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Linus S. Geisler: Der Mensch der Zukunft - aus der Perspektive der Medizin. Festvortrag anlässlich der Verleihung der "Goldenen Eule" der "Sokratischen Gesellschaft". Freiburg i. Br., 19. März 2005. 
Der Mensch der Zukunft – aus der Perspektive der Medizin

Linus S. Geisler
"Die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet ... die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt."
C.S. Lewis: The Abolition of Man [1]
Der Mensch der Zukunft, der Neue Mensch, sollen wir uns auf ihn freuen? Wird der Mensch von heute, dieses Halbfabrikat, wie Trotzki ihn nannte, dieser gegenwärtige, widerspruchsvolle und unharmonische Mensch überwunden sein, abgelöst von einer neuen und glücklichen Menschheit? Wird der alte Mensch verschwinden, so die Vision Michel Foucaults: "... wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand"?

Der Neue Mensch, ausgestattet mit den Potenzen der Selbstermächtigung, der Selbstgestaltung und der Selbstvernichtung wird er schließlich nur noch sein, was er buchstäblich aus sich macht, besser gesagt, was andere aus ihm machen?

Vielleicht wird schon in Kürze ein Forschungszentrum des Pentagon, die DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency), mittels "Military Bioengineering", die ersten Exemplare des Neuen Menschen präsentieren – ganz in der Tradition der US-amerikanischen Vorreiterrolle. Ausgehend von der Erkenntnis, dass das schwächste System in einem Krieg der Mensch ist, plant das Pentagon aus Soldaten mit Hilfe von Drogen, genetischer Manipulation und neuronalen Mikrochips ideale Kampfmaschinen zu machen: Schmerzunempfindlich, stressfrei und nimmermüde.

Die umfassendsten Offerten hält die Molekularbiologie bereit: Der Neue Mensch, ein perfekter Endloskopierer seines manipulierten Genoms. Freilich hält sie keine Logik bereit, die mit Begriffen der Gentechnik verbindlich definieren kann, was die "Verbesserung des Menschen" wirklich bedeutet. 

Aber vielleicht auch wird sich zeigen, dass der Neue Mensch nichts ist, als eine horrend kostspielige Mogelpackung mit unbekanntem Inhalt. 

Zukünfte

Wer ehrlich ist, muss bekennen: auf die Fragen nach dem Neuen Menschen gibt es keine verbindlichen Antworten. Zu suchen wären sie in der Zukunft, dem Land der Phantasten, wie Immanuel Kant es nennt. Anders gesagt: in einem möglichen Cluster von Teilzukünften.

Der Blick in die Zukunft war schon immer ein besonderes Faszinosum. Die Araber versuchten im 6. Jahrhundert die Zukunft maschinell zu simulieren. Sie bedienten sich dazu einer hochkomplizierten Buchstabenkombinatorik [2]. Auch der begnadete Raimundus Lullus, der ab 1275 eine logische Maschine entwickelte, ein Kunstwerk der Kombinatorik, wagte sich in seinen Artes Memoriae an den Entwurf von "Zukunftsmaschinen". Ihre prädiktiven Fähigkeiten blieben fragwürdig. 

Die großen Zukunftsschauen der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts wie etwa jene von Hermann Kahn und seinem Hudson Institute erwiesen sich am Ende als blamabel: In den Prognose waren die Teilung Deutschlands und der Fortbestand eines starken kommunistischen Ostblocks unverrückbare Größen. Die dramatischen Ereignisse an der Wende zu den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatte keines der futurologischen Instrumentarien zu fassen vermocht.

Die Prognostizierbarkeit von Zukunft durch eine lineare Verlängerung der Gegenwart in das noch Kommende erweist sich als Fiktion. Zukunft ist längst zu einem "Medium der Unwahrscheinlichkeit" geworden, bestenfalls zum Narrenschiff fanatisierter Utopisten. Skeptiker warnen davor, die Zukunft zu überladen. Lucian Hölscher konstatiert: "Die Zukunft ist selbst zur knappen Ressource geworden ... Denn auch die Zukunft ist endlich." [3] Und die Ressource Zukunft schwindet automatisch, wenn die Mehrheit einer Gesellschaft zu den Älteren zählt. Damit wird die jahrhunderte alte Illusion von der Unbegrenztheit der Zukunft liquidiert. 

Zudem: die mit der Entwicklung von Systemen wachsende Komplexität, setzt allen exponentiellen und hyper-exponentiellen Fantasien eine Grenze. Die Zukunft ist überkomplex und wird daher weder verstehbar noch prognostizierbar. Jens Reich spricht in diesem Zusammenhang von einem Bedarf an "Neg-Komplexität [4].

Die Vorsichtigeren erkennen, dass es immer gefährlicher wird, sich ständig neue, noch fortschrittlichere Zukünfte zusammenzuphantasieren. Denn die Zukünfte schlagen zurück in die Gegenwart. Sie engen letztlich die Handlungsspielräume und die Kreativität im Heute ein. Schon 1793 schrieb Herder: "Die Gegenwart ist schwanger von der Zukunft ..." und niemand weiß, möchte man hinzufügen, was diese Niederkunft bringen wird.

Wissenschaftliche Prognosen erweisen sich bestenfalls als Spiele mit Möglichkeiten.

So starren wir in die Zukunft in einer Art unheimlicher Aufbruchsstimmung zwischen "Hope and Hype", einer Fluktuation zwischen extremen Fortschrittserwartungen und drohenden Weltuntergangsängsten.

Sprünge im Menschenbild

Kurzum: ist die Befassung mit dem Menschen der Zukunft nichts anderes als zeitvergeudendes Glasperlenspiel? 

