Linus S. Geisler: Der Mensch
der Zukunft - aus der Perspektive der Medizin. Festvortrag anlässlich
der Verleihung der "Goldenen Eule" der "Sokratischen Gesellschaft". Freiburg
i. Br., 19. März 2005.
Der Mensch der Zukunft – aus der Perspektive
der Medizin
Linus S. Geisler
"Die Macht
des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet ... die Macht
einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt."
C.S. Lewis: The Abolition
of Man [1]
|
Der Mensch der Zukunft, der
Neue
Mensch, sollen wir uns auf ihn freuen? Wird der Mensch von heute, dieses
Halbfabrikat, wie Trotzki ihn nannte, dieser gegenwärtige, widerspruchsvolle
und unharmonische Mensch überwunden sein, abgelöst von einer
neuen und glücklichen Menschheit? Wird der alte Mensch verschwinden,
so die Vision Michel Foucaults: "... wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand"?
Der Neue Mensch, ausgestattet
mit den Potenzen der Selbstermächtigung, der Selbstgestaltung und
der Selbstvernichtung wird er schließlich nur noch sein, was er buchstäblich
aus sich macht, besser gesagt, was andere aus ihm machen?
Vielleicht wird schon in
Kürze ein Forschungszentrum des Pentagon, die DARPA (Defense Advanced
Research Projects Agency), mittels "Military Bioengineering", die ersten
Exemplare des Neuen Menschen präsentieren – ganz in der Tradition
der US-amerikanischen Vorreiterrolle. Ausgehend von der Erkenntnis, dass
das schwächste System in einem Krieg der Mensch ist, plant das Pentagon
aus Soldaten mit Hilfe von Drogen, genetischer Manipulation und neuronalen
Mikrochips ideale Kampfmaschinen zu machen: Schmerzunempfindlich, stressfrei
und nimmermüde.
Die umfassendsten Offerten
hält die Molekularbiologie bereit: Der Neue Mensch, ein perfekter
Endloskopierer seines manipulierten Genoms. Freilich hält sie keine
Logik bereit, die mit Begriffen der Gentechnik verbindlich definieren kann,
was die "Verbesserung des Menschen" wirklich bedeutet.
Aber vielleicht auch wird
sich zeigen, dass der Neue Mensch nichts ist, als eine horrend kostspielige
Mogelpackung mit unbekanntem Inhalt.
Zukünfte
Wer ehrlich ist, muss bekennen:
auf die Fragen nach dem Neuen Menschen gibt es keine verbindlichen Antworten.
Zu suchen wären sie in der Zukunft, dem Land der Phantasten, wie Immanuel
Kant es nennt. Anders gesagt: in einem möglichen Cluster von Teilzukünften.
Der Blick in die Zukunft
war schon immer ein besonderes Faszinosum. Die Araber versuchten im 6.
Jahrhundert die Zukunft maschinell zu simulieren. Sie bedienten sich dazu
einer hochkomplizierten Buchstabenkombinatorik [2]. Auch der begnadete
Raimundus Lullus, der ab 1275 eine logische Maschine entwickelte, ein Kunstwerk
der Kombinatorik, wagte sich in seinen Artes Memoriae an
den Entwurf von "Zukunftsmaschinen". Ihre prädiktiven Fähigkeiten
blieben fragwürdig.
Die großen Zukunftsschauen
der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts wie etwa jene von Hermann Kahn und
seinem Hudson Institute erwiesen sich am Ende als blamabel: In den Prognose
waren die Teilung Deutschlands und der Fortbestand eines starken kommunistischen
Ostblocks unverrückbare Größen. Die dramatischen Ereignisse
an der Wende zu den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatte keines der futurologischen
Instrumentarien zu fassen vermocht.
Die Prognostizierbarkeit
von Zukunft durch eine lineare Verlängerung der Gegenwart in das noch
Kommende erweist sich als Fiktion. Zukunft ist längst zu einem "Medium
der Unwahrscheinlichkeit" geworden, bestenfalls zum Narrenschiff fanatisierter
Utopisten. Skeptiker warnen davor, die Zukunft zu überladen. Lucian
Hölscher konstatiert: "Die Zukunft ist selbst zur knappen Ressource
geworden ... Denn auch die Zukunft ist endlich." [3] Und die Ressource
Zukunft schwindet automatisch, wenn die Mehrheit einer Gesellschaft zu
den Älteren zählt. Damit wird die jahrhunderte alte Illusion
von der Unbegrenztheit der Zukunft liquidiert.
Zudem: die mit der Entwicklung
von Systemen wachsende Komplexität, setzt allen exponentiellen und
hyper-exponentiellen Fantasien eine Grenze. Die Zukunft ist überkomplex
und wird daher weder verstehbar noch prognostizierbar. Jens Reich spricht
in diesem Zusammenhang von einem Bedarf an "Neg-Komplexität [4].
Die Vorsichtigeren erkennen,
dass es immer gefährlicher wird, sich ständig neue, noch fortschrittlichere
Zukünfte zusammenzuphantasieren. Denn die Zukünfte schlagen zurück
in die Gegenwart. Sie engen letztlich die Handlungsspielräume und
die Kreativität im Heute ein. Schon 1793 schrieb Herder: "Die Gegenwart
ist schwanger von der Zukunft ..." und niemand weiß, möchte
man hinzufügen, was diese Niederkunft bringen wird.
Wissenschaftliche Prognosen
erweisen sich bestenfalls als Spiele mit Möglichkeiten.
So starren wir in die Zukunft
in einer Art unheimlicher Aufbruchsstimmung zwischen "Hope and Hype", einer
Fluktuation zwischen extremen Fortschrittserwartungen und drohenden Weltuntergangsängsten.
Sprünge im Menschenbild
Kurzum: ist die Befassung
mit dem Menschen der Zukunft nichts anderes als zeitvergeudendes Glasperlenspiel?
