicher aber ist, dass der gute Arzt nicht
umhin kommt zu lernen, in einem Spannungsfeld zu leben. Ihn zeichnet aus,
dass er zu jener inneren Polarität fähig ist, die durch Freiheitsbewusstsein
einerseits und Bereitschaft zum Dienen andererseits bestimmt wird.
Der Grossteil der medizinischen
Studienanfänger ist durchaus guten willens, altruistisch motiviert
und psychosozial engagiert. In einer von dem Medizinsoziologen Professor
Jürgen von Troschke durchgeführten Fragebogenerhebung bei Medizinstudenten
verschiedener Studiensemester bekannten sich 80,5 % eindeutig und ohne
Einschränkungen zu der Aussage: "Mein Ziel ist, später ein guter
Arzt zu werden". Nur 1,8 % der Befragten wollten dieser Aussage in keiner
Weise zustimmen. Skeptisch hingegen bewerteten die Studenten die Aussage:
"Unsere Fakultät bietet gute Voraussetzungen für Studenten, alles
zu lernen, was einen guten Arzt ausmacht".
Kein Zweifel: der ganz überwiegende
Teil der Studienanfänger im Fach Medizin hat das Ziel, ein guter Arzt
zu werden. Kein Zweifel aber auch, dass dies langfristig nicht allen gelingt.
Wo liegen die Gründe?
Im allgemeinen Phänomen, dass sich die beruflichen Ideale des Anfangs
im nüchternen Berufsalltag zwangsläufig abschleifen? Ist der
gute Arzt vielleicht ein Ideal, das sich immer nur kurzfristig erreichen
lässt? Bewirken das System und eine neue Patientengeneration mit möglicherweise
unangemessenen Ansprüchen, dass sich zwischen Arzt und Patient nur
noch ein Klima der Vertragserfüllung und nicht des Vertrauens entwickeln
kann?
Arztbilder
Es ist bemerkenswert, dass
in den letzten zwei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, also in der Phase
einer relativen Prosperität der Medizin, keine nennenswerten Selbstreflexionen
des Arztbildes publiziert wurden. Die Faszination des Machbaren lenkte
den Blick nicht nach innen sondern auf das außen verfügbare
Instrumentarium.
Zuvor, mit Beginn der Hochtechnisierung
der Medizin, befassten sich unter anderem zwei bemerkenswerte Werke mit
dem Spannungsbogen zwischen ärztlichem Auftrag und technischen Eingriffsmöglichkeiten
in den Patientenkörper:
-
1977 publizierte Dietrich Rössler,
Arzt und Theologe, seine Monographie "Der Arzt zwischen Technik und
Humanität" [26]. Er warnte vor einer "ideologisierten Verwissenschaftlichung
des Lebens".
-
einige Jahre später (1986)
veröffentlichte Karl Jaspers sein noch heute lesenswertes Buch "Der
Arzt im technischen Zeitalter" [27].
Im Kontrast zur enormen Leistungsfähigkeit
der modernen Medizin, so Jaspers, sei nicht selten eine Stimmung des Versagens
zu beobachten. Für die Menge der kranken Menschen werde es immer schwerer,
ihren für den einzelnen Menschen rechten Arzt zu finden. Und dann
findet sich jener Satz, der heute mehr Gültigkeit hat denn je:
"Man könnte
meinen, die guten Ärzte würden seltener, während Wissenschaft
als Können ständig wächst."
Die heute vielfach empfundene
Krise der Medizin und die daraus erwachsende Suche nach einer neuen Identität,
der Wunsch nach beruflicher Erfüllung und Sinnstiftung haben dazu
geführt, dass die Gestalt des guten Arztes aktuell wieder intensiv
thematisiert wird.
So sind jetzt fast zeitgleich
drei Bücher zum Thema der gute Arzt erschienen, wobei sich jedes von
einem anderen Ansatz her seiner Thematik nähert. Alle drei garantieren
eine faszinierende Auseinandersetzung mit der Gestalt des guten Arztes,
seinen Wesenszügen, seinen Wurzeln und seiner Transponierbarkeit in
die Wirklichkeit der Medizin des 21. Jahrhunderts.
Jürgen von Troschke
fasst in seinem Buch "Die Kunst ein guter Arzt zu werden" [28] in
zehn Thesen die Wege zum guten Arzt zusammen.
