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Linus S. Geisler: Duftesser
Prolog 

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Prolog

Mir ist die ebenso traurige wie absurde Aufgabe zugefallen - es wäre besser, von Pflicht zu sprechen - die Aufzeichnungen meines verschollenen Lehrers in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, eine Edition daraus zu machen, wie der genaue Auftrag lautet. 

Man hat mich dazu bestimmt, weil ich als sein ältester Schüler gelte, was zwar stimmt, wenn man mein Verhältnis zu ihm nach der Zahl der Jahre bemisst. In Wirklichkeit aber kann sich keiner seiner Schüler als ältester oder jüngster bezeichnen, denn das Netz der Verflechtungen (kein guter Ausdruck, wie ich meine) zwischen ihm und uns folgte nicht irgendeinem Zeitmaß. Es war ein System von Beziehungen, das von einem verschwörerhaften Zusammenhalt und zugleich von einer niemals überwundenen Distanz geprägt war. In der Innenwelt des Professors - wir alle nannten ihn Professor, obwohl einige von uns inzwischen selbst Professoren geworden waren - gab es Bezirke, zu denen er keinem den Zutritt erlaubte, während er sonst seine Gedanken und Empfindungen mit überraschender Offenherzigkeit bloßlegen konnte.

Mein Auftrag war deshalb absurd, weil er selbst seine Aufzeichnungen als Anmerkungen bezeichnet hatte, die sich auf ein Buch von ihm bezogen, das niemand kannte, ja vielleicht auch niemand jemals kennen lernen konnte, weil er uns alle bis zuletzt im Unklaren ließ, ob das Werk schon abgeschlossen war oder überhaupt nur in seinem Gehirn existierte. Sein Arbeitstitel, soviel wenigstens hatte er uns einmal verraten, lautete Doppelblind - eine Reise nach Shambhala, was uns - offen gesagt nicht sehr viel weiter brachte - sondern im Gegenteil: die Mystifizierung seiner Person und seines Werkes nur verstärkte. Natürlich forderte Shambhala unsere Neugierde heraus, denn keiner von uns verband mit dem Wort eine konkrete Vorstellung. Unser Unwissen und unsere Verwirrung nahmen aber um so mehr zu, je intensiver wir uns bemühten, Shambhala für uns zu entdecken. 

Auf der Spurensuche kam jeder von uns zu einem anderen und sehr oft widersprüchlichen Ergebnis. Für die einen war Shambhala ein Ort der Erleuchtung und des Friedens in einer mythenversessenen asiatischen Region, die nur auf einem Pilgerpfad von der Mongolei über die Wüste Gobi und die Pässe des Himalaya zu erreichen ist - wenn überhaupt. Denn auf Landkarten könne man Shambhala nicht finden, das hatte schon der Dalai Lama erklärt. Vielleicht war Shambhala auch das verborgene Herz der Welt, der Übergang vom Sichtbaren zum Unsichtbaren. Andere sahen in Shambhala eher so etwas wie ein neues Paradigma der Wissenschaften, der Versuch, ein durch Naturgesetze scheinbar verbarrikadiertes Denkgebäude des Wissens transzendental zu überwinden. Manche argwöhnten, Shambhala sei möglicherweise wie das Land Tlön eine reine Erfindung einer Gruppe spleeniger Historiker, Philosophen und Geologen. Wieder andere seiner Schüler sahen in Shambhala eine Fiktion, die jeder für sich auslegen sollte, wie es ihm gefiel und wie er sie ertrug. Ich zählte mich zu der letzteren Gruppe, nicht nur, weil ich in unserem Lehrer einen geheimen Hang zu Fiktionen entdeckt zu haben glaubte, sondern weil er mich auch auf eine Fährte gelockt hatte, die vielleicht gar keine war.