Ich denke nicht. Denn der
Mensch ist das einzige Lebewesen, das nicht sein will, wie es ist (Peter
Gross [5]). Theologen wie Karl Rahner formulierten schon vor Jahrzehnten
die Bestimmung des Menschen zur Selbstgestaltung als zur Conditio humana
gehörig: "Er muss der operable Mensch sein wollen, auch wenn Ausmaß
und gerechte Weise dieser Selbstmanipulation noch weithin dunkel sind ...
die Zukunft der Selbstmanipulation des Menschen hat schon begonnen." [6]
Damit lässt die Theologie die Mahnungen ihrer frühen Kirchenlehrer
weit hinter sich, wie etwa Augustinus, wenn er sagt: "Hände weg von
dir selbst. Suche, dich selbst zu schaffen, und du wirst eine Ruine schaffen."
[7]
Es ist nicht zu übersehen:
Unser Menschenbild bekommt Sprünge und Risse. Es droht zu zerfallen.
Die Angewiesenheit auf ein kommendes Menschenbild erscheint unabwendbar.
Wir können nicht anders. Wir müssen den Menschen der Zukunft
ins Visier nehmen. Denn er ist längst in unsere Gegenwart getreten
und beginnt, sich übermächtig in Szene zu setzen.
Der lupenreine Fuß
oder "dirty medicine"
In VOGUE erschien im März
2003 in der Sektion "Schönheit – Gesundheit & Fitness" eine Story
mit dem Titel "Der lupenreine Fuß" (the flawless foot), basierend
auf Interviews mit New Yorker Fußspezialisten. Deren chirurgisches
Angebot umfasste auch die operative Umformung der Füße von Frauen,
denen ermöglicht werden sollte, Designerschuhe zu tragen, einfach
um darin gut auszusehen. Solche Schuhe, erklärte ein Fußspezialist,
benötigen "Designer-Füße". Bis vor kurzem hätten ihn
Patientinnen aufgesucht, um von schmerzhaften Fußdeformitäten
befreit zu werden. Jetzt kämen sie in die Sprechstunde, zögen
ein paar heiße Stilettos aus der Tasche und sagten: "Die will ich
tragen!"
"Ich war es leid", berichtete
eine andere Frau, "meine Zehen im Sand eingraben zu müssen, wenn ich
zum Strand ging. Ich empfand es als erniedrigend". Nach operativer Kürzung
einige Zehen bekannte sie erleichtert: "It changed my life".
Als "dirty medicine" bezeichnet
Arthur W Franck von der Universität Calgary diese Art "neo-liberaler"
Medizin. [8]
Styling, Piercing, Tattooing,
Bodybuilding, Doping, Lifting, vergrößern, verkleinern, absaugen,
straffen. Vierzig Prozent der Britinnen sind bereit zum "Body Shopping".
Auch Männer entwickeln zunehmend ein kosmetisches und "prothetisches
Bewusstsein".
Bei all dem herrscht eine
auffallende Polarität zwischen Körpervergessenheit und
Körperversessenheit.
Körpervergessenheit
beispielsweise durch Raubbau in Beruf, Sport, Freizeit oder durch Instrumentalisierung
frühen menschlichen Lebens zu Zwecken der Forschung. Körperversessenheit,
reichend über Körperkult, Beauty- und Wellnesswelle und Schönheitschirurgie
bis zur gentechnischen Optimierung. Allein für den Beauty- und Wellness-Bereich
werden in Deutschland jährlich zweistellige Milliardenbeträge
ausgegeben. [9]
Bis zu 600 000 kosmetische
Operationen werden jährlich in Deutschland durchgeführt. Tendenz:
steigend [10]. Hinzu kommen 400 000 kleine "Lunchtime-Eingriffe" in der
Mittagspause, wie etwa das Aufspritzen der Lippen. 30 000 bis 50 000 Deutsche
werden pro Jahr mit Botox-Injektionen zur Faltenglättung behandelt,
in den USA 2,8 Millionen. Von dort schwappt die Welle der Botox-Partys
herüber, auf denen sich Freundinnen im Wohnzimmer bei Sekt und Fingerfood
zu Sonderpreisen Stiche mit dem stärksten Nervengift der Natur setzen
lassen. Der Deal ist klar: statt Fältchen gefrorene Mimik.
Offensichtlich gebiert die
Leere im Zentrum die Prächtigkeit der Peripherie. Die Versuchung,
Probleme in der Tiefe an der Oberfläche zu lösen, scheint unwiderstehlich.
Der Leib, körperliche
Präsentation des Ichs, gerät außer Kontrolle. Das Bild
vom eigenen Körper verzerrt sich beim Vergleich mit den gewaltsam
in Szene gesetzten Körperidealen der Gesellschaft. Superdünne
Models oder Schauspielerinnen vom Typ Ally McBeal (Calista Flockhart) prägen
das weibliche Körperideal – in einer Gesellschaft, die ständig
übergewichtiger wird. Hier haben schwere Körperschemastörungen,
die in Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie einmünden, eine
ihrer Wurzeln. Rund 700 000 Menschen, vor allem Frauen, zunehmend aber
auch Männer, leiden in Deutschland an diesen lebensbedrohlichen Krankheitsbildern
mit schlechter Prognose.
Für die prägende
Wirkung gesellschaftlicher Zielvorstellung auf das eigene Körpererleben
gibt es zahlreiche Hinweise. In der früheren DDR zum Beispiel kamen
Ess-Störungen erst mit der Wiedervereinigung auf, also mit dem Einzug
des Kapitalismus.
Ein extremes Beispiel kulturell-ästhetischer
Indoktrination ist von den Fidschi-Inseln bekannt. Dort ist die Zahl bulimischer
Frauen seit 1995 rasant angestiegen, nachdem ein US-amerikanischer Fernsehkanal
auf Sendung ging. Binnen drei Jahren waren 15 Prozent der Mädchen
bulimisch. Das Phänomen findet seine Erklärung im Export von
Körperhass durch Bilder, die eine Pseudo-Ästhetik aufbauen, gegen
die Menschen, hier insbesondere Frauen, sich nicht zur Wehr setzen können.
