Prolog
Mir ist die ebenso traurige
wie absurde Aufgabe zugefallen - es wäre besser, von Pflicht zu sprechen
- die Aufzeichnungen meines verschollenen Lehrers in einen sinnvollen Zusammenhang
zu bringen, eine Edition daraus zu machen, wie der genaue Auftrag
lautet.
Man hat mich dazu bestimmt,
weil ich als sein ältester Schüler gelte, was zwar stimmt, wenn
man mein Verhältnis zu ihm nach der Zahl der Jahre bemisst. In Wirklichkeit
aber kann sich keiner seiner Schüler als ältester oder jüngster
bezeichnen, denn das Netz der Verflechtungen (kein guter Ausdruck,
wie ich meine) zwischen ihm und uns folgte nicht irgendeinem Zeitmaß.
Es war ein System von Beziehungen, das von einem verschwörerhaften
Zusammenhalt und zugleich von einer niemals überwundenen Distanz geprägt
war. In der Innenwelt des Professors - wir alle nannten ihn Professor,
obwohl einige von uns inzwischen selbst Professoren geworden waren - gab
es Bezirke, zu denen er keinem den Zutritt erlaubte, während er sonst
seine Gedanken und Empfindungen mit überraschender Offenherzigkeit
bloßlegen konnte.
Mein Auftrag war deshalb
absurd, weil er selbst seine Aufzeichnungen als Anmerkungen bezeichnet
hatte, die sich auf ein Buch von ihm bezogen, das niemand kannte, ja vielleicht
auch niemand jemals kennen lernen konnte, weil er uns alle bis zuletzt
im Unklaren ließ, ob das Werk schon abgeschlossen war oder überhaupt
nur in seinem Gehirn existierte. Sein Arbeitstitel, soviel wenigstens hatte
er uns einmal verraten, lautete Doppelblind - eine Reise nach Shambhala,
was uns - offen gesagt nicht sehr viel weiter brachte - sondern im Gegenteil:
die Mystifizierung seiner Person und seines Werkes nur verstärkte.
Natürlich forderte Shambhala unsere Neugierde heraus, denn
keiner von uns verband mit dem Wort eine konkrete Vorstellung. Unser Unwissen
und unsere Verwirrung nahmen aber um so mehr zu, je intensiver wir uns
bemühten, Shambhala für uns zu entdecken.
Auf der Spurensuche kam jeder
von uns zu einem anderen und sehr oft widersprüchlichen Ergebnis.
Für die einen war Shambhala ein Ort der Erleuchtung und des
Friedens in einer mythenversessenen asiatischen Region, die nur auf einem
Pilgerpfad von der Mongolei über die Wüste Gobi und die Pässe
des Himalaya zu erreichen ist - wenn überhaupt. Denn auf Landkarten
könne man Shambhala nicht finden, das hatte schon der Dalai Lama erklärt.
Vielleicht war Shambhala auch das verborgene Herz der Welt, der
Übergang vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Andere sahen in Shambhala
eher so etwas wie ein neues Paradigma der Wissenschaften, der Versuch,
ein durch Naturgesetze scheinbar verbarrikadiertes Denkgebäude des
Wissens transzendental zu überwinden. Manche argwöhnten, Shambhala
sei möglicherweise wie das Land Tlön eine reine Erfindung
einer Gruppe spleeniger Historiker, Philosophen und Geologen. Wieder andere
seiner Schüler sahen in Shambhala eine Fiktion, die jeder für
sich auslegen sollte, wie es ihm gefiel und wie er sie ertrug. Ich zählte
mich zu der letzteren Gruppe, nicht nur, weil ich in unserem Lehrer einen
geheimen Hang zu Fiktionen entdeckt zu haben glaubte, sondern weil er mich
auch auf eine Fährte gelockt hatte, die vielleicht gar keine war.
Auf der Rückseite eines
Blattes seiner Anmerkungen fand ich eine kurze Notiz mit Bleistift
geschrieben. Ich war mir, obwohl ich glaubte, seine Handschrift recht gut
zu kennen, nicht sicher, ob sie von ihm stammte. Es war seine Schrift und
auch nicht. Sie wirkte wie eine gelungene Fälschung, aber vielleicht
handelte es sich auch um eine Notiz, hingeworfen in einem gewissen Ausnahmezustand:
Shambhala
Æ Enzyklopädie fernöstlicher Mythen, Bd. IV, S.