Von Bernard Lown,
den die meisten als Erstbeschreiber des "Sick-Sinus-Syndroms" und der Klassifikation
der ventrikulären Extrasystolen kennen, stammt das Buch "Die verlorene
Kunst des Heilens" [29]. Die für ihn denkwürdigste Beschreibung
einer guten Arzt-Patient-Beziehung, schreibt Lown, stamme von einer einfachen
sibirischen Ärztin. Sie habe ihm gesagt: "Jedes Mal, wenn ein Arzt
einen Patienten sieht, sollte sich der Patient anschließend besser
fühlen." Ich möchte ergänzen: Idealerweise sollten sich
beide
besser fühlen.
Das anspruchvollste und differenzierteste
der drei Werke hat Klaus Dörner geschrieben: "Der gute Arzt.
Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung" [30]. Ein philosophisches
Werk, das sich häufig aus überraschenden Perspektiven seinem
Stoff nähert, eine vielschichtige Betrachtung zur Beziehung zwischen
Arzt und Patient.
Keines der drei Bücher
ist im Kern resignativ oder larmoyant, jedes ist auf seine Weise geprägt
vom Glauben an den guten Arzt, jedes gibt ihm eine Zukunft, jedes zeigt
und ebnet Wege zu diesem Ziel.
Der gute Arzt über
die Jahrtausende hinweg
Beim Blick zurück in
die Vergangenheit stellt sich die Frage, ob der gute Arzt medizinhistorisch
betrachtet überhaupt durchgängig eine konsistente Gestalt war,
ob es einen Wesenskern gibt, der alle guten Ärzte über alle Zeiten
hinweg verbindet und ausmacht?
Christoph Wilhelm Hufeland,
Mitbegründer der neuzeitlichen Medizin, schrieb vor rund 200 Jahren:
"Es bedarf noch
immer derselben Eigenschaften, um ein großer Arzt zu sein, wie zu
Hippokrates' Zeiten."
Gilt das aber auch heute noch,
angesichts einer Medizin, zu deren Arsenal Chemotherapie, Organtransplantation,
Gentechnik und bereits auch Nanotechnologie gehören?
Eben jener Christoph Wilhelm
Hufeland zeichnete ein romantisches, aber auch rigoroses Bild vom guten
Arzt. Dieser solle nicht nach Ehre und Geld streben, denn der wahre Lohn
seines Berufes sei nicht zu bestimmen. Wie ein Künstler solle er nicht
durch "mechanische Geschäftigkeit" wirken, sondern seinen Gegenstand
"ins innerste Gemüth" aufnehmen. Er dürfe nicht anderes tun,
als Leben unter allen Umständen zu erhalten, sonst werde er der "gefährlichste
Mann im Staate" [31].
In der Antike war der "göttliche
Arzt" das Idealbild des Arztes, am prägnantesten verkörpert in
der Gestalt des Asklepios, Sohn des Gottes Apollo und der schönen
Koronis aus Thessalien [32]. Der Arzt sollte philosophisches Wissen in
die Heilkunde und Heilkunde in die Wissenschaft der Philosophen einführen.
Helfendes Können und philosophisches Wissen vereinigte Asklepios in
sich und galt deshalb als göttergleich. Ärzte auf der Höhe
ihrer Laufbahn wurden damals mit goldenen Kränzen bedacht, so auch
Hippokrates, der mit einem goldenen Kranz im Wert von tausend Goldstücken
bekränzt worden sein soll.
Die spekulativen, auf mystischen
Hintergründen basierenden Auffassungen mittelalterlicher Ärzte
wurden später abgelöst durch den naturwissenschaftlichen Arzt.
Beispielhaft steht dafür Bernhard Naunyn, einer der bedeutendsten
Internisten des 19. Jahrhunderts, dessen Medizinverständnis in dem
berühmten Satz seinen Ausdruck findet: "Medizin muss Wissenschaft
sein, oder sie wird nicht sein." Wobei damals "Wissenschaft" mit "Naturwissenschaft"
gleichgesetzt wurde.
Dass aber ein ausschließlich
naturwissenschaftliches Verständnis der Medizin zu kurz greift, war
den damaligen Ärzten durchaus bewusst. Eine der besten Charakterisierungen
des guten Arztes im gleichen Jahrhundert stammt von französischen
Medizinern. Sie nannten den guten Arzt einen "père maternel", einen
"mütterlichen Vater" - jemanden, der zugleich lenkender Vater und
warmherzig verstehende Mutter ist.