Im Zuge eines übersteigerten
Körperkults greifen Dysmorphophobien, d.h. die krankhafte Unzufriedenheit
mit dem eigenen Körper in epidemischem Ausmaß um sich. Meist
betrifft das massiv verzerrte Körperbild das Gesicht, bei Frauen auch
Brüste und Beine, bei Männern Körpergröße oder
Genitalien. Dieser sog. Thersites-Komplex – Thersites soll der hässlichste
Grieche gewesen sein – führt die Patienten immer wieder zum plastischen
Chirurgen. Der Körper gerät zur ewigen Baustelle ohne Richtfest,
Zutritt für Kinder und Jugendliche nicht mehr verboten.
Selbst die US-Army bietet
ihren Angehörigen das ganze Repertoire der Schönheitschirurgie
als Belohnung für die Strapazen in Afghanistan oder im Irak kostenlos
an: zwischen 2000 und 2003 alleine 496 Brustvergrößerungen.
Allerdings, räumte eine Armeesprecherin ein, ein gelungener kosmetischer
Eingriff sei zwar ein schöner Nebeneffekt für eine Soldatin.
Das Hauptziel aber sei, den eigenen Operateuren kontinuierliche Übungsmöglichkeiten
zu bieten für den Ernstfall rekonstruktiver Eingriffe nach entstellenden
Verwundungen.
Die Neuerfindung des Körpers
– das Verschwinden des Leibes
Adorno und Horkheimer [11]
haben das "Interesse am Körper" als "todbringend" bezeichnet. Der
Umgang des modernen Menschen mit seinem Körper erschien ihnen als
gestört, denn er gehe mit seinen Körperteilen um, als wären
sie bereits Prothesen.
Die Transplantationsmedizin
ist das Kulminationsfeld aller Konflikte, die aus dem Versuch resultiert,
eine restitutio ad integrum kranker Körper durch Desintegration intakter
Körper zu erzwingen. Nirgendwo wird deutlicher, dass Ausübung
von Macht, wie Canetti schreibt, stets Macht über Fleisch ist.
Transplantationsmedizin ist
Extremmedizin. In ihr wird eine elementar neue Dimension eröffnet:
Heilung oder Linderung sind im Körper eines Anderen lokalisiert [12].
Ohne Änderung des Menschenbildes
und des Körper-Leib-Verständnisses ist ein reibungsloser Vollzug
des Systems nicht machbar [13]. Neubestimmungen sind unerlässlich.
Körperkonzepte sind zu entwerfen, die das Tabuisierte zulassen. Das
körperliche Dasein muss umdefiniert werden in eine bloße Ansammlung
von Organen, in der das Ich für eine begrenzte Zeit seinen Platz findet.
Die Vorstellung von der Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit des Körpers
und seiner Organe ist aufzugeben. Neue Verfügungsrechte sind auszuhandeln,
denn die körperlichen Grenzverletzungen zwischen Spender und Empfänger
bedürfen der Legalisierung.
In der Kunst hat der Trend
zur Körperzerstückelung im Übrigen bereits Anfang des vorigen
Jahrhunderts eingesetzt. Erstmals traten in der Malerei Aufteilungen, Umgestaltung
und Zerteilungen des Körpers auf. Einprägsam zeigen dies die
zerstückelten Gesichter und Körper in den 1907 gemalten Demoiselles
d'Avignon von Picasso.
Es war schon früh eine
Erkenntnis, wie die Arbeiten von Castelnuovo-Tedesco [14] belegen, dass
Organtransplantation durch Identitätsdiffusion zwischen Empfänger
und Spender zur Erschütterung des Selbstkonzeptes führen kann.
Im Extremfall resultiert ein signifikanter Bruch des eigenen Körperbildes.
Das neue Organ als Hoffnungsträger
von Heilung oder Rettung erweist sich gelegentlich als doppelbödige
Gabe. Es etabliert verloren gegangene Funktionen neu und offenbart sich
zugleich immunologisch als Feind. Der Heilungsversuch wird zur feindlichen
Übernahme.
Die durch die Transplantation
ermöglichte Rettung des Ichs, kann so gleichzeitig in seine Gefährdung
umschlagen [15]. Die Inkorporation des fremden Körpers kann sich scheinbar
folgenlos vollziehen oder wird als Angriff auf die Personalität von
außen wahrgenommen, als das Eindringen des Anderen [16].
Die Trivialisierung und Profanisierung
des Systems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten [17]. Diese
beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe. Das Diktat der Anspruchserfüllung
ebnet die Wege zur Ökonomisierung, in der nur noch Marktmechanismen
zählen. Folgerichtig propagieren deutsche Wirtschaftswissenschaftler
wie Peter Oberender monetäre Anreize auf einem Markt für Organtransplantate
als Lösung des Problems "Organmangel" und behaupten, dass alle Beteiligten
dabei gewinnen [18]. Philosophen wie Hartmut Kliemt stellen die Frage:
"Warum darf ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" [19] Der amerikanische
Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker macht sich für einen
regulierten Organhandel, auch in der westlichen Welt, stark. Deutsche Gesundheitsökonomen
diskutieren ernsthaft "Spotmärkte" für Organe.
Der makabre Begriff des "marginalen
Spenders", dessen Organe nicht mehr Topqualität besitzen müssen,
weil sie für einen "marginalen" Empfänger gedacht sind kommt
ins Spiel und weckt Assoziation an den "marginalen Menschen". Auch die
drogenabhängige Spenderin, die mehrere Empfänger mit Tollwut
infizierte, wurde in diese Kategorie eingestuft.
Über der Transplantationsmedizin
liegt das Odium der Systemtragik. Was immer sie verspricht, kann sie nicht
umfassend halten. Die Illusion der "leeren Warteliste" wird immer eine
Illusion bleiben. Das Wachstum des Systems verstärkt seine Wachstumskrise.
