Linus S. Geisler: Mit bedrohlich
erkrankten Patientinnen und Patienten sprechen. Vortrag anlässlich
der Tagung "Krebs zwischen Schrecken und Sensation“ der Deutschen Krebsgesellschaft
e.V. - Evangelische Akademie Tutzing, 25. September 2005
Mit bedrohlich erkrankten Patientinnen
und Patienten sprechen
Linus S. Geisler
"Das Leben eines Kranken kann
nicht nur durch die Handlungen eines Arztes verkürzt werden, sondern
auch durch seine Worte und sein Verhalten." So steht es in der Gründungsschrift
der American Medical Association aus dem Jahre 1847. [1]
Gilt auch der Umkehrschluss?
Die Antwort lautet: Ja. Mittlerweile ist durch solide Studien an großen
Patientenzahlen, meist Tumorkranken, nachgewiesen worden: Eine gute Arzt-Patient-Kommunikation
kann die Prognose von Kranken eindeutig verbessern.
Gespräche mit sterbenskranken
Menschen zählen freilich zu den schwierigsten. Nicht selten tragen
sie bereits den Keim des Versagens in sich, vor allem für den Unerfahrenen.^
Der bekannte buddhistische
Lehrer Sogyal Rinpoche beschreibt in seinem Werk Das tibetische Buch
vom Leben und vom Sterben [2] eine junge Ärztin in einem großen
Londoner Krankenhaus. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag sterben vier Patienten
auf ihrer Station. Darauf ist sie überhaupt nicht vorbereitet. Ein
sterbenskranker alter Mann bedrängt sie mit der Frage: "Glauben Sie,
dass Gott mir meine Sünden vergeben wird?" Sie kann nichts antworten,
ist hilflos, wie gelähmt und unfähig dem Kranken bei seiner Sinnsuche
zu helfen. Einen Geistlichen, an den sie die Frage weitergeben möchte,
findet sie nicht.
Später wendet sie sich
an Sogyal Rinpoche und fragt ihn, wie er sich verhalten hätte. Er
antwortet: "Ich hätte mich zu ihm gesetzt, seine Hand genommen, ihn
einfach sprechen lassen und ihm mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit
und voll Mitgefühl zugehört. Vielleicht hätte ich ihm auf
diese Weise helfen können, seine eigene innere Wahrheit zu entdecken."
Möglicherweise hätte
ich zu ihm gesagt: "Gott hat Ihnen längst vergeben, denn Gott ist
die Vergebung selbst. Die eigentliche Frage ist: Können Sie sich
selbst vergeben?"
Gespräche mit sterbenskranken
Menschen zählen zu den schwierigsten, aber sie tragen auch die Chance
in sich, leidenden Menschen mehr zu helfen als alles andere.
Am Anfang sollte die Erkenntnis
stehen, dass die Einfühlung des Therapeuten in einen Sterbenden -
und sei sie noch so intensiv - eine grundsätzliche Grenze nicht überwinden
kann. Denn die allgemeine Erkenntnis des Gesunden, dass Sterblichkeit eine
anthropologische Konstante darstellt, ist ein Wissen, das mit dem
Bewusstsein
des Sterbenskranken, sich bereits in jenem Prozess zu befinden, der unausweichlich
in das Ende des Lebens einmündet, nicht gleichzusetzen ist.
Sich dessen bewusst zu sein
ist unabdingbar, um nicht Gespräche mit bedrohlich Kranken aus einer
fatal untauglichen Perspektive zu führen.
Die Zeit des Schweigens und
die Zeit des Sprechens haben jeweils ihre eigene Stunde. Bedrohlich erkrankte
Menschen haben ein subtiles Gespür für die falschen Worte und
die falsche Zeit. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Die biblische Geschichte
von Hiob in seinem unermesslichen Leid ist hierfür ein beredtes Beispiel.
Hiob hat Hab und Gut verloren, seine Söhne und Töchter wurden
von einem gewaltigen Wüstenwind getötet, er selbst ist mit bösartigen
Geschwüren von der "Fußsohle bis zum Scheitel" bedeckt.
Da kommen seine Freunde.