Der Wandel von der hippokratischen
zur heutigen Medizin ist augenfällig. Die hippokratische Medizin war
im Wesentlichen ein paternalistische Entwurf, bestimmt von den Zielen,
dem Patienten Nutzen zu bringen und ihm keinesfalls zu schaden. Die Selbstbestimmung
des Kranken taucht in den hippokratischen Schriften nicht auf. Hippokrates
hielt Ärzte für gut, wenn sie "sich aus fremdem Leiden eigene
Sorgen" bereiten.
Heute steht nicht das Wohl,
sondern der Wille des Patienten im Vordergrund. Ein Paradigmenwechsel vom
Modell der Fürsorge zum Modell der Autonomie hat sich in den letzten
20 bis 30 Jahren vollzogen und damit auch eine deutliche Verlagerung von
Verantwortung in Richtung des Patienten [33 ].
Der gute Samariter von heute klärt seinen Patienten umfassend, wenn
es sein muss schonungslos auf (informed consent), zeigt ihm alle vernünftigen
diagnostischen und therapeutischen Optionen, sichert sich damit rechtlich
weitgehend ab, und überlässt am Ende dem Kranken die Entscheidung.
Jetzt wird dem Patienten alles gewährt, was er will und nichts was
er nicht will - aber auch alles, was er wirklich braucht?
Fragmentierte Ärzte
Hat dies noch irgendetwas
zu tun mit der "Idee des Arztes", die Karl Jaspers 1953 konzipierte [34].
Der Arzt müsse "anders werden, wie Menschen sonst sind". Das Höchste,
was dem Arzt gelingen könne "ist schicksalsgefährdet zu werden
mit dem Kranken". In nicht vorausberechenbaren Grenzfällen könne
zwischen Arzt und Krankem "Freundschaft" entstehen. Tatsächlich gab
es diesen Arzt, der zugleich Freund war, manchmal ein Leben lang. So war
Max Schur Arzt und Freund von Sigmund Freud. Er war es auch, der Freud
nach ungezählten Krebsoperationen mit einer Dosis von 20 mg Morphin
in einen Schlaf versetzte, aus dem dieser nicht mehr erwachte [35].
Wer nach dem guten Arzt fragt,
müsste auch nach dem "guten Patienten" fragen. Vielleicht ist auch
er nur ein Phantom, eine Projektionsfläche des kranken Menschen, das
sich komplementär zur Welt des guten Arztes verhält. In Wirklichkeit
aber, so wird eingewandt, dominiert heute eher der sog. "fragmentierte
Patient" (Walter Böker) [36 ].
Die konventionelle Gesprächstechnik der Ärzte zerlegt die Patientenäußerungen
in Einzelbeschwerden und blendet das Selbstbild des Kranken,
seine Deutung und Auslegung der Krankheit aus.
Die auf dieser Grundlage
in Gang gesetzte, oft rational letztlich gar nicht begründbare umfangreiche
Diagnostik liefert dann zwangsläufig Datensammlungen, die das
Leiden des Kranken nur bruchstückhaft und unzusammenhängend wiedergeben.
Was resultiert ist der "fragmentierte Patient". Der Arzt, der sich diese
Herangehensweise an den Kranken langfristig zu Eigen macht, wird schließlich
zum "fragmentierten Arzt", unfähig seinen Patienten in der Ganzheit
seines Leidens wahrzunehmen.
Es ist unverkennbar, dass
dieser "fragmentierte Arzt" als Gegenstück des guten Arztes zu begreifen
ist. Er freilich ist wiederum das Resultat einer ärztlichen Ausbildung,
die das dialogische Prinzip als Urelement des Umgangs von Arzt und Patient
sträflich vernachlässigt, den klinischen Blick als Hantieren
mit "weichen Daten" abtut und auf die unlimitierte Erhebung harter Daten
setzt. In diesen Datenbergen, die manchmal nicht mehr als Datenfriedhöfe
sind, ist der Patient mit seiner individuellen Leidens- und Lebensgeschichte
nur noch auszumachen, wenn der Blick auf Person und Persönlichkeit
nicht durch sie restlos verstellt wird.