Transplantationsmedizin verdrängt die Endlichkeit des Menschen, doch
sie kann nicht leugnen, dass Endlichkeit eine anthropologische Konstante
ist. In der medizinischen Ethik liefert aber gerade die Einsicht in die
existentiale Endlichkeit des Menschen ein hilfreiches Korrektiv zur bisweilen
absolut gesetzten ärztlichen Pflicht, zu helfen und zu heilen [20].
Der Medizinhistoriker Thomas
Schlich [21] hat präzise deutlich gemacht, welche bisher sicher geglaubten
Grenzziehungen durch die Transplantationsmedizin infrage gestellt werden.
Es sind Grenzüberschreitungen, die exemplarisch viele sog. Zukunftstechnologien
kennzeichnen. Es geht um die Grenzen:
-
zwischen Leben und Tod,
-
Fortschritt und Hybris
-
Sterbenlassen und Töten
-
um die Grenzen der biologischen
Abgeschlossenheit des Körpers
Xenotransplantation
Eine weitere Grenzüberschreitung
ist Gegenstand intensiver Spekulationen und Forschungen: die Xenotransplantation
als Durchbrechung der Barriere zwischen Tier und Mensch. Bei einem Patienten
in den USA, dem vor einigen Jahren eine Pavianleber übertragen worden
waren, wurden Pavianzellen in seinem Herzen, in der Haut und anderen Organen
nachgewiesen [22]. Der Mensch als Chimäre? Über das Infektionsrisiko,
das pandemische Ausmaße annehmen könnte, gibt es nur unsichere
Abschätzungen. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Menschen mit Tierorganen
wirft ganz neue ethische Fragen auf: Menschen, die mit einem tierischen
Organ weiterleben, werden vermutlich mit Reaktionen wie Distanz, Ablehnung,
oder Ausgrenzung rechnen müssen [23]. Fragen einer gerechten Allokation
tun sich auf: Zwei Klassen von Empfängern? Für die einen menschliche
Organe, für die anderen tierische? Und wenn tierische Organe, wofür
manches spricht, eine kürzere "Halbwertszeit" aufweisen, werden deren
Empfänger über kurz oder lang wieder auf den Wartelisten auftauchen,
d.h. diese verlängern statt verkürzen?
Kopfverpflanzung
Makabre Krönung transplantationschirugischer
Utopien sind die Phantasien des amerikanischen Hirnchirurgen Dr. Robert
White, Mitglied der bioethischen Kommission des Vatikans. White träumt
von der Verpflanzung menschlicher Köpfe auf den abgetrennten Körper
von Hirntoten. Bei Affen hat er bereits ganze Köpfe bzw. Körper
transplantiert [24]. Wer genau überlebt da? Ein hirntoter Körper
mit aufgepfropftem Bewusstsein oder ein Gehirn, durch den Körper eines
Hirntoten in Betrieb gehalten? White verkündet mit sakral-pathetischen
Worten: "Und ich sage: Fürchtete euch nicht, ihr werdet einen neuen
Körper von mir erhalten". [25]
Menschen-Produktion (Reproduktion)
Die Wissenschaft von der
Erzeugung des Menschen, die Reproduktionsmedizin entwirft ihre eigenen
Utopien. Junge Männer und Frauen legen Reproduktionsbanken voll tiefgefrorener
Spermien und Eizellen an. Wer über ein solides Konto bei der Reprobank
verfügt, kann sich sterilisieren lassen. Seine Fortpflanzungsfähigkeit
ist für Jahrzehnte gesichert. Die Separierung von Sexualität
und Fortpflanzung ist besiegelt.
Noch weiter könnten
in etwa 15 Jahren die Lebensplanungsspielräume zumindest für
Frauen werden: Die "Karrierepille" hemmt den Eisprung zwischen Pubertät
und Anfang 30 und verschiebt die Wechseljahre um Jahrzehnte (Roger Gosden,
Reproduktionsbiologe an der Montrealer Universität). Nach absolvierter
Karriere winkt spätes Mutterglück – vorausgesetzt, es gelingt
gleichzeitig die Alterung des Körpers zu verzögern und das Risiko
für Gendefekte zu bremsen.
Die Realität sieht anders
aus. Die große Mehrheit der neunundzwanzig- bis vierunddreißigjährigen
Frauen hierzulande wünscht sich mindestens zwei Kinder. Am Ende aber
bleibt jede dritte Frau kinderlos, bei Akademikerinnen sind es mehr als
vierzig Prozent. Die Differenz zwischen Wunsch und Wirklichkeit bedeutet,
dass jährlich mehr als zweihunderttausend erwünschte Babys
nicht
zur Welt kommen. Das enge biologische Fenster der Fortpflanzungsfähigkeit
stellt Frauen dann häufig überraschend schnell vor die Alternative,
was zu begraben ist: Kinderwunsch oder berufliche Träume.
Aus einem frauenärztlichen
Randgebiet hat sich die Fortpflanzungsmedizin zu einer sich verselbständigenden
gigantischen Reproduktionsmaschinerie entwickelt. Weltweit verdanken jährlich
mehrere 10 000 Neugeborene reproduktionsmedizinischen Maßnahmen ihr
Leben.
Die Techniken der Fortpflanzungsmedizin
beinhalten die assistierte Erzeugung des Menschen ebenso wie seine Verhinderung
oder seine Tötung. Töten hat begonnen, als therapeutischer Akt
in die Geburtshilfe einzuziehen. Die Reproduktionsmedizin beschafft das
Wunschkind, gleichgültig ob dahinter das Leiden an der tatsächlichen
oder vermeintlichen Unfruchtbarkeit oder neurotisch-verbissene Besitzansprüche
stehen, und sie selektioniert mit gleicher Routine das potenzielle Horrorkind.