Zunächst verhalten sie sich angemessen. Es heißt: "Sie saßen
bei ihm sieben Tage und Nächte lang und sprachen kein Wort zu ihm;
denn sie sahen, dass sein Schmerz gar zu groß war." Aber dann verfallen
sie in übliche Redensarten und Hiob, der die Hohlheit ihrer Worte
spürt, nennt sie "untaugliche Ärzte" und schleudert ihnen entgegen:
"Eure Merksätze sind Sprüche aus Staub ..." [3]
Zu den "großen Krankheiten",
die das Sterben in einem besonderen, vielleicht sogar charakteristischen
Maß prägen, zählt der "Krebs" als Sammelbegriff einer Vielzahl
bösartiger Krankheiten. Krebs, diese Krankheit "in Anführungszeichen",
wie Adolf Muschg schreibt, ist "ein asozialer Prozess der biologischen
Norm" [4]. Ihn umgibt eine Aura des Tragischen, der Ohnmacht und der Entstellung,
des Unbegreiflichen. In ihrem Buch Der Knoten beschrieb die krebskranke
Lieselotte Bappert Krebs "als Notlage, die sich schwerlich mit irgend etwas
vergleichen lässt, das einem zivilisierten Menschen sonst zustoßen
kann ..." [5]
Die Gewissheit des Sterbens
hat die Psychoonkologin Ursula Gruber in einem Bild beschrieben: Für
den Kranken, der weiß, dass er sterben muss, wird diese Gewissheit
zum Hinterhof, der von der Hochleistungsmedizin ummauert wird. "Ihn betreten
zu müssen, heißt, den Kampf vor den Mauern schon verloren zu
haben und im Dunkel zu stehen - allein in Unbehagen und Angst". Als Homo
clausus hat der Philosoph Norbert Elias den Sterbenden in seinem Buch
Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen bezeichnet.
Angst und Dunkel
zählen zu den häufigsten Vokabeln sterbenskranker Menschen. "An
Krebs zu denken", schrieb die mit vierundvierzig Jahren an Brustkrebs gestorbene
DDR-Schriftstellerin Maxie Wander "ist, als wäre man mit einem Mörder
in einem dunklen Zimmer eingesperrt. Man weiß nie, wo, wie und ob
er angreift." [6]
Angst bildet das Grundrauschen
vor dem in todesbedrohter Krankheit alles geschieht. Manchmal kaum wahrnehmbar,
manchmal gesteigert bis zur Panik. Die tiefste Angst ist im Kern die Angst
vor dem Beziehungsverlust in einer Welt, die sich am Ende nicht mehr als
jene behütende Behausung erweist, als die wir sie ein Leben lang wahrgenommen
haben. Der Tod erscheint dann als der radikalste und unwiderrufbarste Beziehungsverlust
(M. Volkenandt). [7]
In dieser Angst schwingt
die große Verlassenheit des vom Tode bedrohten Menschen mit. "Die
größte Tragödie ist nicht ein schmerzvoller Tod, sondern
Verlassensein" sagte einmal Mutter Teresa. [8]
Die Tiefe dieses Verlassenseins
wird manchmal in anscheinend kaum nachvollziehbaren Verhaltensweisen erkennbar.
So schellt ein älterer Krebskranker, der kaum Besuch bekommt, extra
eine Schwesternschülerin herbei, die erst einen Tag auf der Station
ist, um ihr die Frage zu stellen: "Weinst Du um mich, wenn ich gestorben
bin?"
Gespräche mit bedrohlich
Erkrankten, sollen sie wirklich helfen, sind immer Gespräche gegen
die Angst. Wenn sie gelingen, bedeutet dies, dass nicht nur die Angst
sondern auch die Verlassenheit abnimmt, vielleicht sogar einer gewissen
Geborgenheit weicht.
Angst kann in vielen Masken
daherkommen. Diese aufzudecken ist mitunter schwierig. Ein kühl und
abweisend wirkender junger Mann, beim dem sich überraschenderweise
als Ursache seiner Rückenschmerzen ein weit fortgeschrittener Bauchspeicheldrüsenkrebs
herausstellte, reagierte bei der behutsam offen gelegten Diagnose mit einem
aggressiven Ausbruch: "Der Krebs, diese Sau!" war seine spontane Reaktion.
Später zeigte sich, dass er schon lange ahnte an Krebs erkrankt zu
sein und von tiefen Ängsten erfüllt war.
Uferlos können die Ängste
in den Fantasien werden. Die Fantasie erweist sich nicht selten schlimmer
als die Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit hat Grenzen, die Fantasie nicht
(Bucka-Lassen). [9] Werden solche Ängste angesprochen und zur realen
Bedrohung ins Verhältnis gesetzt, kann dies zum Angstabbau beitragen.