473 ff. Sie löste in mir eine schwer zu ertragende Unruhe aus, einen
suchthaften Trieb, diesem Hinweis nachzugehen, der möglicherweise
nur ein Hirngespinst war. Er wurde noch dadurch verstärkt, dass sich
eine Enzyklopädie fernöstlicher Mythen in keinem Index
verzeichnet fand. Alle großen Universitätsbibliotheken sandten
mir Fehlanzeigen zu. Keiner der namhaften Mythologen, mit denen ich Kontakt
aufnahm, hatte je von einer Enzyklopädie fernöstlicher Mythen
gehört. Auch fand sich nirgendwo nur der geringste Hinweis darauf,
es könne sich möglicherweise um ein längst vergriffenes
Werk handeln. Schließlich brach ich meine Nachforschungen ab, nachdem
ich allen nur einigermaßen aussichtsreichen Spuren erfolglos nachgegangen
war.
Natürlich wuchs meine
Unruhe umso mehr, je weniger ich eine Möglichkeit sah, den mysteriösen,
speziell an mich gerichteten Fingerzeig - so verstand ich mittlerweile
die Notiz - zu entschlüsseln. Mehrere Monate später, an einem
regenfeuchten Londoner Morgen, schien sich unerwartet eine Chance aufzutun.
In einer engen Seitenstraße der Portobello Road fiel mir plötzlich
ein merkwürdig versteckter, fast getarnter Laden auf, anscheinend
ein Antiquariat mit einem mickrigen Schaufenster, in dem ein paar abgegriffene
Lederbände ausgestellt waren, philosophische oder esoterische indische
Publikationen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Drinnen wirkte das Antiquariat
bei weitem größer als von außen zu vermuten. Die vollgestopften
Bücherregale verloren sich ebenso nach oben wie in das Halbdunkel
der nach hinten führenden Gänge. Der Besitzer, offensichtlich
ein Inder, feist, mit öligen Haaren, stopfte sich mit fettglänzenden
Fingern die Reste eines Tandoori-Chicken in den Mund. Seine blauschwarzberingten
Augen waren zu zwei Drittel von erdrückenden Lidern bedeckt, die er
in einem narkotischen Phlegma eine Spur anhob, um mich flüchtig zu
taxieren.
Meine Bitte, mich umsehen
zu dürfen, beantwortete er mit einem mimischen Minimalaufwand: Er
stellte kurzfristig das Kauen ein und ließ seine Augen wie in Trance
ein Stück in Richtung der Bücherfronten rollen. Der gleiche unbestimmbare
Sog, der mich in seinen Laden geführt hatte und dem ich fast willenlos
folgte, lenkte mich zu einer Buchreihe, die sich im dritten Regal zu rechten
Seite befand. Ein dunkler Bücherblock nahm meine Aufmerksamkeit gefangen
und zog mich mit einer Kraft an, der ich nichts entgegenzusetzen hatte.
Noch bevor ich den Aufdruck entziffern konnte, wusste ich, ich stand kurz
vor dem Ziel. Ich näherte mich langsam, bis die Antiqua-Goldschrift
auf den Buchrücken zu entziffern war. Dann hatte ich sie vor Augen,
die fünf Bände der Enzyklopädie fernöstlicher Mythen,
mit Goldschnitt und gebunden in schwarzes Leder, dem ersten Anschein nach
ausgezeichnet erhalten. Ich griff nach dem vierten Band. Das Frontispiz
bestand aus einem überladen wirkenden Mandala, in dem die Farben Grün,
Blau und Rot dominierten, in seinem Zentrum eine sechsarmige Gottheit.
Es war die erste Auflage, Bombay, 1817. Der Band ging von Pla bis
Shr.
Hier also musste das Stichwort Shambhala zu finden sein. Wenn ich
auf der richtigen Spur war, musste die Seite 473 die Lösung enthalten.
Ich schlug sie auf und begann unter Shambhala zu lesen:
In alten Wegeleitungen
steht, dass, wer sich von Bodh Gaya nach Norden gegen den Himalaya wendet,
schließlich zu einer gewaltigen Festung aus Eis und Schnee gelangt.