Bei der Präimplantationsdiagnostik
(PID) wird mit den Keimzellen genetisch belasteter, jedoch fruchtbarer
Paare eine Reagenzglasbefruchtung durchgeführt. Ziel ist es, nur genetisch
"gesunde" Embryonen in den mütterlichen Uterus einzusetzen. Embryonen,
die den gesuchten genetischen Defekt aufweisen, werden "verworfen". Willkommene
Embryonen "geerntet", die anderen sind reproduktives Fallobst, das dem
Kontingent der "Forschungsembryonen" zugewiesen wird oder als "souls on
ice", als "Gefrierfachwaisen" auf unbestimmte Zeit in Tiefkühltruhen
gelagert.
PID (hierzulande verboten)
wird verstärkt zur Selektion von "qualitativ hochwertigen" Embryonen
und zur Geschlechtsauswahl eingesetzt. Es ist dokumentiert, dass auf diese
Weise erzeugte, vollkommen gesunde Kinder, die dennoch das "falsche" Geschlecht
aufwiesen, nach der Geburt abgetrieben wurden, um die Harmonie des "Geschwisterdesigns"
nicht zu trüben. [26]
Am in der Retorte gezeugten
Embryo stellt sich die unausweichliche Frage: Ist das ein Mensch? [27]
Ist es jener Blick auf den Menschen, von dem Primo Levi in seinem autobiografischen
Auschwitz-Bericht sagt, er sei "nicht von der Art, wie ein Mensch einen
anderen Menschen anschaut"? Ist dieser Zellverbund nur ein "Zellhaufen",
aus dem "noch nichts Menschliches geworden" ist (Michael West, Advanced
Cell Technology in Worcester, Mass.)?
Austin Smith, Inhaber des
umstrittenen Patents EP 0695351 ("Edinburgh-Patent"), das die Manipulation
an menschlichen Stammzellen sichern sollte, artikuliert seine Sicht früher
menschlicher Embryonen unmissverständlich: "... es ist eindeutig nicht
dasselbe wie du und ich. Es hat keine Nase, kein Herz, es kann nicht fühlen.
Niemand weiß, ob es sich je zu menschlichem Leben entwickeln kann.
Es ist nicht nichts. Aber es nicht vergleichbar mit dem, was wir unter
menschlichem Leben verstehen." Die metaphorische Verbiegung erfährt
noch eine weitere Steigerung, wenn der Embryo nur noch als "symbol of future
human life" [28] als "Symbol künftigen menschlichen Lebens bezeichnet
wird.
Die In-vitro-Fertilisation,
ursprünglich als Hilfe bei Sterilität durch verwachsene Eileiter
entwickelt, hat sich in kürzester Zeit von ihrem originären Zweck
entfernt. Als großer Schritt in Richtung auf eine legitime Freiheit
der Frau, wurde sie gepriesen, als Befreiung der Frau und nebenbei als
Garant für eine "bessere medizinische Wartung des Fötus", als
Überwindung der Poesie einer Schwangerschaft "wie zu Großmutters"
Zeiten (Jean-Louis Touraine, Medizinprofessor, Das Kind außerhalb
der Fruchtblase). Die scheinbar neu gestärkte Autonomie der Frau
wird aber in Wirklichkeit schrittweise unterlaufen und schließlich
pervertiert: Die Frau als Erfüllungsgehilfin missbraucht für
das "soziokulturelle Projekt" des fehlerfreien Kindes nach Maß (Sigrid
Graumann).
Die nostalgische Idee, Fortpflanzung
diene zuerst der Fortpflanzung, wird schrittweise entsorgt. Am Ende von
Selektion und verbrauchender Embryonenforschung pflanzt sich nichts mehr
fort. Das Ganze mündet aus in den verhinderten Menschen oder in Bereicherung
von Grundlagenforschung.
Mutterlose Gesellschaft?
Im Science-Fiction-Klassiker
"Matrix" schwimmt Homo Sapiens in der chemischen Lebensbrühe einer
High-Tech-Gebärmutter. Die Maschine kontrolliert, unabhängig
von der Mutter als Gebärende, die Technologie der Aufzucht.
Das
Projekt des künstlichen Uterus (artificial womb) ist bereits ins Visier
reproduktionsmedizinischer Experimentatoren geraten. Der Ansatz erscheint
zunächst ethisch vertretbar: die Rettung von Föten, deren Mutter
sich beispielsweise in einer intensivmedizinischen Extremsituation befindet.
In Tokio forscht ein Team des Gynäkologen Yosinori Kuwabara seit zehn
Jahren an einem künstlichen Uterus – nicht ohne Erfolg. In einem Fruchtwassercocktail
schwimmen fetale Lämmer, angeschlossen an eine künstliche Plazenta.
Der Rekord: drei Wochen Überleben im neugeschaffenen fetalen Universum.
Die Vision vom künstlichen Uterus ist nicht ohne Reiz: von der Last
der Schwangerschaft freigestellte berufstätige Frauen, durchgängiger
Zugriff auf den Embryo ohne die biologische Barriere der Mutter, Ersatz
für den Mutterersatz Leihmutter. Matrix statt Mater? Aufbruch in die
mutterlose Gesellschaft?
Das Projekt des künstlichen
Uterus, also das technische Outsourcing der Schwangerschaft, könnte
in absehbarer Zeit eine völlig neue Bedeutung erhalten. Vor dem Hintergrund
einer überalterten Welt und einer sich abzeichnenden Bevölkerungsimplosion,
so der amerikanische Soziologie Stanley Kurtz (Hoover Institution, Universität
Stanford), könnte nicht die Erzeugung von Supermenschen bald die wichtigste
Herausforderung der Zukunft sein, "... sondern die Entwicklung einer künstlichen
Gebärmutter." [29]
Last Exit: Der Mensch
der Zukunft
Der Drang des Menschen zur
Selbstüberschreitung gewinnt die Dimension einer Naturgewalt, ein
Tsunami der Utopien. Es geht um radikale Attacken auf den Leib des Menschen,
seine Identität, Gattungszugehörigkeit.
Die Heideggersche in die
Welt-Geworfenheit findet ihre Ablösung in den Entwürfen aus den
Werkstätten der Biotechnologen, Computerexperten und Hirnforscher.