In Gesprächen gegen
die Angst, stehen inhaltliche Aspekte nicht unbedingt im Vordergrund. Das
Sprechen über die Angst ist selbst angstmindernd. Sprechen bedeutet,
dass wir leben. Gottfried Benn drückt dies in seinem Gedicht Kommt,
reden wir zusammen folgendermaßen aus:
Kommt, reden wir
zusammen
Wer redet, ist nicht tot,
es züngeln doch die
Flammen
schon sehr um unsere Not
[10]
Wichtig ist es, die Richtung
der Ängste zu eruieren. Sind sie auf das Diesseits oder das Jenseits
gerichtet? Hier kann auch der Schlüssel zu spirituellen Erwartungen
und Nöten des Kranken liegen, können spirituelle Krisen erkannt
werden.
Spiritualität wird in
diesem Zusammenhang verstanden als ein - bewusstes oder implizites - Bezogensein
auf eine über das unmittelbare Ich und seine Ziele hinausreichende
Wirklichkeit (H. Walach). [11]
Für Palliativmedizin
und Hospizarbeit gilt Spiritualität als tragende Säule. Die Weltgesundheitsorganisation
WHO räumt der Berücksichtigung spiritueller Probleme in der Palliativmedizin
hohe Priorität ein.
Im Gegensatz zu Deutschland
ist in den USA eine Medizin ohne Einbindung spiritueller Elemente undenkbar.
An die siebzig universitäre Einrichtungen, die sich mit Fragen der
Spiritualität beschäftigen, existieren in den Vereinigten Staaten.
Das Erheben einer "spirituellen Anamnese" wird in der ärztlichen Ausbildung
routinemäßig gelehrt. Schon mit (scheinbar) einfachen Fragen
ist ein Herantasten an die spirituelle Ausrichtung des Patienten möglich:
Falten Sie in Notlagen manchmal die Hände? Hat Ihnen Beten bei der
Überwindung einer Krankheit schon einmal geholfen?
Ärzten und Pflegekräften
mit geringer oder fehlender spiritueller Ausrichtung kann Spiritualität
als Neuland Angst bereiten. Aber zunächst ist nicht mehr erforderlich,
als sich bewusst zu machen, dass die Wahrnehmung und das Ernstnehmen spiritueller
Bedürfnisse und Nöte von Patienten genauso wichtig ist, wie die
Beachtung körperlicher, seelischer oder sozialer Nöte. Es hat
sich immer wieder gezeigt, dass die Erhebung der spirituellen Anamnese
bereits ein wichtiger Schritt sein kann, um eine Krisenbewältigung
einzuleiten (L. Geisler). [12]
Für das Gespräch
über spirituelle Fragen gelten die Grundprinzipien der guten Kommunikation:
aktives Zuhören und empathische Zuwendung, das Sich-Einlassen auf
den Kranken. Wahrscheinlich ist es nicht einmal immer erforderlich, dass
spirituelle Begriffe oder der Name "Gott" auftauchen. So heißt es
schon in der Bhagavadgita, dem altindischen religiösen Lehrgedicht:
"Gleich, mit welchem Namen du mich rufen magst, immer bin ich es, der antworten
wird."
Wir können nicht lange
in die Sonne blicken und wir können dem Tod nicht ständig ins
Auge sehen, dies lehrt eine alte Weisheit. So treten Abwehrmechanismen
der Angst in lebensbedrohlicher Krankheit fast regelhaft in verschiedensten
Formen auf. Der Arzt wird mit der Angst seines Patienten oft eher durch
die vielfältige Skala der Abwehrmechanismen als durch das konkrete
Eingeständnis von Angst konfrontiert. Verleugnung, Rationalisierung,
Vermeidung und Projektion sind am geläufigsten. Sie erklären
scheinbar unvereinbare Verhaltensweisen. So kann es sein, dass ein Patient
sozusagen in einem Atemzug von dem letzten Weihnachtsfest spricht, das
ihm noch bevorsteht und sich gleichzeitig wünscht, das Abitur der
Tochter noch zu erleben, das erst in drei Jahren möglich sein wird.