Auf der Rückseite eines Blattes seiner Anmerkungen fand ich eine kurze Notiz mit Bleistift geschrieben. Ich war mir, obwohl ich glaubte, seine Handschrift recht gut zu kennen, nicht sicher, ob sie von ihm stammte. Es war seine Schrift und auch nicht. Sie wirkte wie eine gelungene Fälschung, aber vielleicht handelte es sich auch um eine Notiz, hingeworfen in einem gewissen Ausnahmezustand: Shambhala Æ Enzyklopädie fernöstlicher Mythen, Bd. IV, S. 473 ff. Sie löste in mir eine schwer zu ertragende Unruhe aus, einen suchthaften Trieb, diesem Hinweis nachzugehen, der möglicherweise nur ein Hirngespinst war. Er wurde noch dadurch verstärkt, dass sich eine Enzyklopädie fernöstlicher Mythen in keinem Index verzeichnet fand. Alle großen Universitätsbibliotheken sandten mir Fehlanzeigen zu. Keiner der namhaften Mythologen, mit denen ich Kontakt aufnahm, hatte je von einer Enzyklopädie fernöstlicher Mythen gehört. Auch fand sich nirgendwo nur der geringste Hinweis darauf, es könne sich möglicherweise um ein längst vergriffenes Werk handeln. Schließlich brach ich meine Nachforschungen ab, nachdem ich allen nur einigermaßen aussichtsreichen Spuren erfolglos nachgegangen war.

Natürlich wuchs meine Unruhe umso mehr, je weniger ich eine Möglichkeit sah, den mysteriösen, speziell an mich gerichteten Fingerzeig - so verstand ich mittlerweile die Notiz - zu entschlüsseln. Mehrere Monate später, an einem regenfeuchten Londoner Morgen, schien sich unerwartet eine Chance aufzutun. In einer engen Seitenstraße der Portobello Road fiel mir plötzlich ein merkwürdig versteckter, fast getarnter Laden auf, anscheinend ein Antiquariat mit einem mickrigen Schaufenster, in dem ein paar abgegriffene Lederbände ausgestellt waren, philosophische oder esoterische indische Publikationen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Drinnen wirkte das Antiquariat bei weitem größer als von außen zu vermuten. Die vollgestopften Bücherregale verloren sich ebenso nach oben wie in das Halbdunkel der nach hinten führenden Gänge. Der Besitzer, offensichtlich ein Inder, feist, mit öligen Haaren, stopfte sich mit fettglänzenden Fingern die Reste eines Tandoori-Chicken in den Mund. Seine blauschwarzberingten Augen waren zu zwei Drittel von erdrückenden Lidern bedeckt, die er in einem narkotischen Phlegma eine Spur anhob, um mich flüchtig zu taxieren. 

Meine Bitte, mich umsehen zu dürfen, beantwortete er mit einem mimischen Minimalaufwand: Er stellte kurzfristig das Kauen ein und ließ seine Augen wie in Trance ein Stück in Richtung der Bücherfronten rollen. Der gleiche unbestimmbare Sog, der mich in seinen Laden geführt hatte und dem ich fast willenlos folgte, lenkte mich zu einer Buchreihe, die sich im dritten Regal zu rechten Seite befand. Ein dunkler Bücherblock nahm meine Aufmerksamkeit gefangen und zog mich mit einer Kraft an, der ich nichts entgegenzusetzen hatte. Noch bevor ich den Aufdruck entziffern konnte, wusste ich, ich stand kurz vor dem Ziel. Ich näherte mich langsam, bis die Antiqua-Goldschrift auf den Buchrücken zu entziffern war. Dann hatte ich sie vor Augen, die fünf Bände der Enzyklopädie fernöstlicher Mythen, mit Goldschnitt und gebunden in schwarzes Leder, dem ersten Anschein nach ausgezeichnet erhalten. Ich griff nach dem vierten Band. Das Frontispiz bestand aus einem überladen wirkenden Mandala, in dem die Farben Grün, Blau und Rot dominierten, in seinem Zentrum eine sechsarmige Gottheit. Es war die erste Auflage, Bombay, 1817. Der Band ging von Pla bis Shr. Hier also musste das Stichwort Shambhala zu finden sein. Wenn ich auf der richtigen Spur war, musste die Seite 473 die Lösung enthalten. Ich schlug sie auf und begann unter Shambhala zu lesen: 

In alten Wegeleitungen steht, dass, wer sich von Bodh Gaya nach Norden gegen den Himalaya wendet, schließlich zu einer gewaltigen Festung aus Eis und Schnee gelangt. 