Menschliche Freiheit muss deterministischen Setzungen weichen. Es naht
der Augenblick, von dem ab die neuen Maschinen nicht mehr abzuschalten
sind, weil sie Bewusstsein erlangt haben, eigene Ziele verfolgen und sogar
Würde besitzen. Konsequenterweise beantwortet die Theologin Anne Foerster
die Frage: "Müssen wir sie (die humanoiden Roboter) vielleicht sogar
taufen?" mit "Ja".
Die ins Extrem getriebene
Computerisierung wird, so die These philosophischer Vordenker des Computerzeitalters
wie Luciano Floridi in Oxford zwangsläufig zu einer neuen Ethik führen:
zur Artificial Morality, einer künstlichen Moral werden [30].
Maschinen, die sich interaktiv, adaptiv und autonom verhalten können
und über alternative Handlungsweisen verfügen, sollen als moralisch
zurechnungsfähig eingestuft werden.
Als schwacher Trost nimmt
sich da die Mutmaßung des Hirnforschers Gerhard Roth aus: "Sobald
diese Maschinen fähig sind, über sich selbst nachzudenken", bekommen
wir unweigerlich all die Schwierigkeiten, die wir auch mit unseren Mitmenschen
haben. Einschließlich der zehn Prozent Neurotiker und zwei Prozent
Psychotiker."
Angriff auf das Unbegreifliche
Die Attacke auf das "letzte
Naturreservat" (Stanislaw Lem), das Gehirn des Menschen, ist angeblasen.
Zu den Molekularbiologen
gesellt sich nun eine Riege von Hirnforschern, für die der freie Wille
nicht mehr ist als "eine nützliche Illusion" (Gerhard Roth) und deren
Menschenbild "... den Himmel leer fegt von lenkenden Göttern ..."
(Wolf Singer [31]).
Der schwedische Forscher
Gerald Q. Maguire sieht in seinen cyberdelischen Visionen die Zukunft des
Menschen in Hirnimplantaten mit Schnittstellen zu virtuellen Räumen.
Das "Uploaden" unseres Selbst in das Internet ermöglicht körperlose
Telepräsenz und wird zum Garanten einer neuen Unsterblichkeit. Durch
Herunterladen, Kopieren und "Verwerten" dieses Selbst wird die Entwicklung
von "Parallelexistenzen" vorstellbar, bis schließlich, wie in der
digitalen Fotografie, ein Original nicht mehr auszumachen ist. Der Cyberspace
als Ort verbundloser multipler Persönlichkeiten? Was den Menschen
dann erwartet, sind quasi vernetzte Individuen in Paralleluniversen, oder
in der Diktion der Zukunft der digitale Mensch als Multividuum im
Multiversum.
Methusalem-Komplott?
Der tatsächlich größten
Herausforderung des 21. Jahrhunderts, dem demographischen Wandel, weicht
das Lager der Utopisten in auffallender Weise allerdings eher aus. Erweisen
sich die Prognosen der Demographen als richtig, wird die Erde noch in diesem
Jahrhundert "wie ein riesiges Altersheim durchs Weltall kreisen." [32]
An Verlegenheitslösungen,
wie Pflegerobotern, die zuverlässig, stets guter Laune und ohne Aggressionen
gegen ihre Objekte, die dann hoffnungslos überforderte Altenpflege
entlasten sollen (Care-O-Bot) wird gearbeitet [33]. Natürlich gibt
es einflussreiche Strömungen gegen Altern und Sterben wie z.B. die
American Academy of Anti-Aging Medicine, die der "Todeskultur der Gerontologen"
den Kampf angesagt hat [34]. Ein Europäisches Kryonik-Projekt zur
"Lebensverlängerung" befindet sich in Planung [35] und es existiert
die die Immortalitäts-Technosophie des Transhumanismus [36]. Schon
1978 dachte der theoretische Physiker Freeman Dyson über eine gentechnische
Manipulation des subjektiven Zeitempfindens nach, die eine quasi intrinsische
Unsterblichkeit simulieren könnte. Was bisher erreicht wurde, ist
nicht mehr als der Versuch die Zeichen des Alters auszuradieren, nicht
aber das Altern selbst [37].
Doch Konzepte, wie Medizin
und Gesellschaft den angemessenen Wünschen und Bedürfnissen des
extrem heterogenen Kollektivs der alten Menschen, das körperlich und
psychisch intakte und kreative Personen ebenso umfasst wie Alzheimerpatienten
in fortgeschrittenen Stadien, gerecht werden könnten sind nicht in
Sicht. Zumindest nicht als systemischer und realistischer Entwurf. Nicht
um das Bild eines Neuen Menschen wäre hier zu ringen, sondern um ein
neues Bild von menschenwürdigem Altwerden und Altsein.
Wir
müssen doch nicht alles machen, was wir
Können
Nein, wir müssen es
nicht
Aber?
Aber wir werden es machen.
Und weshalb?
Weil wir nicht ertragen,
wenn der kleinste
Zweifel bleibt, ob wir es
wirklich können.
Hans Blumenberg |
Ausblick
Verheißungen
wurzeln in der Sehnsucht nach dem vollkommen Neuen und der Überwindung
des Alten, Utopien in der Hybris des Menschen. Aber wir vertrauen
unseren Utopien mehr als unserer Vernunft. Ein ewiges Weiterleben unbestimmter
Natur verorten wir in ihnen. Denn als nicht seiend können wir uns
nicht denken und uns nicht akzeptieren wie wir sind. Dies liegt im Wesen
des Menschen.
Also entwirft er sich ständig
neu und verzweifelt, weil seine Entwürfe unvollständig bleiben.
Er möchte sich häuten und in einem neuen Körper erstrahlen.
Er will seinen Körper perfektionieren und erlaubt gleichzeitig, dass
die Medizin diesen verstümmelt und zerstückelt. Er nimmt hin,
dass seine Teile mehr wert zu sein scheinen als das Ganze. Die Auflösung
seines Ichs in der Grenzenlosigkeit digitaler Welten erscheint im erträglicher
als sein jetziges Los.