Solche Mechanismen der Angstabwehr
sollten nicht durchbrochen werden. Sie sind unverzichtbar für die
Bewältigung einer sonst kaum erträglichen Wirklichkeit.
Wechselnde Prozesse der Verdrängung
können Ursache für changierende (wechselnde) Wahrnehmungen der
Wirklichkeit sein. Das Recht auf Wissen ist ebenso verbürgt, wie das
Recht auf Nicht-Wissen. Nicht wenige Kranke aber schwanken in ihren Ansprüchen
zwischen diesen Rechten manchmal von Tag zu Tag. An einem Tag wird das
Recht auf Wissen als Ausdruck der Autonomie als unverzichtbar erlebt, an
einem anderen Tag, sichert die "Gnade des Nicht-Wissen-Wollens" das Überleben.
Der erfahrene Begleiter wird versuchen, dieses Problem zu lösen, in
dem er den Patienten jeden Tag fragt: "Wie sehen Sie Ihre Lage heute?".
Der Mensch ist das fragende
Wesen. Er kann nicht sein, ohne wissen zu wollen, warum er ist und warum
sein Dasein so ist, wie er es erfährt. Im Leiden und in der Not bedrängen
ihn besonders brennende Fragen, auf die er zunächst keine Antwort
weiß. Die Frage nach dem Grund und dem Sinn des Leidens, nach Gerechtigkeit,
nach dem Jenseits, nach Gott, nach der verbleibenden Zeit. Es tauchen Fragen
auf, die ausweglos erscheinen: "Wie kann man leben, wenn man weiß,
dass man bald sterben muss?"
Vielfach sind die Antworten,
die der Kranke für sich findet, für ihn eher verwirrend als klärend.
Und so richtet er Fragen an Menschen seiner Umgebung, an Freunde, Helfer,
Begleiter, an seine Religion, an Gott.
Aber nicht immer gelingt
es ihm, diese Fragen, die ihn innerlich aufwühlen, in Worte zu kleiden.
Diese Sprachlosigkeit überwinden zu helfen, ist eine der besonders
hilfreichen ärztlichen Aufgaben. Die Klage, vielleicht auch in der
Form Anklage ist eines der stärksten Ausdrucksmittel im Leiden. Oft
scheint sie an niemanden gerichtet zu sein, nicht selten wendet sie sich
an und gegen Gott.
Anscheinend unüberwindliche
Widersprüche tun sich auf. Wie kann Gott gut und allmächtig sein
angesichts von soviel Leiden in der Welt? Vielleicht ist er gar nicht gut
und will das Leid nicht beenden? Oder er ist nicht allmächtig und
kann das Leid nicht beenden? [13]
Ein Blick in die Religionsgeschichte
zeigt, dass die Frage nach Ursprung, Zweck und Überwindung des Leids
sehr unterschiedlich beantwortet werden. Naturreligionen sehen im Leid
häufig eine Einwirkung dämonischer Kräfte. Der karmische
Gedanke als zentraler Begriff des Hinduismus, Buddhismus und Dschainismus
bezeichnet das universelle Gesetz, nach dem jedes Dasein kausale Folge
eines früheren Daseins ist. Für den Islam ist Leid eine Prüfung,
die zu Allah führen und das Vertrauen auf ihn festigen soll. Das Judentum
sieht im Leid die Strafe für menschliche Schuld (den Missbrauch der
ihm gegebenen Freiheit) und die Prüfung seines Glaubens durch Gott.
Im Christentum fließen beide Elemente exemplarisch im stellvertretenden
Leiden Jesu Christi am Kreuz zusammen.
Die Auffassung von Leiden
als Strafe lässt sich auch sprachgeschichtlich zurückverfolgen.
Sowohl das alt-deutsche Pein wie das englische Wort pain
(Schmerz) wurzeln im lateinischen Wort poena (die Strafe). Im Grimmschen
Wörterbuch wird Pein im kirchlichen Sinne als zeitliche oder ewige
Strafe für die Sünden erklärt.
Im Selbstverständnis
schwer leidender Kranker ist daher die Idee der Bestrafung eine häufig
nahe liegende Erklärung. Leiden mag dann als pädagogisches Mittel
verstanden werden, damit der Mensch gebessert wird oder als Tor zum Mitleiden.
Leid als Ausdruck einer besonderen Zuwendung Gottes nährt den heiklen
Gedanken des Auserwähltseins.