Bevor ich weiterlas, blätterte
ich hastig um, denn ich wollte die ganze Länge des Beitrags sehen.
Nach den ersten Seiten schien er unbebildert zu sein. Ich fühlte eine
leise Enttäuschung in mir aufkommen, denn insgeheim hatte ich eine
Landkarte oder zumindest eine Art Wegskizze erwartet. Dann aber fiel mein
Blick auf der vorletzten Seite des Artikels auf ein riesiges Auge, ein
Auge, das mich sofort in seinen Bann schlug. Ein Auge, dessen Pupille ein
abgrundtiefer Brunnen war, der den fast schmerzlichen Wunsch auslöste,
sich in seine Tiefe zu versenken, sich fallen zu lassen, jenseits von oben
und unten, richtungslos, immer weiter und tiefer, einer allumfassenden
Leere entgegen, der man sich aber, so endlos auch die Versenkung war, niemals
wirklich nähern konnte.
Ein fistelndes: »Sir,
legen Sie bitte das Buch sofort zurück!« in meinem Nacken riss
mich aus meiner Betrachtung. Ich spürte den Atem des Inders hinter
mir, ein widerliches Gemisch aus Moschus und Rosenöl, vermengt mit
dem fettigen Grilldunst des Tandoori-Chicken. Ich drehte mich um und sah
in seine melancholischen Augen, die mich lakonisch musterten.
»Warum denn?«
versuchte ich mich stockend gegen seine herrische Arroganz zu wehren. »Ich
möchte die Enzyklopädie kaufen.«
»Sie ist nicht verkäuflich,«
entgegnete er barsch, entwand mir den Band und schob ihn zurück in
das Regal. Ich fühlte mich in der Defensive und erwartete auf meine
Frage nach den Gründen keine Antwort. Zu meinem Erstaunen kam der
Inder ein Stück näher und drängte mich beinahe körperlich
gegen die Bücherwand. Seine Lippen waren violett pigmentiert. Leise,
beinahe beschwörend flüsterte er:
»Für dieses Werk
- es ist, wie Sie wissen, einmalig - Sir, gibt es andere Interessenten,
wichtigere als Sie. Interessenten, die absolut den Vorrang vor Ihnen haben,
die es nicht ichsüchtig für sich behalten und denen verweigern
wollen, für die es in Wahrheit bestimmt ist.« »Ist es
eine Bibliothek, die sich dafür interessiert? Ich könnte mir
vorstellen, dass die British Library ein Interesse ...«
»Keine Bibliothek!«
unterbrach er mich brüsk. »Keine jedenfalls, wie Sie sich eine
Bibliothek vorstellen. Es gibt Bibliotheken, die außerhalb Ihres
Vorstellungsvermögens liegen. Vielleicht gibt es das Interesse einer
solchen
Bibliothek, vielleicht auch nicht.«
Dann hob er seinen teigigen
Arm in Richtung Eingangstür.
»Sie müssen gehen,
Sir. Wir schließen jetzt.«
»Um elf Uhr vormittags?«
»Wir haben besondere
Geschäftszeiten,« entgegnete er trocken. Kurz darauf befand
ich mich wieder auf der Portobello Road. Ziellos begann ich in dem
gar nicht unangenehmen, lauen Nieselregen herumzuwandern. Ich war aufgewühlt
und zugleich verärgert. Jetzt, wo ich die Enzyklopädie fernöstlicher
Mythen vor Augen gehabt, in der Hand gehalten hatte, wo ich glaubte,
meine Reise beginnen zu können, nach Shambhala oder dorthin,
wo der Professor mich hatte lenken wollen, scheiterte alles an der Impertinenz
dieses obskuren Inders.
In der folgenden Nacht wälzte
ich mich unruhig hin und her. Ich versuchte mir das Auge vorzustellen,
das mich in der Enzyklopädie in seine mystischen Tiefen gezogen hatte,
aber es entglitt jeder bildlichen Rückerinnerung. Zerschlagen stand
ich am nächsten morgen auf und nahm wieder ein Taxi zur Portobello
Road. Ich war mir fast sicher, dass das Antiquariat geschlossen hatte,
aber ich durfte nicht aufgeben. Von außen war nicht eindeutig zu
erkennen, ob sich jemand in dem Laden befand. Ich öffnete vorsichtig
die Tür und erwartete den Inder, sofort bereit, mich mit seinem aufsässigen
Gehabe zu attackieren. Aber hinter dem Schreibtisch saß lächelnd
eine schmale Inderin in einem korallroten Seidensari und wies mich mit
einer fließenden Geste ihrer langen Finger in die Richtung der Buchreihe,
wo ich gestern die Enzyklopädie fernöstlicher Mythen gefunden
hatte. Zögernd und verunsichert näherte ich mich dem Buchregal.