Ich denke nicht. Denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das nicht sein will, wie es ist (Peter Gross [5]). Theologen wie Karl Rahner formulierten schon vor Jahrzehnten die Bestimmung des Menschen zur Selbstgestaltung als zur Conditio humana gehörig: "Er muss der operable Mensch sein wollen, auch wenn Ausmaß und gerechte Weise dieser Selbstmanipulation noch weithin dunkel sind ... die Zukunft der Selbstmanipulation des Menschen hat schon begonnen." [6] Damit lässt die Theologie die Mahnungen ihrer frühen Kirchenlehrer weit hinter sich, wie etwa Augustinus, wenn er sagt: "Hände weg von dir selbst. Suche, dich selbst zu schaffen, und du wirst eine Ruine schaffen." [7] 

Es ist nicht zu übersehen: Unser Menschenbild bekommt Sprünge und Risse. Es droht zu zerfallen. Die Angewiesenheit auf ein kommendes Menschenbild erscheint unabwendbar. Wir können nicht anders. Wir müssen den Menschen der Zukunft ins Visier nehmen. Denn er ist längst in unsere Gegenwart getreten und beginnt, sich übermächtig in Szene zu setzen.

Der lupenreine Fuß oder "dirty medicine"

In VOGUE erschien im März 2003 in der Sektion "Schönheit – Gesundheit & Fitness" eine Story mit dem Titel "Der lupenreine Fuß" (the flawless foot), basierend auf Interviews mit New Yorker Fußspezialisten. Deren chirurgisches Angebot umfasste auch die operative Umformung der Füße von Frauen, denen ermöglicht werden sollte, Designerschuhe zu tragen, einfach um darin gut auszusehen. Solche Schuhe, erklärte ein Fußspezialist, benötigen "Designer-Füße". Bis vor kurzem hätten ihn Patientinnen aufgesucht, um von schmerzhaften Fußdeformitäten befreit zu werden. Jetzt kämen sie in die Sprechstunde, zögen ein paar heiße Stilettos aus der Tasche und sagten: "Die will ich tragen!"

"Ich war es leid", berichtete eine andere Frau, "meine Zehen im Sand eingraben zu müssen, wenn ich zum Strand ging. Ich empfand es als erniedrigend". Nach operativer Kürzung einige Zehen bekannte sie erleichtert: "It changed my life".

Als "dirty medicine" bezeichnet Arthur W Franck von der Universität Calgary diese Art "neo-liberaler" Medizin. [8]

Styling, Piercing, Tattooing, Bodybuilding, Doping, Lifting, vergrößern, verkleinern, absaugen, straffen. Vierzig Prozent der Britinnen sind bereit zum "Body Shopping". Auch Männer entwickeln zunehmend ein kosmetisches und "prothetisches Bewusstsein". 

Bei all dem herrscht eine auffallende Polarität zwischen Körpervergessenheit und Körperversessenheit

TV-Serie 'Nip/Tuck'Körpervergessenheit beispielsweise durch Raubbau in Beruf, Sport, Freizeit oder durch Instrumentalisierung frühen menschlichen Lebens zu Zwecken der Forschung. Körperversessenheit, reichend über Körperkult, Beauty- und Wellnesswelle und Schönheitschirurgie bis zur gentechnischen Optimierung. Allein für den Beauty- und Wellness-Bereich werden in Deutschland jährlich zweistellige Milliardenbeträge ausgegeben. [9]

Bis zu 600 000 kosmetische Operationen werden jährlich in Deutschland durchgeführt. Tendenz: steigend [10]. Hinzu kommen 400 000 kleine "Lunchtime-Eingriffe" in der Mittagspause, wie etwa das Aufspritzen der Lippen. 30 000 bis 50 000 Deutsche werden pro Jahr mit Botox-Injektionen zur Faltenglättung behandelt, in den USA 2,8 Millionen. Von dort schwappt die Welle der Botox-Partys herüber, auf denen sich Freundinnen im Wohnzimmer bei Sekt und Fingerfood zu Sonderpreisen Stiche mit dem stärksten Nervengift der Natur setzen lassen. Der Deal ist klar: statt Fältchen gefrorene Mimik. 

Offensichtlich gebiert die Leere im Zentrum die Prächtigkeit der Peripherie. Die Versuchung, Probleme in der Tiefe an der Oberfläche zu lösen, scheint unwiderstehlich.

Der Leib, körperliche Präsentation des Ichs, gerät außer Kontrolle. Das Bild vom eigenen Körper verzerrt sich beim Vergleich mit den gewaltsam in Szene gesetzten Körperidealen der Gesellschaft. Superdünne Models oder Schauspielerinnen vom Typ Ally McBeal (Calista Flockhart) prägen das weibliche Körperideal – in einer Gesellschaft, die ständig übergewichtiger wird. Hier haben schwere Körperschemastörungen, die in Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie einmünden, eine ihrer Wurzeln. Rund 700 000 Menschen, vor allem Frauen, zunehmend aber auch Männer, leiden in Deutschland an diesen lebensbedrohlichen Krankheitsbildern mit schlechter Prognose. 

Für die prägende Wirkung gesellschaftlicher Zielvorstellung auf das eigene Körpererleben gibt es zahlreiche Hinweise. In der früheren DDR zum Beispiel kamen Ess-Störungen erst mit der Wiedervereinigung auf, also mit dem Einzug des Kapitalismus. 

Ein extremes Beispiel kulturell-ästhetischer Indoktrination ist von den Fidschi-Inseln bekannt. Dort ist die Zahl bulimischer Frauen seit 1995 rasant angestiegen, nachdem ein US-amerikanischer Fernsehkanal auf Sendung ging. Binnen drei Jahren waren 15 Prozent der Mädchen bulimisch. Das Phänomen findet seine Erklärung im Export von Körperhass durch Bilder, die eine Pseudo-Ästhetik aufbauen, gegen die Menschen, hier insbesondere Frauen, sich nicht zur Wehr setzen können.

