Medizin und Spiritualität
Auch die beste Versorgung
der Patienten hat Grenzen: Bei der Frage nach den letzten Dingen können
Glaube und Religion im ärztlichen Alltag eine wichtige Brücke
zum Kranken sein
Von Professor Linus S. Geisler
Ein Blick auf die Vereinigten
Staaten zeigt, dass dort trotz Hochtechnisierung eine deutlich spirituell
geprägte Medizin praktiziert wird. Die Amerikaner erscheinen häufig
als ein besonders religiöses Volk. Je nach Untersuchung glauben bis
zu 95 Prozent an Gott. Der überwiegende Teil gibt an, täglich
bis wöchentlich zu beten. Dass Ärzte ihren Patienten anbieten,
mit ihnen gemeinsam zu beten, ist in den Vereinigten Staaten keine Seltenheit
- und in Deutschland praktisch undenkbar. Immerhin beten, so eine deutsche
Studie, zwanzig Prozent der befragten deutschen Psychoanalytiker für
ihre Patienten.
In der angelsächsischen
Literatur existieren mehr als 200 Studien, die eine positive Bedeutung
von Spiritualität und Religiosität für Krankheitsbewältigung,
den Verlauf körperlicher und seelischer Krankheiten und die Lebensqualität
von Kranken belegen. Gläubige Menschen neigen weniger häufig
zu seelischen Verstimmungen und Neurosen und sind seltener drogenabhängig.
Es kann als gesichert gelten, dass spirituelle Erfahrungen starke vorbeugende
Effekte gegenüber psychischen Belastungen entfalten. Auch wenn nicht
alle Studien wissenschaftlichen Kriterien standhalten: Die heilende Wirkung
von Spiritualität und Gebet ist nicht zu bezweifeln.
Natürlich lassen sich
amerikanische Verhältnisse, was Religiosität und Spiritualität
angeht, nicht unkritisch auf europäische Gesellschaften übertragen.
Aber unverkennbar besteht eine Nachfrage nach "spirituellen" Heilverfahren
auch in Deutschland. Volkshochschulen und andere Einrichtungen der Erwachsenenbildung
bieten in steigendem Maße Kurse an, in denen so genannte spirituelle
Entspannungstechniken - Yoga, Meditation - vermittelt werden.
Kann da vielleicht sogar
von einer boomenden Spiritualität gesprochen werden? Hier ist eine
differenziertere Betrachtungsweise und eine möglichst präzise
Begriffsbestimmung von "Spiritualität" unerlässlich. Wer heute
mit Google im Internet unter dem Stichwort "Spiritualität" sucht,
stößt auf über 700 000 Fundstellen. Im Großen Brockhaus
vor rund einhundert Jahren (1906) findet sich nur eine sehr allgemeine
Definition: "das geistige Wesen, innere Leben...". Spiritualität ist
mehr als nur eine der "neuen" Denkweisen, welche sich vor allem auf mystische
Traditionen und auf fernöstliche Spiritualität beziehen. So ist
beispielsweise New Age nach innen gerichtet und zielt auf Selbstfindung
und Selbsterfahrung. Spiritualität im eigentlichen Sinne hingegen
betrifft eine wesentliche und zeitlose Dimension des Menschseins. Sie stellt
über das eigene Ich hinausgehende Fragen nach einer transzendentalen
Ebene und dem eigentlichen Sinn des Daseins.
Rückkehr des Religiösen
in der westlichen Welt
Der Mensch sei "unheilbar
religiös", hat der russische Religionsphilosoph Nikolai A. Berdjajew
konstatiert. Dieser "Befund" lässt sich nur zeitweise verdecken, um
dann, je nach den soziokulturellen Szenarien, immer wieder hervorzubrechen.
Viele Beobachter glauben,
dass sich zurzeit eine "Rückkehr der Religionen" abzeichnet. Folgt
man den Forschungsergebnissen über die so genannten Neuen Religiösen
Bewegungen, so hat die Zahl der Religionen und der Gläubigen im 20.
Jahrhundert erheblich zugenommen (2. Auflage der World Christian Encyclopedia).
