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Linus S. Geisler: Mit bedrohlich erkrankten Patientinnen und Patienten sprechen. Vortrag anlässlich der Tagung "Krebs zwischen Schrecken und Sensation“ der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. - Evangelische Akademie Tutzing, 25. September 2005
Mit bedrohlich erkrankten Patientinnen und Patienten sprechen 

Linus S. Geisler
"Das Leben eines Kranken kann nicht nur durch die Handlungen eines Arztes verkürzt werden, sondern auch durch seine Worte und sein Verhalten." So steht es in der Gründungsschrift der American Medical Association aus dem Jahre 1847. [1]

Gilt auch der Umkehrschluss? Die Antwort lautet: Ja. Mittlerweile ist durch solide Studien an großen Patientenzahlen, meist Tumorkranken, nachgewiesen worden: Eine gute Arzt-Patient-Kommunikation kann die Prognose von Kranken eindeutig verbessern.

Gespräche mit sterbenskranken Menschen zählen freilich zu den schwierigsten. Nicht selten tragen sie bereits den Keim des Versagens in sich, vor allem für den Unerfahrenen.^

Der bekannte buddhistische Lehrer Sogyal Rinpoche beschreibt in seinem Werk Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben [2] eine junge Ärztin in einem großen Londoner Krankenhaus. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag sterben vier Patienten auf ihrer Station. Darauf ist sie überhaupt nicht vorbereitet. Ein sterbenskranker alter Mann bedrängt sie mit der Frage: "Glauben Sie, dass Gott mir meine Sünden vergeben wird?" Sie kann nichts antworten, ist hilflos, wie gelähmt und unfähig dem Kranken bei seiner Sinnsuche zu helfen. Einen Geistlichen, an den sie die Frage weitergeben möchte, findet sie nicht.

Später wendet sie sich an Sogyal Rinpoche und fragt ihn, wie er sich verhalten hätte. Er antwortet: "Ich hätte mich zu ihm gesetzt, seine Hand genommen, ihn einfach sprechen lassen und ihm mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit und voll Mitgefühl zugehört. Vielleicht hätte ich ihm auf diese Weise helfen können, seine eigene innere Wahrheit zu entdecken."

Möglicherweise hätte ich zu ihm gesagt: "Gott hat Ihnen längst vergeben, denn Gott ist die Vergebung selbst. Die eigentliche Frage ist: Können Sie sich selbst vergeben?"

Gespräche mit sterbenskranken Menschen zählen zu den schwierigsten, aber sie tragen auch die Chance in sich, leidenden Menschen mehr zu helfen als alles andere.

Am Anfang sollte die Erkenntnis stehen, dass die Einfühlung des Therapeuten in einen Sterbenden - und sei sie noch so intensiv - eine grundsätzliche Grenze nicht überwinden kann. Denn die allgemeine Erkenntnis des Gesunden, dass Sterblichkeit eine anthropologische Konstante darstellt, ist ein Wissen, das mit dem Bewusstsein des Sterbenskranken, sich bereits in jenem Prozess zu befinden, der unausweichlich in das Ende des Lebens einmündet, nicht gleichzusetzen ist.

Sich dessen bewusst zu sein ist unabdingbar, um nicht Gespräche mit bedrohlich Kranken aus einer fatal untauglichen Perspektive zu führen.

Die Zeit des Schweigens und die Zeit des Sprechens haben jeweils ihre eigene Stunde. Bedrohlich erkrankte Menschen haben ein subtiles Gespür für die falschen Worte und die falsche Zeit. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Die biblische Geschichte von Hiob in seinem unermesslichen Leid ist hierfür ein beredtes Beispiel. Hiob hat Hab und Gut verloren, seine Söhne und Töchter wurden von einem gewaltigen Wüstenwind getötet, er selbst ist mit bösartigen Geschwüren von der "Fußsohle bis zum Scheitel" bedeckt.