Bevor ich weiterlas, blätterte ich hastig um, denn ich wollte die ganze Länge des Beitrags sehen. Nach den ersten Seiten schien er unbebildert zu sein. Ich fühlte eine leise Enttäuschung in mir aufkommen, denn insgeheim hatte ich eine Landkarte oder zumindest eine Art Wegskizze erwartet. Dann aber fiel mein Blick auf der vorletzten Seite des Artikels auf ein riesiges Auge, ein Auge, das mich sofort in seinen Bann schlug. Ein Auge, dessen Pupille ein abgrundtiefer Brunnen war, der den fast schmerzlichen Wunsch auslöste, sich in seine Tiefe zu versenken, sich fallen zu lassen, jenseits von oben und unten, richtungslos, immer weiter und tiefer, einer allumfassenden Leere entgegen, der man sich aber, so endlos auch die Versenkung war, niemals wirklich nähern konnte.

Ein fistelndes: »Sir, legen Sie bitte das Buch sofort zurück!« in meinem Nacken riss mich aus meiner Betrachtung. Ich spürte den Atem des Inders hinter mir, ein widerliches Gemisch aus Moschus und Rosenöl, vermengt mit dem fettigen Grilldunst des Tandoori-Chicken. Ich drehte mich um und sah in seine melancholischen Augen, die mich lakonisch musterten.

»Warum denn?« versuchte ich mich stockend gegen seine herrische Arroganz zu wehren. »Ich möchte die Enzyklopädie kaufen.«

»Sie ist nicht verkäuflich,« entgegnete er barsch, entwand mir den Band und schob ihn zurück in das Regal. Ich fühlte mich in der Defensive und erwartete auf meine Frage nach den Gründen keine Antwort. Zu meinem Erstaunen kam der Inder ein Stück näher und drängte mich beinahe körperlich gegen die Bücherwand. Seine Lippen waren violett pigmentiert. Leise, beinahe beschwörend flüsterte er: 

»Für dieses Werk - es ist, wie Sie wissen, einmalig - Sir, gibt es andere Interessenten, wichtigere als Sie. Interessenten, die absolut den Vorrang vor Ihnen haben, die es nicht ichsüchtig für sich behalten und denen verweigern wollen, für die es in Wahrheit bestimmt ist.« »Ist es eine Bibliothek, die sich dafür interessiert? Ich könnte mir vorstellen, dass die British Library ein Interesse ...«

»Keine Bibliothek!« unterbrach er mich brüsk. »Keine jedenfalls, wie Sie sich eine Bibliothek vorstellen. Es gibt Bibliotheken, die außerhalb Ihres Vorstellungsvermögens liegen. Vielleicht gibt es das Interesse einer solchen Bibliothek, vielleicht auch nicht.«

Dann hob er seinen teigigen Arm in Richtung Eingangstür.

»Sie müssen gehen, Sir. Wir schließen jetzt.«

»Um elf Uhr vormittags?«

»Wir haben besondere Geschäftszeiten,« entgegnete er trocken. Kurz darauf befand ich mich wieder auf der Portobello Road. Ziellos begann ich in dem gar nicht unangenehmen, lauen Nieselregen herumzuwandern. Ich war aufgewühlt und zugleich verärgert. Jetzt, wo ich die Enzyklopädie fernöstlicher Mythen vor Augen gehabt, in der Hand gehalten hatte, wo ich glaubte, meine Reise beginnen zu können, nach Shambhala oder dorthin, wo der Professor mich hatte lenken wollen, scheiterte alles an der Impertinenz dieses obskuren Inders. 