Der Mensch schließt
faustische Pakte mit den Wissenschaften, aber die Erlösung bleibt
aus und das mephistophelische Prinzip der Umkehrung des Bösen zum
Guten gerät außer Kraft. So wie die Welt zum unüberschaubaren,
fragmentierten Ort wird, so erlebt auch er sich zunehmend als fragmentiert.
Auf der Jagd nach dem Ich blickt er in ein dunkles Kaleidoskop ständig
wechselnder Wünsche, Ängste, Sehnsüchte und Selbstsüchte.
Nichts, was ihn verlässlich zusammenhält, das ihm eine Mitte
zeigt, die der Urgrund ist.
Anders gesagt: Nach dem Verlust
des Gottvertrauens scheint dem Menschen auch seine letzte Bastion, das
Weltvertrauen, abhanden gekommen zu sein [38].
Der Urgrund seiner Verzweiflung
ist die Furcht, dass nach diesem Leben kein anderes kommt. Also muss dieses
Leben alles enthalten. Doch diese Überfrachtung ist unersättlich.
Immer wieder läuft sie ins Leere. Nach jedem beseitigten Leid tritt
ein anderes Leid auf den Plan. Er ahnt, wie bei Albert Camus zu lesen [39]:
"Auch bei seiner größten Anstrengung kann der Mensch sich nur
vornehmen, den Schmerz der Welt mengenmäßig zu vermindern. Aber
Leiden und Ungerechtigkeit werden bleiben und, wie begrenzt auch immer,
nie aufhören." So wird der Mensch nicht lebenssatt und nicht tränenleer.
In den Duineser Elegien schreibt
Rilke:
"Uns überfüllts.
Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und
zerfallen selbst." |
Und er erkennt:
"... Wie das ständige
Zuwenig umspringt in das leere Zuviel." [40] |
Noch nie entwarf die Menschheit
eine größere Zahl an möglichen Utopien und denkbaren Zukünften.
Der sich selbst überschreitende Mensch der Zukunft in seiner heutigen
Projektion als last exit der Menschheit ist freilich die untauglichste
aller Utopien und Zukünfte.
Aber auch noch nie besaß
der Mensch größere Möglichkeiten, sich der Uferlosigkeit
utopischer Alternativen zu sich selbst zu widersetzen. Dabei geht es um
nichts weniger als seine Freiheit.
Frei ist erst,
wer keinen Alternativen
sich
beugen müsste, und
im Bestehenden
ist es eine Spur
von Freiheit, ihnen sich
zu
verweigern.
Theodor W. Adorno
[41] |
Oscar Wilde war der Ansicht:
"Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient
keinen Blick." [42] Dem ist entgegenzusetzen: Eine Weltkarte, auf der die
Länder der Unterdrückung und Ungerechtigkeit, der Menschenverachtung
und der Folter, der Ausbeutung und des Terrors den weitesten Teil des Terrains
einnehmen, bedarf alles andere als der riesiger Inseln utopischer Phantasmen
und Zukünfte. So lange täglich dreißigtausend Kinder verhungern,
bedarf es nicht immer neuer Entwürfe des Bildes vom Menschen, sondern
der Erneuerung vom Bild des Mitmenschen – nicht nur in der Medizin
– als eines Menschen, für den Menschen sich einsetzen und sich ihm
aussetzen.
Überzeugende Gründe
für die gentechnische "Optimierung des Menschen" lassen sich schwerlich
ausmachen. Sehr viele Gründe hingegen sprechen für eine Optimierung
der Lebenswelt jenes großen Teils der Menschheit, dem es durch
Unterdrückung, Ausbeutung und Verteilungsungerechtigkeiten verwehrt
ist, aus der jedem Menschen innewohnenden reichen Vielfalt seiner Möglichkeiten
zu schöpfen.
Es gibt keinen Grund hilflos
wie das Kaninchen auf die Schlange auf die utopischen Träume und Albträume
einer scheinbar unabwendbaren Zukunft zu starren.
In seinem Werk Inventing
the Future (Menschheit morgen [43]) schrieb der Physiknobelpreisträger
Dennis Gabor: "Die Zukunft kann nicht vorhergesagt werden, aber sie lässt
sich erfinden."
Sich an der Erfindung der
Zukunft zu beteiligen steht allen offen, nicht nur der Wissenschaft. Die
Voraussetzungen dafür sind eindeutig: Mitgefühl und Weisheit,
Mut und Demut und vor allem die Achtung des Menschen.
Literatur:
[1] Lewis, CS: Die Abschaffung
des Menschen. 5. Aufl. Freiburg. 2003. S. 62
[2] Za'iridscha-el-alám
genannt, zu Deutsch etwa "universelle Rundscheibe“.
[3] Hölscher, Lucian:
Die Entdeckung der Zukunft. UNIVERSITAS. 56. Jahrgang. Januar 2001. Nummer
655. S. 6.
[4] Reich, Jens: Der neue
Mensch ist doch der alte. Tagesspiegel. 18.08.2000.
[5] Gross, Peter: Nachwuchs
nach Wunsch: das genetische Christkind. Potsdamer Neueste Nachrichten.
23.09.2000
[6] Rahner K: Experiment
Mensch. Theologisches Über die Selbstmanipulation des Mensche. In:
Die Frage nach dem Menschen. Aufriss einer philosophischen Anthropologie.
Festschrift für Max Müller zum 60. Geburtstag. Freiburg/München
1966. S. 53
[7] zit. n. Kamphaus, F:
Der Neue Mensch. Nicht suchen, finden. Frankfurter Allgemeine Zeitung,
Nr. 276, 27. November 2002, S. 10
[8] Frank, Arthur W: Connecting
Body Parts: Technoluxe, Surgical shapings and Bioethics. Vital Politics
Conference. London School of Economics. September 2003
[9] Grönemeyer, Dietrich:
Die Gesundheitswirtschaft braucht schnellstens eine Wellnesskur: Wie wir
sie auf die Füße stellen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2004,
Nr. 280, S. 40
[10] Zahl der Schönheitsoperationen
in Deutschland gestiegen. Deutsches Ärzteblatt Online. 04.03.2005
[11] Adorno/Horkheimer "Das
Interesse am Körper", Dialektik der Aufklärung. Aufzeichnungen
und Entwürfe, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S.