Da kommen seine Freunde. Zunächst verhalten sie sich angemessen. Es heißt: "Sie saßen bei ihm sieben Tage und Nächte lang und sprachen kein Wort zu ihm; denn sie sahen, dass sein Schmerz gar zu groß war." Aber dann verfallen sie in übliche Redensarten und Hiob, der die Hohlheit ihrer Worte spürt, nennt sie "untaugliche Ärzte" und schleudert ihnen entgegen: "Eure Merksätze sind Sprüche aus Staub ..." [3]

Zu den "großen Krankheiten", die das Sterben in einem besonderen, vielleicht sogar charakteristischen Maß prägen, zählt der "Krebs" als Sammelbegriff einer Vielzahl bösartiger Krankheiten. Krebs, diese Krankheit "in Anführungszeichen", wie Adolf Muschg schreibt, ist "ein asozialer Prozess der biologischen Norm" [4]. Ihn umgibt eine Aura des Tragischen, der Ohnmacht und der Entstellung, des Unbegreiflichen. In ihrem Buch Der Knoten beschrieb die krebskranke Lieselotte Bappert Krebs "als Notlage, die sich schwerlich mit irgend etwas vergleichen lässt, das einem zivilisierten Menschen sonst zustoßen kann ..." [5]

Die Gewissheit des Sterbens hat die Psychoonkologin Ursula Gruber in einem Bild beschrieben: Für den Kranken, der weiß, dass er sterben muss, wird diese Gewissheit zum Hinterhof, der von der Hochleistungsmedizin ummauert wird. "Ihn betreten zu müssen, heißt, den Kampf vor den Mauern schon verloren zu haben und im Dunkel zu stehen - allein in Unbehagen und Angst". Als Homo clausus hat der Philosoph Norbert Elias den Sterbenden in seinem Buch Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen bezeichnet.

Angst und Dunkel zählen zu den häufigsten Vokabeln sterbenskranker Menschen. "An Krebs zu denken", schrieb die mit vierundvierzig Jahren an Brustkrebs gestorbene DDR-Schriftstellerin Maxie Wander "ist, als wäre man mit einem Mörder in einem dunklen Zimmer eingesperrt. Man weiß nie, wo, wie und ob er angreift." [6]

Angst bildet das Grundrauschen vor dem in todesbedrohter Krankheit alles geschieht. Manchmal kaum wahrnehmbar, manchmal gesteigert bis zur Panik. Die tiefste Angst ist im Kern die Angst vor dem Beziehungsverlust in einer Welt, die sich am Ende nicht mehr als jene behütende Behausung erweist, als die wir sie ein Leben lang wahrgenommen haben. Der Tod erscheint dann als der radikalste und unwiderrufbarste Beziehungsverlust (M. Volkenandt). [7]

In dieser Angst schwingt die große Verlassenheit des vom Tode bedrohten Menschen mit. "Die größte Tragödie ist nicht ein schmerzvoller Tod, sondern Verlassensein" sagte einmal Mutter Teresa. [8]

Die Tiefe dieses Verlassenseins wird manchmal in anscheinend kaum nachvollziehbaren Verhaltensweisen erkennbar. So schellt ein älterer Krebskranker, der kaum Besuch bekommt, extra eine Schwesternschülerin herbei, die erst einen Tag auf der Station ist, um ihr die Frage zu stellen: "Weinst Du um mich, wenn ich gestorben bin?"

Gespräche mit bedrohlich Erkrankten, sollen sie wirklich helfen, sind immer Gespräche gegen die Angst. Wenn sie gelingen, bedeutet dies, dass nicht nur die Angst sondern auch die Verlassenheit abnimmt, vielleicht sogar einer gewissen Geborgenheit weicht.

Angst kann in vielen Masken daherkommen. Diese aufzudecken ist mitunter schwierig. Ein kühl und abweisend wirkender junger Mann, beim dem sich überraschenderweise als Ursache seiner Rückenschmerzen ein weit fortgeschrittener Bauchspeicheldrüsenkrebs herausstellte, reagierte bei der behutsam offen gelegten Diagnose mit einem aggressiven Ausbruch: "Der Krebs, diese Sau!" war seine spontane Reaktion. Später zeigte sich, dass er schon lange ahnte an Krebs erkrankt zu sein und von tiefen Ängsten erfüllt war.