Im Zuge eines übersteigerten Körperkults greifen Dysmorphophobien, d.h. die krankhafte Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper in epidemischem Ausmaß um sich. Meist betrifft das massiv verzerrte Körperbild das Gesicht, bei Frauen auch Brüste und Beine, bei Männern Körpergröße oder Genitalien. Dieser sog. Thersites-Komplex – Thersites soll der hässlichste Grieche gewesen sein – führt die Patienten immer wieder zum plastischen Chirurgen. Der Körper gerät zur ewigen Baustelle ohne Richtfest, Zutritt für Kinder und Jugendliche nicht mehr verboten.

Selbst die US-Army bietet ihren Angehörigen das ganze Repertoire der Schönheitschirurgie als Belohnung für die Strapazen in Afghanistan oder im Irak kostenlos an: zwischen 2000 und 2003 alleine 496 Brustvergrößerungen. Allerdings, räumte eine Armeesprecherin ein, ein gelungener kosmetischer Eingriff sei zwar ein schöner Nebeneffekt für eine Soldatin. Das Hauptziel aber sei, den eigenen Operateuren kontinuierliche Übungsmöglichkeiten zu bieten für den Ernstfall rekonstruktiver Eingriffe nach entstellenden Verwundungen. 

Die Neuerfindung des Körpers – das Verschwinden des Leibes

Adorno und Horkheimer [11] haben das "Interesse am Körper" als "todbringend" bezeichnet. Der Umgang des modernen Menschen mit seinem Körper erschien ihnen als gestört, denn er gehe mit seinen Körperteilen um, als wären sie bereits Prothesen.

Die Transplantationsmedizin ist das Kulminationsfeld aller Konflikte, die aus dem Versuch resultiert, eine restitutio ad integrum kranker Körper durch Desintegration intakter Körper zu erzwingen. Nirgendwo wird deutlicher, dass Ausübung von Macht, wie Canetti schreibt, stets Macht über Fleisch ist.

Transplantationsmedizin ist Extremmedizin. In ihr wird eine elementar neue Dimension eröffnet: Heilung oder Linderung sind im Körper eines Anderen lokalisiert [12]. 

Ohne Änderung des Menschenbildes und des Körper-Leib-Verständnisses ist ein reibungsloser Vollzug des Systems nicht machbar [13]. Neubestimmungen sind unerlässlich. Körperkonzepte sind zu entwerfen, die das Tabuisierte zulassen. Das körperliche Dasein muss umdefiniert werden in eine bloße Ansammlung von Organen, in der das Ich für eine begrenzte Zeit seinen Platz findet. Die Vorstellung von der Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit des Körpers und seiner Organe ist aufzugeben. Neue Verfügungsrechte sind auszuhandeln, denn die körperlichen Grenzverletzungen zwischen Spender und Empfänger bedürfen der Legalisierung. 

In der Kunst hat der Trend zur Körperzerstückelung im Übrigen bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts eingesetzt. Erstmals traten in der Malerei Aufteilungen, Umgestaltung und Zerteilungen des Körpers auf. Einprägsam zeigen dies die zerstückelten Gesichter und Körper in den 1907 gemalten Demoiselles d'Avignon von Picasso.

Es war schon früh eine Erkenntnis, wie die Arbeiten von Castelnuovo-Tedesco [14] belegen, dass Organtransplantation durch Identitätsdiffusion zwischen Empfänger und Spender zur Erschütterung des Selbstkonzeptes führen kann. Im Extremfall resultiert ein signifikanter Bruch des eigenen Körperbildes. 

Das neue Organ als Hoffnungsträger von Heilung oder Rettung erweist sich gelegentlich als doppelbödige Gabe. Es etabliert verloren gegangene Funktionen neu und offenbart sich zugleich immunologisch als Feind. Der Heilungsversuch wird zur feindlichen Übernahme. 

Die durch die Transplantation ermöglichte Rettung des Ichs, kann so gleichzeitig in seine Gefährdung umschlagen [15]. Die Inkorporation des fremden Körpers kann sich scheinbar folgenlos vollziehen oder wird als Angriff auf die Personalität von außen wahrgenommen, als das Eindringen des Anderen [16]. 

Die Trivialisierung und Profanisierung des Systems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten [17]. Diese beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe. Das Diktat der Anspruchserfüllung ebnet die Wege zur Ökonomisierung, in der nur noch Marktmechanismen zählen. Folgerichtig propagieren deutsche Wirtschaftswissenschaftler wie Peter Oberender monetäre Anreize auf einem Markt für Organtransplantate als Lösung des Problems "Organmangel" und behaupten, dass alle Beteiligten dabei gewinnen [18]. Philosophen wie Hartmut Kliemt stellen die Frage: "Warum darf ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" [19] Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker macht sich für einen regulierten Organhandel, auch in der westlichen Welt, stark. Deutsche Gesundheitsökonomen diskutieren ernsthaft "Spotmärkte" für Organe. 

Der makabre Begriff des "marginalen Spenders", dessen Organe nicht mehr Topqualität besitzen müssen, weil sie für einen "marginalen" Empfänger gedacht sind kommt ins Spiel und weckt Assoziation an den "marginalen Menschen". Auch die drogenabhängige Spenderin, die mehrere Empfänger mit Tollwut infizierte, wurde in diese Kategorie eingestuft.

Über der Transplantationsmedizin liegt das Odium der Systemtragik. Was immer sie verspricht, kann sie nicht umfassend halten. Die Illusion der "leeren Warteliste" wird immer eine Illusion bleiben. Das Wachstum des Systems verstärkt seine Wachstumskrise. Transplantationsmedizin verdrängt die Endlichkeit des Menschen, doch sie kann nicht leugnen, dass Endlichkeit eine anthropologische Konstante ist. In der medizinischen Ethik liefert aber gerade die Einsicht in die existentiale Endlichkeit des Menschen ein hilfreiches Korrektiv zur bisweilen absolut gesetzten ärztlichen Pflicht, zu helfen und zu heilen [20]. 