Die Inderin lächelte mir immer noch aufmunternd zu und nickte. Wieder
war ich im Bann der fünf schwarzen Lederbände. Meine Erregung
ließ meine Zunge holzig werden. Ich streckte meine Hand nach dem
vierten Band aus und ließ sie bestürzt sinken. Auf den Rücken
aller fünf Bücher las ich statt Enzyklopädie fernöstlicher
Mythen in der gleichen Antiquadruckschrift Enlightenment through
Kamasutra.
»Möchten Sie hineinsehen,
Sir?« Lautlos war die Inderin zu meiner rechten Seite aufgetaucht.
Sie lächelte immer noch und ließ mich mit ihrem Blick nicht
los. Jetzt erst sah ich, wie zierlich sie war, fast kindlich.
»Man kann unendlich
viel daraus lernen, Sir, vor allem, wenn man gewohnt ist, nur in westlichen
Kategorien zu denken. Es enthält für Sie bislang unvorstellbare
Überschreitungen abendländischer Rituale und Gebräuche.
Ich bin sicher, es wird Sie fesseln - auf eine ganz besondere Art.«
»Ich möchte gerne,«
begann ich stockend, »die Enzyklopädie fernöstlicher
Mythen sehen, die gestern noch an dieser Stelle gestanden hat.«
»Das muss ein Irrtum
sein, Sir!« entgegnete die Inderin freundlich. »Enlightenment
through Kamasutra steht mindestens schon seit fünf Jahren hier,
und eine Enzyklopädie, wie Sie sie erwähnen, haben wir nie geführt.
Ich muss gestehen, dass mir dieses Werk auch völlig unbekannt ist.
Ich habe neun Semester Mythologie bei Joseph Campbell am Sarah Lawrence
College in Bronxville studiert. Ich kann mich nicht entsinnen, dass
er ein solches Werk jemals erwähnt hat. Und es ist mir unvorstellbar,
dass Campbell es nicht gekannt hätte. Niemand war mit der mythologischen
Weltliteratur so umfassend vertraut wie er.«
Als ich zur Ausgangstür
ging, stellte sie sich mir in den Weg. Sie hielt mir den vierten Band -
warum gerade den vierten? - vor das Gesicht. Mit erstaunlicher Aufdringlichkeit
versuchte sie mich zum Kauf zu überreden und Enlightenment through
Kamasutra als einmalige Gelegenheit darzustellen, obwohl mir der Preis
grotesk überhöht schien: jeder Band 395 Pfund. Sie bot mir an,
irgendein Kapitel, das ich frei aussuchen könnte, fachkundig zu erläutern,
wie sie es nannte. Erst eine sachverständige Einführung
könne mir den wahren Reichtum dieses Werkes erschließen. Dabei
stand sie in penetranter Distanzlosigkeit vor mir. Ihr Parfüm roch
nach dem Honig einer Tropenfrucht, der Widerwille in mir auslöste.
Ihre Augen ließen mich keine Sekunde los. Dann unterbrach sie abrupt
ihre Suada und feuchtete mit der Zungenspitze ihre Unterlippe an. Es entstand
eine peinliche Pause. Plötzlich sagte sie in die Stille hinein:
»Ich bin sicher, Sir,
dass auch in Enlightenment through Kamasutra Wege zu finden sind,
die nach Shambhala führen.«
Ich starrte sie an. Bevor
ich meine Gedanken geordnet hatte und ich sie nach dem Zusammenhang zwischen
Shambhala
und dem Kamasutrawerk fragen konnte, ließ sie mich abrupt stehen.
Sie schien plötzlich ihr Interesse an mir verloren zu haben, ging
zurück zum Bücherregal und schob den Band an der Stelle hinein,
wo sie ihn entnommen hatte.