In der folgenden Nacht wälzte ich mich unruhig hin und her. Ich versuchte mir das Auge vorzustellen, das mich in der Enzyklopädie in seine mystischen Tiefen gezogen hatte, aber es entglitt jeder bildlichen Rückerinnerung. Zerschlagen stand ich am nächsten morgen auf und nahm wieder ein Taxi zur Portobello Road. Ich war mir fast sicher, dass das Antiquariat geschlossen hatte, aber ich durfte nicht aufgeben. Von außen war nicht eindeutig zu erkennen, ob sich jemand in dem Laden befand. Ich öffnete vorsichtig die Tür und erwartete den Inder, sofort bereit, mich mit seinem aufsässigen Gehabe zu attackieren. Aber hinter dem Schreibtisch saß lächelnd eine schmale Inderin in einem korallroten Seidensari und wies mich mit einer fließenden Geste ihrer langen Finger in die Richtung der Buchreihe, wo ich gestern die Enzyklopädie fernöstlicher Mythen gefunden hatte. Zögernd und verunsichert näherte ich mich dem Buchregal. Die Inderin lächelte mir immer noch aufmunternd zu und nickte. Wieder war ich im Bann der fünf schwarzen Lederbände. Meine Erregung ließ meine Zunge holzig werden. Ich streckte meine Hand nach dem vierten Band aus und ließ sie bestürzt sinken. Auf den Rücken aller fünf Bücher las ich statt Enzyklopädie fernöstlicher Mythen in der gleichen Antiquadruckschrift Enlightenment through Kamasutra

»Möchten Sie hineinsehen, Sir?« Lautlos war die Inderin zu meiner rechten Seite aufgetaucht. Sie lächelte immer noch und ließ mich mit ihrem Blick nicht los. Jetzt erst sah ich, wie zierlich sie war, fast kindlich.

»Man kann unendlich viel daraus lernen, Sir, vor allem, wenn man gewohnt ist, nur in westlichen Kategorien zu denken. Es enthält für Sie bislang unvorstellbare Überschreitungen abendländischer Rituale und Gebräuche. Ich bin sicher, es wird Sie fesseln - auf eine ganz besondere Art.«

»Ich möchte gerne,« begann ich stockend, »die Enzyklopädie fernöstlicher Mythen sehen, die gestern noch an dieser Stelle gestanden hat.«

»Das muss ein Irrtum sein, Sir!« entgegnete die Inderin freundlich. »Enlightenment through Kamasutra steht mindestens schon seit fünf Jahren hier, und eine Enzyklopädie, wie Sie sie erwähnen, haben wir nie geführt. Ich muss gestehen, dass mir dieses Werk auch völlig unbekannt ist. Ich habe neun Semester Mythologie bei Joseph Campbell am Sarah Lawrence College in Bronxville studiert. Ich kann mich nicht entsinnen, dass er ein solches Werk jemals erwähnt hat. Und es ist mir unvorstellbar, dass Campbell es nicht gekannt hätte. Niemand war mit der mythologischen Weltliteratur so umfassend vertraut wie er.«

Als ich zur Ausgangstür ging, stellte sie sich mir in den Weg. Sie hielt mir den vierten Band - warum gerade den vierten? - vor das Gesicht. Mit erstaunlicher Aufdringlichkeit versuchte sie mich zum Kauf zu überreden und Enlightenment through Kamasutra als einmalige Gelegenheit darzustellen, obwohl mir der Preis grotesk überhöht schien: jeder Band 395 Pfund. Sie bot mir an, irgendein Kapitel, das ich frei aussuchen könnte, fachkundig zu erläutern, wie sie es nannte. Erst eine sachverständige Einführung könne mir den wahren Reichtum dieses Werkes erschließen. Dabei stand sie in penetranter Distanzlosigkeit vor mir. Ihr Parfüm roch nach dem Honig einer Tropenfrucht, der Widerwille in mir auslöste. Ihre Augen ließen mich keine Sekunde los. Dann unterbrach sie abrupt ihre Suada und feuchtete mit der Zungenspitze ihre Unterlippe an. Es entstand eine peinliche Pause. Plötzlich sagte sie in die Stille hinein:

»Ich bin sicher, Sir, dass auch in Enlightenment through Kamasutra Wege zu finden sind, die nach Shambhala führen.« 

Ich starrte sie an. Bevor ich meine Gedanken geordnet hatte und ich sie nach dem Zusammenhang zwischen Shambhala und dem Kamasutrawerk fragen konnte, ließ sie mich abrupt stehen. Sie schien plötzlich ihr Interesse an mir verloren zu haben, ging zurück zum Bücherregal und schob den Band an der Stelle hinein, wo sie ihn entnommen hatte.