Der Medizinhistoriker Thomas Schlich [21] hat präzise deutlich gemacht, welche bisher sicher geglaubten Grenzziehungen durch die Transplantationsmedizin infrage gestellt werden. Es sind Grenzüberschreitungen, die exemplarisch viele sog. Zukunftstechnologien kennzeichnen. Es geht um die Grenzen:

  • zwischen Leben und Tod,
  • Fortschritt und Hybris
  • Sterbenlassen und Töten
  • um die Grenzen der biologischen Abgeschlossenheit des Körpers
Xenotransplantation

Eine weitere Grenzüberschreitung ist Gegenstand intensiver Spekulationen und Forschungen: die Xenotransplantation als Durchbrechung der Barriere zwischen Tier und Mensch. Bei einem Patienten in den USA, dem vor einigen Jahren eine Pavianleber übertragen worden waren, wurden Pavianzellen in seinem Herzen, in der Haut und anderen Organen nachgewiesen [22]. Der Mensch als Chimäre? Über das Infektionsrisiko, das pandemische Ausmaße annehmen könnte, gibt es nur unsichere Abschätzungen. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Tierorganen wirft ganz neue ethische Fragen auf: Menschen, die mit einem tierischen Organ weiterleben, werden vermutlich mit Reaktionen wie Distanz, Ablehnung, oder Ausgrenzung rechnen müssen [23]. Fragen einer gerechten Allokation tun sich auf: Zwei Klassen von Empfängern? Für die einen menschliche Organe, für die anderen tierische? Und wenn tierische Organe, wofür manches spricht, eine kürzere "Halbwertszeit" aufweisen, werden deren Empfänger über kurz oder lang wieder auf den Wartelisten auftauchen, d.h. diese verlängern statt verkürzen?

Kopftransplantation eines Affen durch Robert WhiteKopfverpflanzung

Makabre Krönung transplantationschirugischer Utopien sind die Phantasien des amerikanischen Hirnchirurgen Dr. Robert White, Mitglied der bioethischen Kommission des Vatikans. White träumt von der Verpflanzung menschlicher Köpfe auf den abgetrennten Körper von Hirntoten. Bei Affen hat er bereits ganze Köpfe bzw. Körper transplantiert [24]. Wer genau überlebt da? Ein hirntoter Körper mit aufgepfropftem Bewusstsein oder ein Gehirn, durch den Körper eines Hirntoten in Betrieb gehalten? White verkündet mit sakral-pathetischen Worten: "Und ich sage: Fürchtete euch nicht, ihr werdet einen neuen Körper von mir erhalten". [25]

Menschen-Produktion (Reproduktion)

Die Wissenschaft von der Erzeugung des Menschen, die Reproduktionsmedizin entwirft ihre eigenen Utopien. Junge Männer und Frauen legen Reproduktionsbanken voll tiefgefrorener Spermien und Eizellen an. Wer über ein solides Konto bei der Reprobank verfügt, kann sich sterilisieren lassen. Seine Fortpflanzungsfähigkeit ist für Jahrzehnte gesichert. Die Separierung von Sexualität und Fortpflanzung ist besiegelt. 

Noch weiter könnten in etwa 15 Jahren die Lebensplanungsspielräume zumindest für Frauen werden: Die "Karrierepille" hemmt den Eisprung zwischen Pubertät und Anfang 30 und verschiebt die Wechseljahre um Jahrzehnte (Roger Gosden, Reproduktionsbiologe an der Montrealer Universität). Nach absolvierter Karriere winkt spätes Mutterglück – vorausgesetzt, es gelingt gleichzeitig die Alterung des Körpers zu verzögern und das Risiko für Gendefekte zu bremsen.

Die Realität sieht anders aus. Die große Mehrheit der neunundzwanzig- bis vierunddreißigjährigen Frauen hierzulande wünscht sich mindestens zwei Kinder. Am Ende aber bleibt jede dritte Frau kinderlos, bei Akademikerinnen sind es mehr als vierzig Prozent. Die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit bedeutet, dass jährlich mehr als zweihunderttausend erwünschte Babys nicht zur Welt kommen. Das enge biologische Fenster der Fortpflanzungsfähigkeit stellt Frauen dann häufig überraschend schnell vor die Alternative, was zu begraben ist: Kinderwunsch oder berufliche Träume.

Aus einem frauenärztlichen Randgebiet hat sich die Fortpflanzungsmedizin zu einer sich verselbständigenden gigantischen Reproduktionsmaschinerie entwickelt. Weltweit verdanken jährlich mehrere 10 000 Neugeborene reproduktionsmedizinischen Maßnahmen ihr Leben.

Die Techniken der Fortpflanzungsmedizin beinhalten die assistierte Erzeugung des Menschen ebenso wie seine Verhinderung oder seine Tötung. Töten hat begonnen, als therapeutischer Akt in die Geburtshilfe einzuziehen. Die Reproduktionsmedizin beschafft das Wunschkind, gleichgültig ob dahinter das Leiden an der tatsächlichen oder vermeintlichen Unfruchtbarkeit oder neurotisch-verbissene Besitzansprüche stehen, und sie selektioniert mit gleicher Routine das potenzielle Horrorkind. 

Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) wird mit den Keimzellen genetisch belasteter, jedoch fruchtbarer Paare eine Reagenzglasbefruchtung durchgeführt. Ziel ist es, nur genetisch "gesunde" Embryonen in den mütterlichen Uterus einzusetzen. Embryonen, die den gesuchten genetischen Defekt aufweisen, werden "verworfen". Willkommene Embryonen "geerntet", die anderen sind reproduktives Fallobst, das dem Kontingent der "Forschungsembryonen" zugewiesen wird oder als "souls on ice", als "Gefrierfachwaisen" auf unbestimmte Zeit in Tiefkühltruhen gelagert.