»Wir schließen,
jetzt, Sir.« sagte sie geschäftsmäßig. »Gehen
Sie bitte, ich muss den Laden abschließen.«
Überrumpelt stand ich
wieder auf der Straße. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie innen
bereits das Schild closed an der Türe angebracht hatte. Es
goss in Schauern, so wie ich es nie zuvor in London erlebt hatte. Ich begann
schrecklich zu frieren und drängte mich in einen der überfüllten
Pubs zwischen palavernde Touristen, von denen jeder überzeugt war,
ein Schnäppchen in einem der unzähligen Antiquitätenläden
ergattert zu haben. Dort war vom silbernen Flachmann des zweiten Baron
Auckland of Auckland bis zur vergammelten Trense, die angeblich von
einem Reitpferd des elften Earl of Kincardineshire stammte, alles
zu haben. Am nächsten Morgen fuhr ich noch einmal zu dem indischen
Antiquariat. Im Schaufenster hing das Schild Clearance Sale, aber
die Tür war verschlossen. Ich presste mein Gesicht gegen die Schaufensterscheibe.
Im Halbdunkel, an das ich mich langsam adaptierte, konnte ich die Buchreihe
ausmachen, in der ich gestern das Enlightenment through Kamasutra gesehen
hatte.
Ich konnte die fünf schwarzen Lederbände deutlich erkennen. Ich
forderte meinen Augen das Äußerste ab und versuchte, die Schrift
auf den Buchrücken zu entziffern. Sie schien zunächst mit einem
längeren Wort zu beginnen, an dessen Anfang ein E stand. Zusammen
mit der Länge des Wortes und den übrigen Buchstabenfragmenten
gab es fast keinen Zweifel, dass es Enlightenment war. Aber je länger
ich auf das Wort starrte, um so mehr war ich überzeugt, dass es in
der Mitte ein Ypsilon enthielt, auch endete es nicht mit einem t. Dann
lenkte mich ein plötzlich im Hintergrund auftauchender korallroter
Umriss für einen Moment ab. Als ich versuchte, wieder die Lederbände
ausfindig zu machen, erschienen sie mir auf einmal so undeutlich und klein,
dass jede Entzifferung des Titels auf den Buchrücken aussichtslos
erschien. Im selben Augenblick fuhr scheppernd eine Metalljalousie im Schaufenster
herunter und versperrte mir die Sicht in das Innere. Am Nachmittag musste
ich von London abfliegen.
Alle späteren Versuche,
die Enzyklopädie fernöstlicher Mythen doch noch ausfindig
zu machen, blieben genau so erfolglos wie vor meiner Londoner Reise. Kein
Wunder, dass ich mich manchmal fragte, ob ich damals meinem Ziel in dem
Antiquariat an der Portobello Road wirklich so nahe gekommen war, wie es
mir in der Erinnerung erschien. So gesehen fügt sich dieses Erlebnis
in eine ganze Kette anderer Ereignisse im Laufe der mehr als zwanzig gemeinsamen
Jahre mit dem Professor. Ihnen allen war eines gemeinsam: eine gewisse
Brüchigkeit der Realität. Irgendwie stellten sie sich immer auch
selbst in Frage. Erst im Rückblick wurde mir bewusst, dass dieses
Phänomen, das man fast schon eine Methode nennen konnte, einem spezifischen
Einfluss des Professors auf seine Schüler entsprang. Die Frage, wie
denn etwas in Wirklichkeit sei oder gewesen sei, erwies sich sowohl
für unsere klinische Arbeit als auch für unsere Forschungstätigkeit
als außerordentlich fruchtbar. Nichts sei so zuverlässig beweisbar,
als dass nicht auch das Gegenteil zutreffen könnte, war die eine Devise
des Professors. Die andere lautete schlicht: Ein Schüler mit sehr
viel Phantasie sei ihm zehnmal lieber als einer mit sehr viel Wissen. Am
liebsten seien ihm die abtrünnigen Schüler. Ein Lehrer ohne Dissidenten
sei wahrscheinlich kein guter Lehrer. So war es nicht verwunderlich, dass
sich die Schar seiner Mitarbeiter aus höchst unterschiedlichen Köpfen
zusammensetzte, aber auch, dass seine Methode auf ihn selbst zurückfiel.
Daher waren sich die Menschen seiner Umgebung nie völlig sicher, wie
sie ihn einschätzen sollten, und entwarfen sehr widersprüchliche
Bilder von seinem Wesen.