265.
[12] Schneider, Ingrid: Ein
Markt für Organe? Die Debatte um ökonomische Anreize zur Organspende.
In: Oduncu FS, U. Schroth, W. Vossenkuhl (Hg.): Transplantation. Organgewinnung
und -allokation. Göttingen. 2003. S.189-208
[13] Geisler, Linus S: Organlebendspende.
Routine - Tabubrüche - Systemtragik Universitas, 59. Jahrgang,
Nr. 702, Dezember 2004, S. 1214-1225
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/art2004/200412universitas-organlebendspende.html
- Interner
[14] Castelnuevo-Tedesco,
P: Organ transplant, body image, psychosis. Psychoanal. Quarterly 1973;
42: 349-363
[15] Krüger-Fürhoff,
IM: Vernetzte Körper. Zur Poetik der Transplantation. In: Barkhoff
J, Böhme H, Riou J (Hg): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne.
Köln Weimar Wien. 2004
[16] Feuerstein, G: Das Transplantationssystem.
Dynamik, Konflikte und ethisch-moralische Grenzgänge. Weinheim und
München 1995
[17] Fox RC, JP Swazey: Spare
Parts. Organ Replacement in American Society. Oxford University Press,
New York, Oxford 1992
[18] Oberender O, Rudolf
T: Das belohnte Geschenk - Monetäre Anreize auf dem Markt für
Organtransplantate. Wirtschaftswissenschaftliches Diskussionspapier 12-03.
Universität Bayreuth. ISSN 1611-3837. Oktober 2003
[19] Kliemt, H: Warum kann
ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht? Vortrag zum Symposium "Ethik
der Lebendorganspende" am 11.9.2002. In: Akademie der Wissenschaften und
der Literatur Mainz. Medizinische Forschung. Band 14 (i.E.)
[20] Sitter-Liver, B: Gerechte
Organallokation. Ethisch-philosophische Überlegungen zur Verteilung
knapper medizinischer Güter in der Transplantationsmedizin. Studie
zuhanden des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Bern. Bern. 15. September
2003.
[21] Schlich, Thomas: Transplantation.
Geschichte, Medizin, Ethik der Organverpflanzung. München 1989
[22] Patient mit Leber eines
Pavians abermals operiert. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 20.01.1993
[23] Petermann TH, Sauter
A. TA-Monitoring "Xenotransplantation". Arbeitsbericht Nr. 64 des Büro
für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB)
Dezember, 1999 93-95
[24] White: "Ich hatte es
kreiert. Es gab dafür kein anderes Beispiel in der Biologie. Nicht
einmal Gott hatte dieses Tier geschaffen."
[25] Jungblut, Christian:
Meinen Kopf auf deinen Hals. - Die neuen Pläne des Dr. Frankenstein
alias Robert White. Stuttgart, Leipzig 2001.
[26] Lenzen-Schulte, Martina:
Wunschkind.de. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 25.02.2005. Nr. 47, S. 37.
[27] Geisler, Linus S.: Ist
das ein Mensch? In der Fortpflanzungsmedizin kulminieren nahezu alle ethischen
Probleme der Biotechnologie. Frankfurter Rundschau, 09.09.2000, Nr. 210,
S. 9
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0009fr_mensch.html
- Interner
[28] ESHRE Task Force on
Ethics and Law. The moral status of pre-implantation embryo. Hum. Reprod.
16, 1046-1048, 2001.
[29] Kurtz, St: Demographie
und der Krieg der Kulturen. Frankfurter Allgemeine Zeitung. 11.03.2005.
Nr. 59, S. 42
[30] Floridi, Luciano; Sanders,
Jeff: On the Morality of Artifcial Agents. Minds and Machines. 2004, 14.3,
pp. 349-379
[31] Singer, Wolf: Ein neues
Menschenbild? Gespräche über die Hirnforschung. Frankfurt/Main
2003.
[32] Birg, H.: Die demographische
Zeitenwende. München 2001
[33] Roboter: Die Zukunft
kommt später. FOCUS Magazin, 09.08.2004, Nr. 33
[34] Binstock, RH: The War
on Antiaging Medicine. The Gerontologist 43. 2003. S. 4-14
[35] Krempl, Stefan: Europäisches
Kryonik-Projekt zur "Lebensverlängerung" in Planung. Telepolis, 25.06.2001.
Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/konf/7962/1.html
- Externer
[36] Mania, Hubert: Die Immortalitäts-Technosophie
des Transhumanismus. Telepolis, 19.08.2001
Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/9341/1.html
- Externer
[37] Schirrmacher, Frank:
Das Methusalem-Komplott. München. 2004. S. 103.
[38] Geisler, Linus S.: Von
der Sehnsucht nach jenem Anderen In: Riess, Richard (Hg.): IN EINEM
WORT. Bekannte Autoren über Texte, die ihr Leben begleiten. Claudius
Verlag München 2004
[39] Camus, A: Der Mensch
in der Revolte. Reinbek. 1972. S. 245
[40] Rilke, RM: Duineser
Elegien. Leipzig. 1923
[41] Adorno, TW: ges. Werke.
Bd. 6:225.
[42] Wilde, Oscar: Der Sozialismus
und die Seele des Menschen. Aus dem Zuchthaus zu Reading. Ästhetisches
Manifest. Berlin 1924, S. 47
[43] Gabor, Dennis: Inventing
the Future. 1965
|
|
Linus S. Geisler: Der Mensch
der Zukunft - aus der Perspektive der Medizin |
Festvortrag anlässlich
der Verleihung der "Goldenen Eule" der "Sokratischen Gesellschaft". Freiburg
i. Br., 19. März 2005. |
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0503goldene_eule.html |
|