PID (hierzulande verboten) wird verstärkt zur Selektion von "qualitativ hochwertigen" Embryonen und zur Geschlechtsauswahl eingesetzt. Es ist dokumentiert, dass auf diese Weise erzeugte, vollkommen gesunde Kinder, die dennoch das "falsche" Geschlecht aufwiesen, nach der Geburt abgetrieben wurden, um die Harmonie des "Geschwisterdesigns" nicht zu trüben. [26]

Am in der Retorte gezeugten Embryo stellt sich die unausweichliche Frage: Ist das ein Mensch? [27] Ist es jener Blick auf den Menschen, von dem Primo Levi in seinem autobiografischen Auschwitz-Bericht sagt, er sei "nicht von der Art, wie ein Mensch einen anderen Menschen anschaut"? Ist dieser Zellverbund nur ein "Zellhaufen", aus dem "noch nichts Menschliches geworden" ist (Michael West, Advanced Cell Technology in Worcester, Mass.)? 

Austin Smith, Inhaber des umstrittenen Patents EP 0695351 ("Edinburgh-Patent"), das die Manipulation an menschlichen Stammzellen sichern sollte, artikuliert seine Sicht früher menschlicher Embryonen unmissverständlich: "... es ist eindeutig nicht dasselbe wie du und ich. Es hat keine Nase, kein Herz, es kann nicht fühlen. Niemand weiß, ob es sich je zu menschlichem Leben entwickeln kann. Es ist nicht nichts. Aber es nicht vergleichbar mit dem, was wir unter menschlichem Leben verstehen." Die metaphorische Verbiegung erfährt noch eine weitere Steigerung, wenn der Embryo nur noch als "symbol of future human life" [28] als "Symbol künftigen menschlichen Lebens bezeichnet wird.

Die In-vitro-Fertilisation, ursprünglich als Hilfe bei Sterilität durch verwachsene Eileiter entwickelt, hat sich in kürzester Zeit von ihrem originären Zweck entfernt. Als großer Schritt in Richtung auf eine legitime Freiheit der Frau, wurde sie gepriesen, als Befreiung der Frau und nebenbei als Garant für eine "bessere medizinische Wartung des Fötus", als Überwindung der Poesie einer Schwangerschaft "wie zu Großmutters" Zeiten (Jean-Louis Touraine, Medizinprofessor, Das Kind außerhalb der Fruchtblase). Die scheinbar neu gestärkte Autonomie der Frau wird aber in Wirklichkeit schrittweise unterlaufen und schließlich pervertiert: Die Frau als Erfüllungsgehilfin missbraucht für das "soziokulturelle Projekt" des fehlerfreien Kindes nach Maß (Sigrid Graumann).

Die nostalgische Idee, Fortpflanzung diene zuerst der Fortpflanzung, wird schrittweise entsorgt. Am Ende von Selektion und verbrauchender Embryonenforschung pflanzt sich nichts mehr fort. Das Ganze mündet aus in den verhinderten Menschen oder in Bereicherung von Grundlagenforschung. 

Mutterlose Gesellschaft?

Im Science-Fiction-Klassiker "Matrix" schwimmt Homo Sapiens in der chemischen Lebensbrühe einer High-Tech-Gebärmutter. Die Maschine kontrolliert, unabhängig von der Mutter als Gebärende, die Technologie der Aufzucht. 

Lamm in künstlicher GebärmutterDas Projekt des künstlichen Uterus (artificial womb) ist bereits ins Visier reproduktionsmedizinischer Experimentatoren geraten. Der Ansatz erscheint zunächst ethisch vertretbar: die Rettung von Föten, deren Mutter sich beispielsweise in einer intensivmedizinischen Extremsituation befindet. In Tokio forscht ein Team des Gynäkologen Yosinori Kuwabara seit zehn Jahren an einem künstlichen Uterus – nicht ohne Erfolg. In einem Fruchtwassercocktail schwimmen fetale Lämmer, angeschlossen an eine künstliche Plazenta. Der Rekord: drei Wochen Überleben im neugeschaffenen fetalen Universum. Die Vision vom künstlichen Uterus ist nicht ohne Reiz: von der Last der Schwangerschaft freigestellte berufstätige Frauen, durchgängiger Zugriff auf den Embryo ohne die biologische Barriere der Mutter, Ersatz für den Mutterersatz Leihmutter. Matrix statt Mater? Aufbruch in die mutterlose Gesellschaft? 

Das Projekt des künstlichen Uterus, also das technische Outsourcing der Schwangerschaft, könnte in absehbarer Zeit eine völlig neue Bedeutung erhalten. Vor dem Hintergrund einer überalterten Welt und einer sich abzeichnenden Bevölkerungsimplosion, so der amerikanische Soziologie Stanley Kurtz (Hoover Institution, Universität Stanford), könnte nicht die Erzeugung von Supermenschen bald die wichtigste Herausforderung der Zukunft sein, "... sondern die Entwicklung einer künstlichen Gebärmutter." [29]

Last Exit: Der Mensch der Zukunft

Der Drang des Menschen zur Selbstüberschreitung gewinnt die Dimension einer Naturgewalt, ein Tsunami der Utopien. Es geht um radikale Attacken auf den Leib des Menschen, seine Identität, Gattungszugehörigkeit.

Die Heideggersche in die Welt-Geworfenheit findet ihre Ablösung in den Entwürfen aus den Werkstätten der Biotechnologen, Computerexperten und Hirnforscher. Menschliche Freiheit muss deterministischen Setzungen weichen. Es naht der Augenblick, von dem ab die neuen Maschinen nicht mehr abzuschalten sind, weil sie Bewusstsein erlangt haben, eigene Ziele verfolgen und sogar Würde besitzen. Konsequenterweise beantwortet die Theologin Anne Foerster die Frage: "Müssen wir sie (die humanoiden Roboter) vielleicht sogar taufen?" mit "Ja".