Deshalb war es nicht erstaunlich,
dass sein Verschwinden sehr unterschiedliche Reaktionen unter uns auslöste.
Für die einen war es ein absolut überraschendes Ereignis, für
andere wieder der beinahe zwangsläufige Endpunkt einer Reihe auffallender
Wandlungen und Verhaltensweisen. Nach meiner Beobachtung hatten sie nach
dem Tode Judiths, seiner Frau, begonnen. Ihre Krankheit und ihr Sterben
zogen sich über mehr als drei Jahre hin und waren eine Geschichte
der Widersprüchlichkeiten. Selbstverständlich hatte man die erfahrensten
Köpfe der Universität in die Behandlung Judiths eingeschaltet,
zwischenzeitlich auch zwei Experten von Weltrang aus Übersee. Aber
so unglaublich es klingt: Man konnte sich nicht einmal auf eine gemeinsame
Diagnose einigen. Das einzige, was sich wie ein roter Faden durch das zermürbenden
Auf und Ab ihrer Krankheit, den chamäleonhaften Wechsel der Symptome
zog, war die untrügliche Gewissheit, dass es sich um eine Krankheit
zum Tode handelte.
Natürlich war der Professor
schon immer, wie die meisten in seiner Position, viel gereist. Aber die
Reisen, die er mehrere Monate nach dem Tode Judiths zu unternehmen begann,
unterschieden sich von den früheren, die in der Regel kürzere
Kongress- oder Studienreisen mit einem klar definiertem Ziel gewesen waren.
Er selbst sprach gelegentlich davon, dass ihn jetzt mehr Hintergründe
als Ergebnisse interessierten, dass es gelte, die andere Seite
zu
erfassen. Er sprach vom großen gemeinsamen Nenner, der vielleicht
nichts anderes sei als ein gigantisches Nullsummenspiel. Anfangs
erfuhren wir noch Einzelheiten über seine Reiseziele. Später
kursierten nur noch vage Gerüchte: Er sei in die USA, nach Mauretanien
oder nach Fernost gereist. Einmal tauchte das Gerücht auf, während
einer Kalifornienreise sei er plötzlich lebensgefährlich erkrankt
und auf einer Intensivstation behandelt worden. Aber niemand wusste genau,
wo oder weshalb. Bei der Rückkehr wirkte er körperlich keineswegs
angeschlagen, aber er schien noch mehr nach innen gewandt zu sein und andererseits
schon wieder auf dem Wege. Er lebte, dachte und handelte wie in einem Kokon,
den jeder spürte, der aber nicht zu sehen war. Nach seiner letzten
Fernosttour, man sprach von Nepal oder Tibet, jedenfalls von einer Himalayaregion,
hörte er plötzlich auf zu reisen. Er unternahm entgegen seiner
früheren Gewohnheit ausgedehnte Spaziergänge am Flussufer. Mitarbeiter
und auch Patienten gaben an, ihn öfters in der Nähe der alten
Klinik, deren Abbruch kurz bevorstand, beobachtet zu haben. Ob er das Gelände
selbst betreten hatte, blieb freilich offen.
Eines Tages erschien er nirgendwo
mehr, weder im neuen Klinikum noch in seinem Sekretariat. Niemand wusste
etwas von einem weiteren Reiseplan. Im Briefkasten seiner Wohnung staute
sich die Post. Als man sie aufbrach, erschien sie aufgeräumt. Nichts
wies auf eine Abreise hin, nichts war aufgebrochen, der kleine Wandsafe
intakt. Das einzige, was den Ermittlungsbeamten auffiel, waren die Aufzeichnungen
auf seinem Schreibtisch, darunter ein Papierstreifen, wie sie es
nannten, mit dem sie nichts anzufangen wussten. Wie ein EKG habe der Streifen
ausgesehen, aber nicht wie ein richtiges, und an einer Stelle seien
die Registrierungen durch eine kürzere schriftliche Einfügung
unterbrochen gewesen. Die Schrift habe aber keiner einordnen können.
Möglicherweise habe es sich um indische oder hebräische Schriftzeichen
gehandelt. Eine weitere Klärung war später nicht mehr möglich,
denn merkwürdigerweise ging der Papierstreifen im Zuge der
Ermittlungen verloren und tauchte niemals wieder auf.