Nicht nur das Erstarken des Islam in seiner fundamentalistischen Ausprägung,
sondern auch das Gefühl einer universellen terroristischen Bedrohung
nach dem 11. September 2001, Naturkatastrophen unvorhergesehenen Ausmaßes,
das immer neue Auftauchen bislang unbekannter ethischer Probleme - Embryonenforschung,
Klonen, genetische Manipulation - mögen weitere Triebfedern einer
religiösen Neubesinnung in der westlichen Welt bilden. Religionen
scheinen zum Fluchtpunkt zu werden, in dem sich Fragen an das Selbstverständnis
des Menschen und an die Spielregeln des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert
bündeln. Vielleicht erkennen die Menschen auch, dass eine immer weiter
getriebene Individualisierung kein Ersatz für den Urwunsch nach Transzendenz
darstellt.
Von dieser Öffnung zu
Religiosität und Spiritualität bleibt auch die moderne Medizin
nicht unberührt. Gerade die Hightech-Medizin mit ihrem Allmachtsgehabe
akzentuiert an ihren Grenzen besonders deutlich die Sterblichkeit als unüberwindbare
anthropologische Konstante. An diesen Grenzen treten dann die Fragen nach
Sinn und Ziel des Daseins, nach dem "Danach", jene "letzten Fragen" also,
drängend in das Bewusstsein. Wenn "Hightech" zurückweichen muss,
um "Highcare" im Sinne zuwendungsintensiver Fürsorge den Vorrang zu
geben, öffnet sich vielleicht der Weg in eine über das unmittelbare
Ich hinausreichende Wirklichkeit. Dabei entsteht auch der Wunsch, in diesem
Bestreben nicht unverstanden und unbegleitet zu sein.
So zählt spirituelle
Begleitung zu den vordringlichen Bedürfnissen todkranker Menschen
auf dem Weg zu einem "guten Tod". Für Palliativmedizin und Hospizarbeit
gilt Spiritualität als tragende Säule. Die Weltgesundheitsorganisation
WHO räumt in der Palliativmedizin der Berücksichtigung spiritueller
Probleme höchste Priorität ein. Dies alles könnte dafür
sprechen, dass die Zeit reif geworden ist, um spirituelle und religiöse
Bedürfnisse auch in der Medizin deutlicher zu artikulieren und ihre
Wahrnehmung und Durchsetzung stärker einzufordern. Spirituelle Sehnsucht
gehört zur Conditio humana.
Es gilt als erwiesen, dass
nicht wenige Patienten von ihren Ärzten und Pflegenden spirituellen
Beistand erwarten, aber auch beklagen, dass ihre spirituellen Bedürfnisse
nicht genügend wahrgenommen werden. Ebenso sind nicht wenige Ärzte
ihrerseits überzeugt, dass spirituelle Betreuung für ihre Patienten
hilfreich sein könnte, gestehen aber ein, dass sie zu wenig Erfahrung
besitzen. Was also vordringlich erscheint, ist eine konkrete Antwort auf
spirituelle Fragen und Nöte von Patienten zu finden und aufzuzeigen,
wie ein Umgang mit spirituellen Krisen und Phänomenen geschehen könnte.
Entscheidend ist die Sensibilität
des Arztes
Patienten artikulieren ihre
spirituellen Bedürfnisse, Erwartungen oder Erfahrungen selten spontan
und so gut wie gar nicht im Beisein anderer. Die Wahrnehmung von Spiritualität
setzt von Seiten des Arztes/Therapeuten eine spezifische Sensibilität
voraus. Diese bildet quasi das Nadelöhr für den Zugang zur spirituellen
Welt des Patienten. Ist diese Sensibilität für Spirituelles etwas
Naturgegebenes oder lässt sie sich schärfen, eventuell sogar
schulen?
Auch hier sind die Vereinigten
Staaten in gewisser Hinsicht Vorbild. An den medizinischen Hochschulen
werden Studenten angehalten, am Krankenbett auch nach der religiösen
Vergangenheit und den spirituellen Bedürfnissen und Ressourcen der
Patienten zu fragen, also eine "spirituelle Anamnese" zu erheben. An die
siebzig universitäre Einrichtungen, die sich mit Fragen der Spiritualität
beschäftigen, existieren in den Vereinigten Staaten. Eine Möglichkeit,
auch bei uns die Sensibilität für spirituelle Fragen zu wecken,
könnte zum Beispiel in der Ausbildung zur Palliativmedizin verankert
werden.