Uferlos können die Ängste in den Fantasien werden. Die Fantasie erweist sich nicht selten schlimmer als die Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit hat Grenzen, die Fantasie nicht (Bucka-Lassen). [9] Werden solche Ängste angesprochen und zur realen Bedrohung ins Verhältnis gesetzt, kann dies zum Angstabbau beitragen.

In Gesprächen gegen die Angst, stehen inhaltliche Aspekte nicht unbedingt im Vordergrund. Das Sprechen über die Angst ist selbst angstmindernd. Sprechen bedeutet, dass wir leben. Gottfried Benn drückt dies in seinem Gedicht Kommt, reden wir zusammen folgendermaßen aus:

Kommt, reden wir zusammen
Wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die Flammen
schon sehr um unsere Not [10]
Wichtig ist es, die Richtung der Ängste zu eruieren. Sind sie auf das Diesseits oder das Jenseits gerichtet? Hier kann auch der Schlüssel zu spirituellen Erwartungen und Nöten des Kranken liegen, können spirituelle Krisen erkannt werden.

Spiritualität wird in diesem Zusammenhang verstanden als ein - bewusstes oder implizites - Bezogensein auf eine über das unmittelbare Ich und seine Ziele hinausreichende Wirklichkeit (H. Walach). [11]

Für Palliativmedizin und Hospizarbeit gilt Spiritualität als tragende Säule. Die Weltgesundheitsorganisation WHO räumt der Berücksichtigung spiritueller Probleme in der Palliativmedizin hohe Priorität ein.

Im Gegensatz zu Deutschland ist in den USA eine Medizin ohne Einbindung spiritueller Elemente undenkbar. An die siebzig universitäre Einrichtungen, die sich mit Fragen der Spiritualität beschäftigen, existieren in den Vereinigten Staaten. Das Erheben einer "spirituellen Anamnese" wird in der ärztlichen Ausbildung routinemäßig gelehrt. Schon mit (scheinbar) einfachen Fragen ist ein Herantasten an die spirituelle Ausrichtung des Patienten möglich: Falten Sie in Notlagen manchmal die Hände? Hat Ihnen Beten bei der Überwindung einer Krankheit schon einmal geholfen?

Ärzten und Pflegekräften mit geringer oder fehlender spiritueller Ausrichtung kann Spiritualität als Neuland Angst bereiten. Aber zunächst ist nicht mehr erforderlich, als sich bewusst zu machen, dass die Wahrnehmung und das Ernstnehmen spiritueller Bedürfnisse und Nöte von Patienten genauso wichtig ist, wie die Beachtung körperlicher, seelischer oder sozialer Nöte. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass die Erhebung der spirituellen Anamnese bereits ein wichtiger Schritt sein kann, um eine Krisenbewältigung einzuleiten (L. Geisler). [12]

Für das Gespräch über spirituelle Fragen gelten die Grundprinzipien der guten Kommunikation: aktives Zuhören und empathische Zuwendung, das Sich-Einlassen auf den Kranken. Wahrscheinlich ist es nicht einmal immer erforderlich, dass spirituelle Begriffe oder der Name "Gott" auftauchen. So heißt es schon in der Bhagavadgita, dem altindischen religiösen Lehrgedicht: "Gleich, mit welchem Namen du mich rufen magst, immer bin ich es, der antworten wird."

Wir können nicht lange in die Sonne blicken und wir können dem Tod nicht ständig ins Auge sehen, dies lehrt eine alte Weisheit. So treten Abwehrmechanismen der Angst in lebensbedrohlicher Krankheit fast regelhaft in verschiedensten Formen auf. Der Arzt wird mit der Angst seines Patienten oft eher durch die vielfältige Skala der Abwehrmechanismen als durch das konkrete Eingeständnis von Angst konfrontiert. Verleugnung, Rationalisierung, Vermeidung und Projektion sind am geläufigsten. Sie erklären scheinbar unvereinbare Verhaltensweisen. So kann es sein, dass ein Patient sozusagen in einem Atemzug von dem letzten Weihnachtsfest spricht, das ihm noch bevorsteht und sich gleichzeitig wünscht, das Abitur der Tochter noch zu erleben, das erst in drei Jahren möglich sein wird.

Solche Mechanismen der Angstabwehr sollten nicht durchbrochen werden. Sie sind unverzichtbar für die Bewältigung einer sonst kaum erträglichen Wirklichkeit.