Es wird beklagt und trifft
in vielem zu, dass der heutige Arzt sich häufig als hilfloser Akteur
im Gesundheitswesen zwischen Patienten, Kollegen, Krankenversicherungen
und Politik tief verunsichert erlebt. Richtlinien, Grundsätze und
Empfehlungen zum Beispiel der BÄK zu aktuellen Fragen wie Sterbebegleitung,
Transplantationsmedizin oder Fortpflanzungsmedizin geben seinen Handlungsspielraum
vor. Diagnose und Therapie der verschiedensten Krankheitsbilder, von der
Hypertonie bis zur Fußmykose erheben in Form von Leitlinien diverser
Fachgesellschaften den Anspruch normierter Handlungsanweisungen. Die evidenz-basierte
Medizin (EBM) versteht sich als "Grundlage ärztlichen Handelns" [37 ],
ein Anspruch, der völlig verkennt, dass Medizin bei aller Naturwissenschaftlichkeit
ebenso Erfahrungswissenschaft ist, und verschweigt, dass EBM selbst nicht
evidenz-basiert ist [38].
Internationale Abkommen wie
der Nürnberger Kodex von 1947, die Deklaration von Helsinki 1964 oder
die EU-Biopatentrichtlinie von 1998 stellen weitere bioethische Rahmenrichtlinien
dar, ohne dass hier eine weltweit verbindliche ethische Sprachregelung,
ein "moralisches Esperanto" gelungen wäre.
Hinzu kommt, dass im biotechnologischen
Zeitalter Menschenbilder das gegenwärtige "Ethos des Heilens" dominieren,
deren therapeutische Optionen vorwiegend auf Reparatur, regenerative Eingriffe
und Ersatz ausgerichtet sind.
Niemand kann ernsthaft verkennen,
dass ärztlichen Entfaltungsmaßnahmen und Handlungsspielräumen
dadurch in einer bisher kaum bekannten Weise Grenzen gesetzt werden. Bedeutet
dies aber auch, dass der Arzt nur noch in schachfigurenhafter Manier, gelenkt
von Systemen, die er nur noch unvollständig durchschaut, zu agieren
vermag? Ist dies der fast unmerklich schon vollzogene Abschied von einem
nostalgischen Relikt, nämlich dem "guten Arzt" von gestern?
Oder reicht es, sich mit
einem den Zeitverhältnissen angepassten, quasi entidealisierten Arztbild
zu begnügen, das im Mainstream eines vorwiegend ökonomisch ausgerichteten
Gesundheitswesens nirgendwo mehr aneckt?
Die These, die dem heutigen
Arzt zwar eine Suche nach neuer Identität zugesteht, deren Ergebnis
aber nicht mehr der gute Arzt ist, sondern allenfalls der "bessere Arzt"
[39], quasi eine rudimentäre Plusvariante des "unhappy doctors", überzeugt
nicht. Denn der gute Arzt, so schwer er auch definitorisch festgemacht
werden kann, eines ist er auf keinen Fall: eine Kompromissfigur im Spannungsfeld
diverser Interessengruppen.
Sprechende Augen
Ein wesentlicher Charakterzug
des guten Arztes ist seine Fähigkeit und seine Bereitschaft, sich
auf seinen Patienten einzulassen. Sich auf den Patienten einzulassen bedeutet
auch, sich ihm auszusetzen. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas
beschreibt diese Beziehung vom Anderen her in einem eindringlichen Bild:
"Es sind die sprechenden
Augen des ungeschützten Antlitzes des Anderen, die mich dazu bewegen,
mich ihm auszusetzen." [40]
Die Sprache dieser Augen lässt
sich nicht in einem binären Code erfassen. Sie zu verstehen und in
einer für den Patienten verstehbaren Sprache antworten zu können,
macht eine essentielle Fähigkeit des guten Arztes aus. Dieser Dialog
hat sich wahrscheinlich in seinem Kern nicht verändert seit es Ärzte
und Patienten gibt, auch wenn er sich in einem gewandelten technischen
Umfeld vollzieht.