Auch die Vernehmung des Pförtners
der alten Klinik ergab keine brauchbaren Hinweise. Wie seit dreißig
Jahren hauste er in seiner Pförtnerloge, ein Fossil, das keiner zu
entfernen wagte, unfasslich verfettet und von Bier aufgedunsen. Sein Gehäuse
wirkte wie ein Requisit aus einem misslungenen Gruselfilm, überall
türmten sich Flaschen, Essensreste und verdrecktes Geschirr. Aus einem
zersprungenen Transistorradio quengelte pausenlos Jazzmusik. Es blieb unklar,
wie er es schaffte, zu jeder Zeit einen Sender herauszufischen, der Jazz
brachte. Mezzi, so wurde er seit Ewigkeiten von uns genannt, weil
er sich stereotyp mit mezzinische Kliniken meldete, war ein Mann,
dessen Hirnrinde sich in Meeren von Bier und Schnaps aufgelöst hatte
- bis auf ein winziges, aber geniales Areal. Sein Gedächtnisspeicher
für Zahlen schien unzerstörbar und trotzte allen Noxen. Alle
Telefonnummern des Klinikums waren dort fehlerfrei registriert, woran auch
die Umstellung von drei- auf fünfstellige Ziffern über Nacht
nichts änderte.
Mezzi räumte ein, er
könne nicht ausschließen, dass wenige Tage vor dem Verschwinden
des Professors eine Person die Pförtnerloge passiert habe und
in Richtung der oberen Stockwerke entschwunden sei, vielleicht sogar mehrmals.
Die Person sei dem Professor auch nicht ganz unähnlich gewesen,
aber weder könne er sich festlegen, ob er es wirklich gewesen sei,
noch ob sich die Person je wieder an ihm vorbei zum Ausgang begeben
habe. Er denke viel an die alten Zeiten zurück, als hier noch ein
toller
Betrieb geherrscht habe, an die vielen Menschen, die ständig an
seiner Loge vorbeigekommen seien, natürlich auch die vielen Ärzte.
Da sei es nicht ganz einfach auseinander zu halten, was wann gewesen sei
oder ob überhaupt. Natürlich durchsuchte man die ganze alte Klinik
auf das genaueste, aber ohne jeden Hinweis auf den Professor. Das Unternehmen
gestaltete sich auch schwieriger als vorauszusehen war. Der Komplex war
verwinkelt wie ein Fuchsbau mit zahllosen verrottenden Laborräumen,
schimmeligen Abstellkammern und vergammelten Verschlägen, die meisten
abgesperrt und die Schlüssel nicht mehr aufzufinden.
Einige Wochen später
trieb mich ein unbestimmtes Gefühl in die alte Klinik, vielleicht
eine nostalgische Anwandlung. Immerhin hatten wir hier zwei Jahrzehnte
Kranke behandelt und unsere Forschungen betrieben. Mezzi hing in seinem
Sessel, besser gesagt, seine Körpermasse hatte sich mit seiner Sitzgelegenheit
zu einem unlösbaren Komplex verkeilt. Wie immer war er von Batterien
von Bierflaschen umgeben und wie immer dudelte das Transistorradio, diesmal
schien es eine Improvisation über Body and Soul zu sein. Als
er mich sah - vielleicht nahm er mich auch nur in einer Art animalischer
Primitivreaktion wahr - ging irgendeine Regung in ihm vor, die man vorsichtig
als eine Form des Wiedererkennens deuten konnte. Aber an ein Gespräch,
noch dazu eines, das auch nur die geringsten Anforderungen an seine Merkfähigkeit
stellte, war nicht zu denken.
Ich versuchte mir vorzustellen,
welchen Ort der Professor, wenn er seine alte Klinik wirklich noch einmal
betreten haben sollte, mit großer Wahrscheinlichkeit aufsuchen würde.