»Wir schließen, jetzt, Sir.« sagte sie geschäftsmäßig. »Gehen Sie bitte, ich muss den Laden abschließen.«

Überrumpelt stand ich wieder auf der Straße. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass sie innen bereits das Schild closed an der Türe angebracht hatte. Es goss in Schauern, so wie ich es nie zuvor in London erlebt hatte. Ich begann schrecklich zu frieren und drängte mich in einen der überfüllten Pubs zwischen palavernde Touristen, von denen jeder überzeugt war, ein Schnäppchen in einem der unzähligen Antiquitätenläden ergattert zu haben. Dort war vom silbernen Flachmann des zweiten Baron Auckland of Auckland bis zur vergammelten Trense, die angeblich von einem Reitpferd des elften Earl of Kincardineshire stammte, alles zu haben. Am nächsten Morgen fuhr ich noch einmal zu dem indischen Antiquariat. Im Schaufenster hing das Schild Clearance Sale, aber die Tür war verschlossen. Ich presste mein Gesicht gegen die Schaufensterscheibe. Im Halbdunkel, an das ich mich langsam adaptierte, konnte ich die Buchreihe ausmachen, in der ich gestern das Enlightenment through Kamasutra gesehen hatte. Ich konnte die fünf schwarzen Lederbände deutlich erkennen. Ich forderte meinen Augen das Äußerste ab und versuchte, die Schrift auf den Buchrücken zu entziffern. Sie schien zunächst mit einem längeren Wort zu beginnen, an dessen Anfang ein E stand. Zusammen mit der Länge des Wortes und den übrigen Buchstabenfragmenten gab es fast keinen Zweifel, dass es Enlightenment war. Aber je länger ich auf das Wort starrte, um so mehr war ich überzeugt, dass es in der Mitte ein Ypsilon enthielt, auch endete es nicht mit einem t. Dann lenkte mich ein plötzlich im Hintergrund auftauchender korallroter Umriss für einen Moment ab. Als ich versuchte, wieder die Lederbände ausfindig zu machen, erschienen sie mir auf einmal so undeutlich und klein, dass jede Entzifferung des Titels auf den Buchrücken aussichtslos erschien. Im selben Augenblick fuhr scheppernd eine Metalljalousie im Schaufenster herunter und versperrte mir die Sicht in das Innere. Am Nachmittag musste ich von London abfliegen.

Alle späteren Versuche, die Enzyklopädie fernöstlicher Mythen doch noch ausfindig zu machen, blieben genau so erfolglos wie vor meiner Londoner Reise. Kein Wunder, dass ich mich manchmal fragte, ob ich damals meinem Ziel in dem Antiquariat an der Portobello Road wirklich so nahe gekommen war, wie es mir in der Erinnerung erschien. So gesehen fügt sich dieses Erlebnis in eine ganze Kette anderer Ereignisse im Laufe der mehr als zwanzig gemeinsamen Jahre mit dem Professor. Ihnen allen war eines gemeinsam: eine gewisse Brüchigkeit der Realität. Irgendwie stellten sie sich immer auch selbst in Frage. Erst im Rückblick wurde mir bewusst, dass dieses Phänomen, das man fast schon eine Methode nennen konnte, einem spezifischen Einfluss des Professors auf seine Schüler entsprang. Die Frage, wie denn etwas in Wirklichkeit sei oder gewesen sei, erwies sich sowohl für unsere klinische Arbeit als auch für unsere Forschungstätigkeit als außerordentlich fruchtbar. Nichts sei so zuverlässig beweisbar, als dass nicht auch das Gegenteil zutreffen könnte, war die eine Devise des Professors. Die andere lautete schlicht: Ein Schüler mit sehr viel Phantasie sei ihm zehnmal lieber als einer mit sehr viel Wissen. Am liebsten seien ihm die abtrünnigen Schüler. Ein Lehrer ohne Dissidenten sei wahrscheinlich kein guter Lehrer. So war es nicht verwunderlich, dass sich die Schar seiner Mitarbeiter aus höchst unterschiedlichen Köpfen zusammensetzte, aber auch, dass seine Methode auf ihn selbst zurückfiel. Daher waren sich die Menschen seiner Umgebung nie völlig sicher, wie sie ihn einschätzen sollten, und entwarfen sehr widersprüchliche Bilder von seinem Wesen.