Aber wie soll der Arzt mit
der Klage umgehen, mit den Sinndeutungen seines Patienten? Auch er kann
nicht immun sein gegen die verschiedensten Sinngebungen des Leidens. Und
das tagtägliche Miterleben schwersten Leidens mündet vielleicht
in Aporie.
In André Malraux's
Roman Conditio humana, So lebt der Mensch, der die Eroberung Shanghais
1927 durch Truppen des Kuomintang schildert, sagt die Ärztin May,
die Tag für Tag Menschen leiden und sterben sieht, in einem Moment
äußerster Verzweiflung: "Leiden kann nur einen Sinn haben,
wenn es nicht zum Tode führt; aber es führt fast immer dahin."
[14]
Vor dieser Verzweiflung ist
kein Arzt gefeit, umso weniger, je mehr er sich ohnmächtig erlebt.
Der dänischer Dichter Benny Anderson trifft den Kern, wenn er sagt:
"Ein Klagelied ist ein Lied zum Zuhören und nicht ein Aufsatz zum
Kommentieren."
Es kann nicht darum, gehen
Sinndeutungen des Patienten zu korrigieren und ihn mit Interpretationen
von Leid zu konfrontieren, die den illusorischen Anspruch der Allgemeingültigkeit
haben. Derartige Versuche können zynisch und verletzend wirken. Vielmehr
geht es um den Respekt vor dem individuellen Leidverständnis des Patienten,
das seine innere Richtigkeit aus der eigenen Biographie herleitet.
Dies setzt ein weit geöffnetes
Ohr für die Lebens- und Leidensgeschichte des Kranken voraus. Ohne
Kenntnis dieser Geschichte wissen wir so gut wie nichts. Der Philosoph
Odo Marquard schreibt: "Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten. Geschichten
aber muss man erzählen ... und je mehr versachlicht wird, desto mehr
- kompensatorisch - muss erzählt werden: sonst sterben die Menschen
an narrativer Atrophie".
Ein interessanter narrativer
Ansatz stammt von Arthur W. Frank, der selbst an Krebs erkrankt war. Er
verwendet für den Kranken die Metapher des "verwundeten Geschichtenerzählers".
Sie geht davon aus, dass Patienten mehr sind als nur Opfer einer Krankheit.
Indem sie ihre Krankheiten als Geschichten erzählen, eröffnet
sich ihnen die Chance einer neuen Orientierung, nachdem vielleicht ihre
bisherige Welt zusammengebrochen ist. Auf diese Weise wird der Kranke selbst
zum Heiler. [15]
Die Sinnsuche in schwerer
Krankheit, so sehr sie sich immer wieder drängend stellt, sollte nicht
verstellen, was ärztliche Aufgabe ist: nämlich dem Kranken zu
helfen nicht nur das Leid zu ver-stehen, sondern vor allem im Leid
zu be-stehen. Darauf hat der Arzt und Theologe Matthias Volkenandt
immer wieder hingewiesen. [16]
Nicht immer gelingt es im
Gespräch die Sprachlosigkeit des Kranken zu überwinden. Aber
auch dann gibt es noch Möglichkeiten. Dazu möchte ich Ihnen die
Geschichte eines meiner früheren Patienten erzählen. Der 59jährige
litt an einer besonders bösartigen Form von Lymphknotenkrebs. Zunächst
war es gelungen durch Bestrahlung und Chemotherapie eine weitgehende Rückbildung
der Krankheit zu erreichen, wobei der Patient eine bewundernswerte Kooperation
an den Tag legte. Dann aber war es rasch zu einem ausgedehnten Rückfall
gekommen, der auf die übliche Therapie nicht mehr ansprach. Der Patient
war ein stiller, verschlossener, in sich gekehrter Mann, der allen bisherigen
Behandlungsvorschlägen ohne größere Rückfragen zugestimmt
hatte. Als letzte Behandlungsmöglichkeit kam allenfalls eine so genannte
aggressive Maximaltherapie in Frage, mit nur sehr geringen Aussichten auf
eine auch nur vorübergehende Besserung. Ich war mir außerordentlich
unsicher, wie wir uns verhalten sollten. Ich ahnte, dass der Patient, welche
Alternative wir ihm auch vorschlagen würden (Maximaltherapie oder
palliative Behandlung), jedem Vorschlag zustimmen würde. Ich sah mich
mit meinem Team nicht imstande, seinen wirklichen Standort auszumachen.