Die Einmaligkeit der Begegnung
zwischen Arzt und Patient als einer Interaktion von Ich und Du, die im
Extremfall schicksalsbestimmend sein kann und eine Vertrautheit voraussetzt,
die sonst nur zwischen Ehepartnern oder freundschaftlich tief verbundenen
Menschen gegeben ist, bleibt weitgehend unberührt von den Machbarkeitspotentialen
der jeweils vorherrschenden Medizin. Der gute Arzt ist sich dessen, zumindest
intuitiv bewusst. Nicht um sonst gehört es zur Pflichtlektüre
von Harvard-Studenten, Martin Bubers Buch "Ich und Du" von 1923
zu lesen [41].
Zuversicht
Was bisher in diesen Überlegungen
zum guten Arzt nicht auftaucht, ist eine bindende Definition. Aber kann
es sie überhaupt geben? Viele charakteristische Eigenschaften des
guten Arztes sind bereits genannt worden. Aber wäre es nicht geradezu
kontraproduktiv angesichts der Vielfalt ärztlicher Persönlichkeiten,
ihrer unterschiedlichen Philosophien, ihrer individuellen Erfahrungen eine
in Erz gegossene Figur des guten Arztes schaffen zu wollen, die am Ende
statisch und erhaben kaum mehr etwas mit der komplexen Wirklichkeit einer
patientenzentrierten Medizin zu tun hat? Insofern kann man Jürgen
von Troschke zustimmen, wenn er sagt, schließlich könne jeder
Arzt nur auf seine Weise ein guter Arzt werden und sein.
Vielleicht ist es daher erlaubt,
den guten Arzt einfach zu beschreiben als den Arzt, den wir als Ärzte
uns selbst wünschen, wenn wir krank geworden sind und Hilfe brauchen.
Kein untauglicher Weg, denke ich, denn es hat sich gezeigt, dass der Arzt,
trotz seines Wissens und Könnens, wenn er selbst krank wird, sich
kaum anders verhält als seine Patienten: Er will ernst genommen werden,
er erwartet neben Fachkompetenz Einfühlung, Fürsorge und Respekt.
Er wünscht sich einen dialogfähigen Arzt, der seinen Blick von
Skalen, Zahlen und Monitoren lösen kann und ihm in die Augen sieht,
sich ihm aussetzt und seine eigenen Grenzen kennt.
Dieser Arzt geht der Beziehung
zu seinem Patienten nicht aus dem Weg und weiß, dass diese Beziehung
nur aus einer empathischen Haltung und einem vorurteilslosen Sich-Einlassen
auf den anderen entstehen kann. Sie reicht über das bloße Verstehen
des Kranken hinaus und zielt auch darauf ab, dass dieser sich selbst versteht.
In dieser Beziehung sind ärztliches Krankheitsverständnis und
die Selbstauslegung von Krankheit durch den Patienten nicht sich ausschließende
sondern komplementäre Wirklichkeiten.
Der gute Arzt kennt Mut und
Demut. Er hat den Mut, sich einem Wandel des ärztlichen Selbstbildes
auszusetzen und ist tapfer genug, sich drohenden institutionellen Einbindungen
und Zwängen nicht kampflos zu unterwerfen. Er ist bemüht, zwischen
vernünftigen Zukunftsvisionen der Wissenschaft und Utopien zu unterscheiden,
die gegen Menschenwürde und menschliches Leben gerichtet sind. Er
ist bemüht, in seinem Wirkungsbereich gerecht zu sein, obgleich er
in einer globalisierten Welt leben muss, in der die gerechte Verteilung
knapper Güter nur unzulänglich gelingt. Er ist demütig genug,
seine eigenen Grenzen und die seiner Profession anzuerkennen.
Ich bin zuversichtlich, dass
die Kunst des guten Arztes nach wie vor erlernbar ist. Es ist mein brennender
Wunsch, dass gerade die junge Ärzteschaft sich für diese Zuversicht
öffnet, auch wenn ihr ärztlicher Alltag nicht selten im Kontrast
zu dieser Hoffnung zu stehen scheint.
Meine Zuversicht leitet sich
ab von der Erkenntnis, dass die "sprechenden Augen" des ungeschützten
Angesichts des Anderen uns wie eh und je ansehen und uns bewegen können,
sich diesem Anderen auszusetzen.
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Leipzig 1923
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Linus S. Geisler: Der gute
Arzt - Auf der Suche nach einem verlorenen Ideal? |
Symposium am 24. März 2004 in Werneck anlässlich
der Verabschiedung von Dr. med. Klaus Dufey |
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0403guter_arzt.html |
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