Wechselnde Prozesse der Verdrängung können Ursache für changierende (wechselnde) Wahrnehmungen der Wirklichkeit sein. Das Recht auf Wissen ist ebenso verbürgt, wie das Recht auf Nicht-Wissen. Nicht wenige Kranke aber schwanken in ihren Ansprüchen zwischen diesen Rechten manchmal von Tag zu Tag. An einem Tag wird das Recht auf Wissen als Ausdruck der Autonomie als unverzichtbar erlebt, an einem anderen Tag, sichert die "Gnade des Nicht-Wissen-Wollens" das Überleben. Der erfahrene Begleiter wird versuchen, dieses Problem zu lösen, in dem er den Patienten jeden Tag fragt: "Wie sehen Sie Ihre Lage heute?".

Der Mensch ist das fragende Wesen. Er kann nicht sein, ohne wissen zu wollen, warum er ist und warum sein Dasein so ist, wie er es erfährt. Im Leiden und in der Not bedrängen ihn besonders brennende Fragen, auf die er zunächst keine Antwort weiß. Die Frage nach dem Grund und dem Sinn des Leidens, nach Gerechtigkeit, nach dem Jenseits, nach Gott, nach der verbleibenden Zeit. Es tauchen Fragen auf, die ausweglos erscheinen: "Wie kann man leben, wenn man weiß, dass man bald sterben muss?"

Vielfach sind die Antworten, die der Kranke für sich findet, für ihn eher verwirrend als klärend. Und so richtet er Fragen an Menschen seiner Umgebung, an Freunde, Helfer, Begleiter, an seine Religion, an Gott.

Aber nicht immer gelingt es ihm, diese Fragen, die ihn innerlich aufwühlen, in Worte zu kleiden. Diese Sprachlosigkeit überwinden zu helfen, ist eine der besonders hilfreichen ärztlichen Aufgaben. Die Klage, vielleicht auch in der Form Anklage ist eines der stärksten Ausdrucksmittel im Leiden. Oft scheint sie an niemanden gerichtet zu sein, nicht selten wendet sie sich an und gegen Gott.

Anscheinend unüberwindliche Widersprüche tun sich auf. Wie kann Gott gut und allmächtig sein angesichts von soviel Leiden in der Welt? Vielleicht ist er gar nicht gut und will das Leid nicht beenden? Oder er ist nicht allmächtig und kann das Leid nicht beenden? [13]

Ein Blick in die Religionsgeschichte zeigt, dass die Frage nach Ursprung, Zweck und Überwindung des Leids sehr unterschiedlich beantwortet werden. Naturreligionen sehen im Leid häufig eine Einwirkung dämonischer Kräfte. Der karmische Gedanke als zentraler Begriff des Hinduismus, Buddhismus und Dschainismus bezeichnet das universelle Gesetz, nach dem jedes Dasein kausale Folge eines früheren Daseins ist. Für den Islam ist Leid eine Prüfung, die zu Allah führen und das Vertrauen auf ihn festigen soll. Das Judentum sieht im Leid die Strafe für menschliche Schuld (den Missbrauch der ihm gegebenen Freiheit) und die Prüfung seines Glaubens durch Gott. Im Christentum fließen beide Elemente exemplarisch im stellvertretenden Leiden Jesu Christi am Kreuz zusammen.

Die Auffassung von Leiden als Strafe lässt sich auch sprachgeschichtlich zurückverfolgen. Sowohl das alt-deutsche Pein wie das englische Wort pain (Schmerz) wurzeln im lateinischen Wort poena (die Strafe). Im Grimmschen Wörterbuch wird Pein im kirchlichen Sinne als zeitliche oder ewige Strafe für die Sünden erklärt.

Im Selbstverständnis schwer leidender Kranker ist daher die Idee der Bestrafung eine häufig nahe liegende Erklärung. Leiden mag dann als pädagogisches Mittel verstanden werden, damit der Mensch gebessert wird oder als Tor zum Mitleiden. Leid als Ausdruck einer besonderen Zuwendung Gottes nährt den heiklen Gedanken des Auserwähltseins.