Die ins Extrem getriebene Computerisierung wird, so die These philosophischer Vordenker des Computerzeitalters wie Luciano Floridi in Oxford zwangsläufig zu einer neuen Ethik führen: zur Artificial Morality, einer künstlichen Moral werden [30]. Maschinen, die sich interaktiv, adaptiv und autonom verhalten können und über alternative Handlungsweisen verfügen, sollen als moralisch zurechnungsfähig eingestuft werden. 

Als schwacher Trost nimmt sich da die Mutmaßung des Hirnforschers Gerhard Roth aus: "Sobald diese Maschinen fähig sind, über sich selbst nachzudenken", bekommen wir unweigerlich all die Schwierigkeiten, die wir auch mit unseren Mitmenschen haben. Einschließlich der zehn Prozent Neurotiker und zwei Prozent Psychotiker."

Angriff auf das Unbegreifliche

Die Attacke auf das "letzte Naturreservat" (Stanislaw Lem), das Gehirn des Menschen, ist angeblasen.

Zu den Molekularbiologen gesellt sich nun eine Riege von Hirnforschern, für die der freie Wille nicht mehr ist als "eine nützliche Illusion" (Gerhard Roth) und deren Menschenbild "... den Himmel leer fegt von lenkenden Göttern ..." (Wolf Singer [31]).

Der schwedische Forscher Gerald Q. Maguire sieht in seinen cyberdelischen Visionen die Zukunft des Menschen in Hirnimplantaten mit Schnittstellen zu virtuellen Räumen. Das "Uploaden" unseres Selbst in das Internet ermöglicht körperlose Telepräsenz und wird zum Garanten einer neuen Unsterblichkeit. Durch Herunterladen, Kopieren und "Verwerten" dieses Selbst wird die Entwicklung von "Parallelexistenzen" vorstellbar, bis schließlich, wie in der digitalen Fotografie, ein Original nicht mehr auszumachen ist. Der Cyberspace als Ort verbundloser multipler Persönlichkeiten? Was den Menschen dann erwartet, sind quasi vernetzte Individuen in Paralleluniversen, oder in der Diktion der Zukunft der digitale Mensch als Multividuum im Multiversum

Methusalem-Komplott?

Der tatsächlich größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts, dem demographischen Wandel, weicht das Lager der Utopisten in auffallender Weise allerdings eher aus. Erweisen sich die Prognosen der Demographen als richtig, wird die Erde noch in diesem Jahrhundert "wie ein riesiges Altersheim durchs Weltall kreisen." [32]

An Verlegenheitslösungen, wie Pflegerobotern, die zuverlässig, stets guter Laune und ohne Aggressionen gegen ihre Objekte, die dann hoffnungslos überforderte Altenpflege entlasten sollen (Care-O-Bot) wird gearbeitet [33]. Natürlich gibt es einflussreiche Strömungen gegen Altern und Sterben wie z.B. die American Academy of Anti-Aging Medicine, die der "Todeskultur der Gerontologen" den Kampf angesagt hat [34]. Ein Europäisches Kryonik-Projekt zur "Lebensverlängerung" befindet sich in Planung [35] und es existiert die die Immortalitäts-Technosophie des Transhumanismus [36]. Schon 1978 dachte der theoretische Physiker Freeman Dyson über eine gentechnische Manipulation des subjektiven Zeitempfindens nach, die eine quasi intrinsische Unsterblichkeit simulieren könnte. Was bisher erreicht wurde, ist nicht mehr als der Versuch die Zeichen des Alters auszuradieren, nicht aber das Altern selbst [37].

Doch Konzepte, wie Medizin und Gesellschaft den angemessenen Wünschen und Bedürfnissen des extrem heterogenen Kollektivs der alten Menschen, das körperlich und psychisch intakte und kreative Personen ebenso umfasst wie Alzheimerpatienten in fortgeschrittenen Stadien, gerecht werden könnten sind nicht in Sicht. Zumindest nicht als systemischer und realistischer Entwurf. Nicht um das Bild eines Neuen Menschen wäre hier zu ringen, sondern um ein neues Bild von menschenwürdigem Altwerden und Altsein.
Wir müssen doch nicht alles machen, was wir
Können
Nein, wir müssen es nicht
Aber?
Aber wir werden es machen.
Und weshalb?
Weil wir nicht ertragen, wenn der kleinste
Zweifel bleibt, ob wir es wirklich können.
Hans Blumenberg
Ausblick

Verheißungen wurzeln in der Sehnsucht nach dem vollkommen Neuen und der Überwindung des Alten, Utopien in der Hybris des Menschen. Aber wir vertrauen unseren Utopien mehr als unserer Vernunft. Ein ewiges Weiterleben unbestimmter Natur verorten wir in ihnen. Denn als nicht seiend können wir uns nicht denken und uns nicht akzeptieren wie wir sind. Dies liegt im Wesen des Menschen. 

Also entwirft er sich ständig neu und verzweifelt, weil seine Entwürfe unvollständig bleiben. Er möchte sich häuten und in einem neuen Körper erstrahlen. Er will seinen Körper perfektionieren und erlaubt gleichzeitig, dass die Medizin diesen verstümmelt und zerstückelt. Er nimmt hin, dass seine Teile mehr wert zu sein scheinen als das Ganze. Die Auflösung seines Ichs in der Grenzenlosigkeit digitaler Welten erscheint im erträglicher als sein jetziges Los.