Spirituelle Anamnese als
Schritt zur Krisenbewältigung
Das American College of Physician
(ACP), einer der größten Zusammenschlüsse von Ärzten
in den Vereinigten Staaten, geht davon aus, dass zunächst vier einfache
Fragen zur Erfassung spiritueller Bedürfnisse ernsthaft erkrankter
Patienten genügen: "Ist Glaube (Religion, Spiritualität) für
Sie in dieser Krankheit wichtig?" "Hat Glaube zu anderen Zeiten in Ihrem
Leben eine wichtige Rolle gespielt?" "Haben Sie jemanden, mit dem Sie über
religiöse Belange sprechen können?" und: "Möchten Sie religiöse
Anliegen mit jemandem besprechen?"
Ärzten und Pflegekräften
mit geringer oder fehlender spiritueller Ausrichtung kann dieses Neuland
Angst bereiten. Aber zunächst ist nicht mehr erforderlich, als sich
bewusst zu machen, dass die Wahrnehmung und das Ernstnehmen der spirituellen
Bedürfnisse und Nöte von Patienten genauso wichtig ist, wie
die Beachtung körperlicher, seelischer oder sozialer Nöte. Die
Wahrnehmung spiritueller Nöte im Konzept einer ganzheitlichen Betrachtungsweise
des kranken Menschen ist unverzichtbar. Es hat sich immer wieder gezeigt,
dass die Erhebung der spirituellen Anamnese bereits ein wichtiger Schritt
sein kann, um eine Krisenbewältigung einzuleiten.
Für das Gespräch
gelten die Grundprinzipien der guten Kommunikation: aktives Zuhören
und empathische Zuwendung. Wahrscheinlich ist es nicht einmal immer erforderlich,
dass spirituelle Begriffe oder der Name "Gott" auftauchen. So heißt
es schon in der Bhagavadgita, einem altindischen religiösen Lehrgedicht:
"Gleich, mit welchem Namen du mich rufen magst, immer bin ich es, der antworten
wird."
Die Befassung mit der Spiritualität
der anvertrauten Patienten kann schließlich für das Selbstverständnis
und die eigene spirituelle Ausrichtung des Therapeuten oder Begleiters
von großem Gewinn sein.
Die Frage nach den "Wirkmechanismen"
von Glauben und Spiritualität hat weniger Gewicht als oft angenommen.
Jede Heilung, auch wenn wir glauben, sie in einem linearen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang
zu verstehen, bleibt bei genauer Betrachtung immer etwas Unbegreifliches.
Welcher Anteil daran im Einzelfall spirituellen Phänomenen zuzurechnen
ist, wird sich kaum bestimmen lassen.
Spirituelle Erfahrungen sind
nicht zu erzwingen. Sie ereignen sich oder auch nicht. Manchmal sind sie
ein Geschenk. Am Anfang steht dabei nicht mehr und nicht weniger als die
Offenheit des Begleiters für ihre möglichen Wirkungen. Spiritualität,
Glaube und Gebet beinhalten ein bedeutsames therapeutisches Potenzial.
Was sollte uns hindern, es angemessen zu nutzen?
Der Autor ist Internist
und war von 1976 bis 1999 Chefarzt der Medizinischen Klinik am St. Barbara-Hospital
Gladbeck. Er ist außerplanmäßiger Professor an der Universität
Bonn und Sachverständiger der Enquete-Kommission "Ethik und Recht
der modernen Medizin" des Deutschen Bundestages. Seine Arbeitsgebiete:
Bioethische Zeitfragen, Arzt-Patient-Kommunikation, Innere Medizin. Professor
Geisler ist Autor zahlreicher medizinischer Fachbücher. Informationen
finden sich auch im Internet (www.linus-geisler.de).
Geisler, Linus S.: Medizin
und Spiritualität |
DIE TAGESPOST, 58. Jahrgang,
Nr. 18, 12. Februar 2005, S. 17-18 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2005/200502dt-medizin_spiritualitaet.html |
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