Aber wie soll der Arzt mit der Klage umgehen, mit den Sinndeutungen seines Patienten? Auch er kann nicht immun sein gegen die verschiedensten Sinngebungen des Leidens. Und das tagtägliche Miterleben schwersten Leidens mündet vielleicht in Aporie.

In André Malraux's Roman Conditio humana, So lebt der Mensch, der die Eroberung Shanghais 1927 durch Truppen des Kuomintang schildert, sagt die Ärztin May, die Tag für Tag Menschen leiden und sterben sieht, in einem Moment äußerster Verzweiflung: "Leiden kann nur einen Sinn haben, wenn es nicht zum Tode führt; aber es führt fast immer dahin." [14]

Vor dieser Verzweiflung ist kein Arzt gefeit, umso weniger, je mehr er sich ohnmächtig erlebt. Der dänischer Dichter Benny Anderson trifft den Kern, wenn er sagt: "Ein Klagelied ist ein Lied zum Zuhören und nicht ein Aufsatz zum Kommentieren."

Es kann nicht darum, gehen Sinndeutungen des Patienten zu korrigieren und ihn mit Interpretationen von Leid zu konfrontieren, die den illusorischen Anspruch der Allgemeingültigkeit haben. Derartige Versuche können zynisch und verletzend wirken. Vielmehr geht es um den Respekt vor dem individuellen Leidverständnis des Patienten, das seine innere Richtigkeit aus der eigenen Biographie herleitet.

Dies setzt ein weit geöffnetes Ohr für die Lebens- und Leidensgeschichte des Kranken voraus. Ohne Kenntnis dieser Geschichte wissen wir so gut wie nichts. Der Philosoph Odo Marquard schreibt: "Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten aber muss man erzählen ... und je mehr versachlicht wird, desto mehr - kompensatorisch - muss erzählt werden: sonst sterben die Menschen an narrativer Atrophie".

Ein interessanter narrativer Ansatz stammt von Arthur W. Frank, der selbst an Krebs erkrankt war. Er verwendet für den Kranken die Metapher des "verwundeten Geschichtenerzählers". Sie geht davon aus, dass Patienten mehr sind als nur Opfer einer Krankheit. Indem sie ihre Krankheiten als Geschichten erzählen, eröffnet sich ihnen die Chance einer neuen Orientierung, nachdem vielleicht ihre bisherige Welt zusammengebrochen ist. Auf diese Weise wird der Kranke selbst zum Heiler. [15]

Die Sinnsuche in schwerer Krankheit, so sehr sie sich immer wieder drängend stellt, sollte nicht verstellen, was ärztliche Aufgabe ist: nämlich dem Kranken zu helfen nicht nur das Leid zu ver-stehen, sondern vor allem im Leid zu be-stehen. Darauf hat der Arzt und Theologe Matthias Volkenandt immer wieder hingewiesen. [16]

Nicht immer gelingt es im Gespräch die Sprachlosigkeit des Kranken zu überwinden. Aber auch dann gibt es noch Möglichkeiten. Dazu möchte ich Ihnen die Geschichte eines meiner früheren Patienten erzählen. Der 59jährige litt an einer besonders bösartigen Form von Lymphknotenkrebs. Zunächst war es gelungen durch Bestrahlung und Chemotherapie eine weitgehende Rückbildung der Krankheit zu erreichen, wobei der Patient eine bewundernswerte Kooperation an den Tag legte. Dann aber war es rasch zu einem ausgedehnten Rückfall gekommen, der auf die übliche Therapie nicht mehr ansprach. Der Patient war ein stiller, verschlossener, in sich gekehrter Mann, der allen bisherigen Behandlungsvorschlägen ohne größere Rückfragen zugestimmt hatte. Als letzte Behandlungsmöglichkeit kam allenfalls eine so genannte aggressive Maximaltherapie in Frage, mit nur sehr geringen Aussichten auf eine auch nur vorübergehende Besserung. Ich war mir außerordentlich unsicher, wie wir uns verhalten sollten. Ich ahnte, dass der Patient, welche Alternative wir ihm auch vorschlagen würden (Maximaltherapie oder palliative Behandlung), jedem Vorschlag zustimmen würde. Ich sah mich mit meinem Team nicht imstande, seinen wirklichen Standort auszumachen.