Der Mensch schließt faustische Pakte mit den Wissenschaften, aber die Erlösung bleibt aus und das mephistophelische Prinzip der Umkehrung des Bösen zum Guten gerät außer Kraft. So wie die Welt zum unüberschaubaren, fragmentierten Ort wird, so erlebt auch er sich zunehmend als fragmentiert. Auf der Jagd nach dem Ich blickt er in ein dunkles Kaleidoskop ständig wechselnder Wünsche, Ängste, Sehnsüchte und Selbstsüchte. Nichts, was ihn verlässlich zusammenhält, das ihm eine Mitte zeigt, die der Urgrund ist. 

Anders gesagt: Nach dem Verlust des Gottvertrauens scheint dem Menschen auch seine letzte Bastion, das Weltvertrauen, abhanden gekommen zu sein [38]. 

Der Urgrund seiner Verzweiflung ist die Furcht, dass nach diesem Leben kein anderes kommt. Also muss dieses Leben alles enthalten. Doch diese Überfrachtung ist unersättlich. Immer wieder läuft sie ins Leere. Nach jedem beseitigten Leid tritt ein anderes Leid auf den Plan. Er ahnt, wie bei Albert Camus zu lesen [39]: "Auch bei seiner größten Anstrengung kann der Mensch sich nur vornehmen, den Schmerz der Welt mengenmäßig zu vermindern. Aber Leiden und Ungerechtigkeit werden bleiben und, wie begrenzt auch immer, nie aufhören." So wird der Mensch nicht lebenssatt und nicht tränenleer. 

In den Duineser Elegien schreibt Rilke:
"Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst."
Und er erkennt:
"... Wie das ständige Zuwenig umspringt in das leere Zuviel." [40]
Noch nie entwarf die Menschheit eine größere Zahl an möglichen Utopien und denkbaren Zukünften. Der sich selbst überschreitende Mensch der Zukunft in seiner heutigen Projektion als last exit der Menschheit ist freilich die untauglichste aller Utopien und Zukünfte. 

Aber auch noch nie besaß der Mensch größere Möglichkeiten, sich der Uferlosigkeit utopischer Alternativen zu sich selbst zu widersetzen. Dabei geht es um nichts weniger als seine Freiheit.
Frei ist erst,
wer keinen Alternativen sich
beugen müsste, und im Bestehenden
ist es eine Spur
von Freiheit, ihnen sich zu
verweigern.
Theodor W. Adorno [41]
Oscar Wilde war der Ansicht: "Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick." [42] Dem ist entgegenzusetzen: Eine Weltkarte, auf der die Länder der Unterdrückung und Ungerechtigkeit, der Menschenverachtung und der Folter, der Ausbeutung und des Terrors den weitesten Teil des Terrains einnehmen, bedarf alles andere als der riesiger Inseln utopischer Phantasmen und Zukünfte. So lange täglich dreißigtausend Kinder verhungern, bedarf es nicht immer neuer Entwürfe des Bildes vom Menschen, sondern der Erneuerung vom Bild des Mitmenschen – nicht nur in der Medizin – als eines Menschen, für den Menschen sich einsetzen und sich ihm aussetzen. 

Überzeugende Gründe für die gentechnische "Optimierung des Menschen" lassen sich schwerlich ausmachen. Sehr viele Gründe hingegen sprechen für eine Optimierung der Lebenswelt jenes großen Teils der Menschheit, dem es durch Unterdrückung, Ausbeutung und Verteilungsungerechtigkeiten verwehrt ist, aus der jedem Menschen innewohnenden reichen Vielfalt seiner Möglichkeiten zu schöpfen.

Es gibt keinen Grund hilflos wie das Kaninchen auf die Schlange auf die utopischen Träume und Albträume einer scheinbar unabwendbaren Zukunft zu starren. 

In seinem Werk Inventing the Future (Menschheit morgen [43]) schrieb der Physiknobelpreisträger Dennis Gabor: "Die Zukunft kann nicht vorhergesagt werden, aber sie lässt sich erfinden."

Sich an der Erfindung der Zukunft zu beteiligen steht allen offen, nicht nur der Wissenschaft. Die Voraussetzungen dafür sind eindeutig: Mitgefühl und Weisheit, Mut und Demut und vor allem die Achtung des Menschen.

Literatur:

[1] Lewis, CS: Die Abschaffung des Menschen. 5. Aufl. Freiburg. 2003. S. 62

[2] Za'iridscha-el-alám genannt, zu Deutsch etwa "universelle Rundscheibe“.

[3] Hölscher, Lucian: Die Entdeckung der Zukunft. UNIVERSITAS. 56. Jahrgang. Januar 2001. Nummer 655. S. 6.

[4] Reich, Jens: Der neue Mensch ist doch der alte. Tagesspiegel. 18.08.2000.

[5] Gross, Peter: Nachwuchs nach Wunsch: das genetische Christkind. Potsdamer Neueste Nachrichten. 23.09.2000

[6] Rahner K: Experiment Mensch. Theologisches Über die Selbstmanipulation des Mensche. In: Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie. Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag. Freiburg/München 1966. S. 53

[7] zit. n. Kamphaus, F: Der Neue Mensch. Nicht suchen, finden. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 276, 27. November 2002, S. 10

[8] Frank, Arthur W: Connecting Body Parts: Technoluxe, Surgical shapings and Bioethics. Vital Politics Conference. London School of Economics. September 2003

[9] Grönemeyer, Dietrich: Die Gesundheitswirtschaft braucht schnellstens eine Wellnesskur: Wie wir sie auf die Füße stellen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2004, Nr. 280, S. 40

[10] Zahl der Schönheitsoperationen in Deutschland gestiegen. Deutsches Ärzteblatt Online. 04.03.2005

[11] Adorno/Horkheimer "Das Interesse am Körper", Dialektik der Aufklärung. Aufzeichnungen und Entwürfe, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 265.