In diesem Dilemma versuchte
ich einen anderen Weg einzuschlagen. Ich brachte ihm einen Zeichenblock
und Buntstifte und bat ihn, einfach aufzuzeichnen wie er sich fühlte,
was in ihm vorging. Er zögerte zunächst. Aber am nächsten
Tag schob er mir bei der Visite diese Zeichnung zu:
Als wir ihn um eine Deutung
baten, sagte er: "Das ist ein blühendes Kornfeld mit vielen Blumen."
Wer sich etwas mit Bildsymbolik beschäftigt hat weiß, dass ein
Kornfeld Fruchtbarkeit und Erfolg versinnbildlicht und dass Blumen für
das Werden und Vergehen des Lebens stehen.
Auf die Frage, was er in
die Mitte des Bildes gezeichnet habe, antwortete er: "Das sieht man doch!
Das ist eine Bank. Die Bank auf der ich mich endlich ausruhen möchte."
Drei Tage später starb
der Patient ganz ruhig und friedlich.
Der dänische Arzt Bucka-Lassen,
der ein sehr lesenswertes Buch über Das schwere Gespräch
geschrieben hat [17], fragt darin, was der sterbenskranke Patient eher
braucht: einen tüchtigen oder einen guten Arzt. Die Antwort ist klar.
Aber was ist ein guter Arzt für Sterbende? Die Antwort lautet: Ein
Arzt, der nicht nur gut für das Sterben ist, sondern auch für
das Leben. Denn Sterbende sind Lebende. Als solche wollen sie wahrgenommen
werden. Sterben ist letztlich auch nur eine besondere Form des Zusammenlebens.
[18] Cicily Saunders, die Begründerin der Hospizidee, hat immer wieder
betont, wir wollen "alles tun, dass du lebst, wirklich lebst, bis du stirbst."
Literatur:
[1] AMA, Code of Medical
Ethics of the American Medical Association (1847)
[2] Sogyal Rinpoche: Das
tibetische Buch vom Leben und vom Sterben. Bern München Wien 1993.
S. 254 ff
[3] Das Buch Hiob. 13,4-12
[4] Muschg, A: Geschichte
eines Manuskripts. Vorwort in: Zorn, F: Mars. Frankfurt/Main 1979
[5] Bappert, L: Der Knoten.
Vertrauen und Verantwortung im Arzt-Patienten-Verhältnis am Beispiel
Brustkrebs. Rowohlt. 1979
[6] Wander, M: Leben wär'
eine prima Alternative. Hrsg. von Fred Wander. Darmstadt & Neuwied.
Luchterhand. 1980
[7] Volkenandt, M: Leid Tragen.
Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Aachen, April 2005
[8] zit. n. von Brück,
M: Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer
Welt ohne Maß. C.H. Beck. München 2004
[9] Bucka-Lassen, E: Das
schwere Gespräch. Einschneidende Diagnosen menschlich vermitteln.
Deutscher Ärzteverlag. Köln 2005
[10] Benn, G: Sämtliche
Werke. Stuttgarter Ausgabe. Gedichte 1. Klett-Cotta. S. 300
[11] Walach, H: Spiritualität
als Ressource. Chancen und Probleme eines neuen Forschungsfeldes. EZW-Texte
181/2005. S. 17
[12] Geisler, LS: Medizin
und Spiritualität. Die Tagespost, 58. Jahrgang, Nr. 18, 12. Februar
2005, S. 17-18 - Interner
[13] Berger, K: Wie kann
Gott Leid und Katastrophen zulassen? Gütersloh 1999
[14] Malraux, A.: So lebt
der Mensch. München. 1979
[15] Frank, A: The wounded
storyteller. Body, Illness and Ethics. University of Chicago Press. 1995
[16] Volkenandt, M: aaO [7]
[17] Bucka-Lassen, E: aaO
[9]
[18] Zimmermann-Acklin, M:
Zur Sterbehilfediskussion in der theologischen Ethik. Ethik Med (2000)
12:2-15
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Linus S. Geisler: Mit bedrohlich
erkrankten Patientinnen und Patienten sprechen |
Vortrag anlässlich
der Tagung "Krebs zwischen Schrecken und Sensation" der Deutschen Krebsgesellschaft
e.V. - Evangelische Akademie Tutzing, 25. September 2005 |
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0509tutzing_krebs.html |
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