In diesem Dilemma versuchte ich einen anderen Weg einzuschlagen. Ich brachte ihm einen Zeichenblock und Buntstifte und bat ihn, einfach aufzuzeichnen wie er sich fühlte, was in ihm vorging. Er zögerte zunächst. Aber am nächsten Tag schob er mir bei der Visite diese Zeichnung zu:

Patientenzeichnung

Als wir ihn um eine Deutung baten, sagte er: "Das ist ein blühendes Kornfeld mit vielen Blumen." Wer sich etwas mit Bildsymbolik beschäftigt hat weiß, dass ein Kornfeld Fruchtbarkeit und Erfolg versinnbildlicht und dass Blumen für das Werden und Vergehen des Lebens stehen.

Auf die Frage, was er in die Mitte des Bildes gezeichnet habe, antwortete er: "Das sieht man doch! Das ist eine Bank. Die Bank auf der ich mich endlich ausruhen möchte."

Drei Tage später starb der Patient ganz ruhig und friedlich.

Der dänische Arzt Bucka-Lassen, der ein sehr lesenswertes Buch über Das schwere Gespräch geschrieben hat [17], fragt darin, was der sterbenskranke Patient eher braucht: einen tüchtigen oder einen guten Arzt. Die Antwort ist klar. Aber was ist ein guter Arzt für Sterbende? Die Antwort lautet: Ein Arzt, der nicht nur gut für das Sterben ist, sondern auch für das Leben. Denn Sterbende sind Lebende. Als solche wollen sie wahrgenommen werden. Sterben ist letztlich auch nur eine besondere Form des Zusammenlebens. [18] Cicily Saunders, die Begründerin der Hospizidee, hat immer wieder betont, wir wollen "alles tun, dass du lebst, wirklich lebst, bis du stirbst."

Literatur:

[1] AMA, Code of Medical Ethics of the American Medical Association (1847)

[2] Sogyal Rinpoche: Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Bern München Wien 1993. S. 254 ff

[3] Das Buch Hiob. 13,4-12

[4] Muschg, A: Geschichte eines Manuskripts. Vorwort in: Zorn, F: Mars. Frankfurt/Main 1979

[5] Bappert, L: Der Knoten. Vertrauen und Verantwortung im Arzt-Patienten-Verhältnis am Beispiel Brustkrebs. Rowohlt. 1979

[6] Wander, M: Leben wär' eine prima Alternative. Hrsg. von Fred Wander. Darmstadt & Neuwied. Luchterhand. 1980

[7] Volkenandt, M: Leid Tragen. Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Aachen, April 2005

[8] zit. n. von Brück, M: Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß. C.H. Beck. München 2004

[9] Bucka-Lassen, E: Das schwere Gespräch. Einschneidende Diagnosen menschlich vermitteln. Deutscher Ärzteverlag. Köln 2005

[10] Benn, G: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. Gedichte 1. Klett-Cotta. S. 300

[11] Walach, H: Spiritualität als Ressource. Chancen und Probleme eines neuen Forschungsfeldes. EZW-Texte 181/2005. S. 17

[12] Geisler, LS: Medizin und Spiritualität. Die Tagespost, 58. Jahrgang, Nr. 18, 12. Februar 2005, S. 17-18   - Interner Interner Link

[13] Berger, K: Wie kann Gott Leid und Katastrophen zulassen? Gütersloh 1999

[14] Malraux, A.: So lebt der Mensch. München. 1979

[15] Frank, A: The wounded storyteller. Body, Illness and Ethics. University of Chicago Press. 1995

[16] Volkenandt, M: aaO [7]

[17] Bucka-Lassen, E: aaO [9]

[18] Zimmermann-Acklin, M: Zur Sterbehilfediskussion in der theologischen Ethik. Ethik Med (2000) 12:2-15
 


Linus S. Geisler: Mit bedrohlich erkrankten Patientinnen und Patienten sprechen
Vortrag anlässlich der Tagung "Krebs zwischen Schrecken und Sensation" der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. - Evangelische Akademie Tutzing, 25. September 2005
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0509tutzing_krebs.html

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