[12] Schneider, Ingrid: Ein Markt für Organe? Die Debatte um ökonomische Anreize zur Organspende. In: Oduncu FS, U. Schroth, W. Vossenkuhl (Hg.): Transplantation. Organgewinnung und -allokation. Göttingen. 2003. S.189-208

[13] Geisler, Linus S: Organlebendspende. Routine - Tabubrüche - Systemtragik  Universitas, 59. Jahrgang, Nr. 702, Dezember 2004, S. 1214-1225 
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412universitas-organlebendspende.html    - Interner Interner Link

[14] Castelnuevo-Tedesco, P: Organ transplant, body image, psychosis. Psychoanal. Quarterly 1973; 42: 349-363

[15] Krüger-Fürhoff, IM: Vernetzte Körper. Zur Poetik der Transplantation. In: Barkhoff J, Böhme H, Riou J (Hg): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln Weimar Wien. 2004

[16] Feuerstein, G: Das Transplantationssystem. Dynamik, Konflikte und ethisch-moralische Grenzgänge. Weinheim und München 1995

[17] Fox RC, JP Swazey: Spare Parts. Organ Replacement in American Society. Oxford University Press, New York, Oxford 1992

[18] Oberender O, Rudolf T: Das belohnte Geschenk - Monetäre Anreize auf dem Markt für Organtransplantate. Wirtschaftswissenschaftliches Diskussionspapier 12-03. Universität Bayreuth. ISSN 1611-3837. Oktober 2003

[19] Kliemt, H: Warum kann ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht? Vortrag zum Symposium "Ethik der Lebendorganspende" am 11.9.2002. In: Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Medizinische Forschung. Band 14 (i.E.)

[20] Sitter-Liver, B: Gerechte Organallokation. Ethisch-philosophische Überlegungen zur Verteilung knapper medizinischer Güter in der Transplantationsmedizin. Studie zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Bern. Bern. 15. September 2003.

[21] Schlich, Thomas: Transplantation. Geschichte, Medizin, Ethik der Organverpflanzung. München 1989

[22] Patient mit Leber eines Pavians abermals operiert. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 20.01.1993

[23] Petermann TH, Sauter A. TA-Monitoring "Xenotransplantation". Arbeitsbericht Nr. 64 des Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) Dezember, 1999 93-95

[24] White: "Ich hatte es kreiert. Es gab dafür kein anderes Beispiel in der Biologie. Nicht einmal Gott hatte dieses Tier geschaffen."

[25] Jungblut, Christian: Meinen Kopf auf deinen Hals. - Die neuen Pläne des Dr. Frankenstein alias Robert White. Stuttgart, Leipzig 2001.

[26] Lenzen-Schulte, Martina: Wunschkind.de. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 25.02.2005. Nr. 47, S. 37.

[27] Geisler, Linus S.: Ist das ein Mensch? In der Fortpflanzungsmedizin kulminieren nahezu alle ethischen Probleme der Biotechnologie. Frankfurter Rundschau, 09.09.2000, Nr. 210, S. 9 
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0009fr_mensch.html    - Interner Interner Link

[28] ESHRE Task Force on Ethics and Law. The moral status of pre-implantation embryo. Hum. Reprod. 16, 1046-1048, 2001.

[29] Kurtz, St: Demographie und der Krieg der Kulturen. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 11.03.2005. Nr. 59, S. 42

[30] Floridi, Luciano; Sanders, Jeff: On the Morality of Artifcial Agents. Minds and Machines. 2004, 14.3, pp. 349-379

[31] Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild? Gespräche über die Hirnforschung. Frankfurt/Main 2003.

[32] Birg, H.: Die demographische Zeitenwende. München 2001

[33] Roboter: Die Zukunft kommt später. FOCUS Magazin, 09.08.2004, Nr. 33

[34] Binstock, RH: The War on Antiaging Medicine. The Gerontologist 43. 2003. S. 4-14

[35] Krempl, Stefan: Europäisches Kryonik-Projekt zur "Lebensverlängerung" in Planung. Telepolis, 25.06.2001. 
Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/konf/7962/1.html    - Externer Externer Link

[36] Mania, Hubert: Die Immortalitäts-Technosophie des Transhumanismus. Telepolis, 19.08.2001 
Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/9341/1.html    - Externer Externer Link

[37] Schirrmacher, Frank: Das Methusalem-Komplott. München. 2004. S. 103.

[38] Geisler, Linus S.: Von der Sehnsucht nach jenem Anderen  In: Riess, Richard (Hg.): IN EINEM WORT. Bekannte Autoren über Texte, die ihr Leben begleiten. Claudius Verlag München 2004

[39] Camus, A: Der Mensch in der Revolte. Reinbek. 1972. S. 245

[40] Rilke, RM: Duineser Elegien. Leipzig. 1923

[41] Adorno, TW: ges. Werke. Bd. 6:225.

[42] Wilde, Oscar: Der Sozialismus und die Seele des Menschen. Aus dem Zuchthaus zu Reading. Ästhetisches Manifest. Berlin 1924, S. 47

[43] Gabor, Dennis: Inventing the Future. 1965
 

 
Weiterführende Links: 
Laudatio von Dr. Wolfgang von der Weppen: Verleihung der "Goldenen Eule" an Prof. Dr. Linus Geisler
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0503goldene_eule_laudatio.html   - Interner Interner Link
Sokratische Gesellschaft e.V.
URL: http://www.sokratische-gesellschaft.de/   - Externer Externer Link
Ärzte Zeitung vom 30. März 2005: Medizinethiker Linus Geisler erhält hohen Preis
URL: http://www.aerztezeitung.de/docs/2005/03/30/056a2005.asp?cat=   - Externer Externer Link

Linus S. Geisler: Der Mensch der Zukunft - aus der Perspektive der Medizin
Festvortrag anlässlich der Verleihung der "Goldenen Eule" der "Sokratischen Gesellschaft". Freiburg i. Br., 19. März 2005.
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0503goldene_eule.html

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