Er hatte ein sehr geschmackvoll eingerichtetes Arbeitszimmer besessen mit
einer bemerkenswerten Handbibliothek. Dennoch ging er sehr gerne in die
große Bibliothek der Klinik, möglicherweise, weil er sich umgeben
von den mächtigen Bücherwänden besonders wohl fühlte,
vielleicht auch, um so mit dem einen oder anderen Mitarbeiter informell
ins Gespräch zu kommen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, wonach
der kleine Lesetisch am Fenster mit dem Blick in den weitläufigen
Klinikpark ausschließlich für ihn freigehalten wurde. Jetzt
waren die Bücherregale leergeräumt und bräunlich verstaubt,
die Leselampen abmontiert, die Tische und Stühle zusammengeschoben
oder übereinander gestapelt. Nur den Lesetisch am Fenster hatte man
aus welchem Grund auch immer, an seinem alten Platz belassen, ebenso den
dazugehörigen Stuhl. Der Julinachmittag war sehr heiß, aber
nicht schwül. In dem Raum lastete eine trockene Hitze, die das Holz
der Bücherregale zum Knistern brachte. Fliegen, die nicht zu sehen
waren, surrten gereizt, vielleicht hatten sie sich hinter den Rückwänden
verfangen. Plötzlich wurde es absolut still, wie wenn im Kino der
Ton ausfällt. Auch die Hitze war unbeweglich geworden. Die Zeit stand
still. In diesem Moment wusste ich jenseits aller Zweifel, dass er
im Raum war. Es war nicht die Erinnerung an ihn oder eine Form spiritueller
Gegenwart, sondern er war hier, ungeteilt, zur Gänze. Es war ganz
selbstverständlich, dass ich rasch und ohne zu zögern auf den
Lesetisch am Fenster zuging. Als ich davor stand, fiel mein Blick auf eine
kleine Anhäufung von zunächst unbestimmbaren Bruchstücken.
Ich beugte mich darüber. Dann konnte ich eindeutig erkennen, was vor
mit lag: ein dünnes Büschel grauer Haare und fünf pergamentfarbige
Nägel einer menschlichen Hand. Spätere Untersuchungen ergaben,
dass sie von einer linken Hand stammten. In diesem Augenblick wusste ich
auch, dass es sein Haar und seine Nägel waren. Auch
begann ich mich an ein Gespräch mit ihm nach dem Tode Judiths zu erinnern,
in dem er Andeutungen über Nägel und Haare machte, die mir damals
obskur vorkamen. Sie betrafen verschollene oder verstorbene Menschen. Aber
den genauen Inhalt konnte ich mir nicht mehr in das Gedächtnis zurückrufen.
Natürlich wurde die
Kriminalpolizei verständigt und eine riesige Ermittlungsmaschinerie
kam in Gang. Man bestand auf einer DNA-Analyse der Haare und Nägel,
was im Endeffekt sinnlos war, wie sich erwies, denn irgendeine Gewebeprobe
des Professors, die man zum Vergleich hätte heranziehen können,
existierte nicht mehr. Auch waren erstaunlicherweise lebende Blutsverwandte
nicht ausfindig zu machen. Seine Wohnung war inzwischen aufgelöst
worden und seine Kleider hatte man einer karitativen Organisation überlassen.
Erben waren nicht vorhanden. Seine Hinterlassenschaft hatte er testamentarisch
einer Initiative namens Aufbruch nach Shambhala vermacht.
Eine Vereinigung oder Gesellschaft mit diesem oder nur einem annähernd
ähnlichen Namen war aber trotz intensiver Nachforschungen nirgendwo
registriert. Manchmal kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht erst noch
gegründet werden musste, was freilich wiederum davon abhing, ob die
Enzyklopädie
fernöstlicher Mythen als unabdingbarer Wegweiser ausfindig zu
machen war oder nicht.
Für kurze Zeit tauchte
ein Hoffnungsschimmer auf, als sich einer seiner Doktoranden erinnerte,
dass man vor drei oder vier Jahren auch dem Professor für eine bestimmte
Testreihe des Labors eine Blutprobe entnommen und tiefgefroren hatte. Aber
sie war - als einzige unter mehr als zweihundert Proben - nach dem Umzug
in das neue Klinikum offensichtlich verloren gegangen. So standen wir mit
leeren Händen da. Aber, so wurde mir klar, dies alles war in sich
folgerichtig und entsprach ganz seinem Denken in der letzten Zeit: Ob die
Nägel und Haare von ihm oder einem Fremden stammten machte keinen
Unterschied.
Mit einer Mischung aus Neugierde
und untergründiger Angst begann ich seine Aufzeichnungen zu studieren.
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