Deshalb war es nicht erstaunlich, dass sein Verschwinden sehr unterschiedliche Reaktionen unter uns auslöste. Für die einen war es ein absolut überraschendes Ereignis, für andere wieder der beinahe zwangsläufige Endpunkt einer Reihe auffallender Wandlungen und Verhaltensweisen. Nach meiner Beobachtung hatten sie nach dem Tode Judiths, seiner Frau, begonnen. Ihre Krankheit und ihr Sterben zogen sich über mehr als drei Jahre hin und waren eine Geschichte der Widersprüchlichkeiten. Selbstverständlich hatte man die erfahrensten Köpfe der Universität in die Behandlung Judiths eingeschaltet, zwischenzeitlich auch zwei Experten von Weltrang aus Übersee. Aber so unglaublich es klingt: Man konnte sich nicht einmal auf eine gemeinsame Diagnose einigen. Das einzige, was sich wie ein roter Faden durch das zermürbenden Auf und Ab ihrer Krankheit, den chamäleonhaften Wechsel der Symptome zog, war die untrügliche Gewissheit, dass es sich um eine Krankheit zum Tode handelte.

Natürlich war der Professor schon immer, wie die meisten in seiner Position, viel gereist. Aber die Reisen, die er mehrere Monate nach dem Tode Judiths zu unternehmen begann, unterschieden sich von den früheren, die in der Regel kürzere Kongress- oder Studienreisen mit einem klar definiertem Ziel gewesen waren. Er selbst sprach gelegentlich davon, dass ihn jetzt mehr Hintergründe als Ergebnisse interessierten, dass es gelte, die andere Seite zu erfassen. Er sprach vom großen gemeinsamen Nenner, der vielleicht nichts anderes sei als ein gigantisches Nullsummenspiel. Anfangs erfuhren wir noch Einzelheiten über seine Reiseziele. Später kursierten nur noch vage Gerüchte: Er sei in die USA, nach Mauretanien oder nach Fernost gereist. Einmal tauchte das Gerücht auf, während einer Kalifornienreise sei er plötzlich lebensgefährlich erkrankt und auf einer Intensivstation behandelt worden. Aber niemand wusste genau, wo oder weshalb. Bei der Rückkehr wirkte er körperlich keineswegs angeschlagen, aber er schien noch mehr nach innen gewandt zu sein und andererseits schon wieder auf dem Wege. Er lebte, dachte und handelte wie in einem Kokon, den jeder spürte, der aber nicht zu sehen war. Nach seiner letzten Fernosttour, man sprach von Nepal oder Tibet, jedenfalls von einer Himalayaregion, hörte er plötzlich auf zu reisen. Er unternahm entgegen seiner früheren Gewohnheit ausgedehnte Spaziergänge am Flussufer. Mitarbeiter und auch Patienten gaben an, ihn öfters in der Nähe der alten Klinik, deren Abbruch kurz bevorstand, beobachtet zu haben. Ob er das Gelände selbst betreten hatte, blieb freilich offen.

Eines Tages erschien er nirgendwo mehr, weder im neuen Klinikum noch in seinem Sekretariat. Niemand wusste etwas von einem weiteren Reiseplan. Im Briefkasten seiner Wohnung staute sich die Post. Als man sie aufbrach, erschien sie aufgeräumt. Nichts wies auf eine Abreise hin, nichts war aufgebrochen, der kleine Wandsafe intakt. Das einzige, was den Ermittlungsbeamten auffiel, waren die Aufzeichnungen auf seinem Schreibtisch, darunter ein Papierstreifen, wie sie es nannten, mit dem sie nichts anzufangen wussten. Wie ein EKG habe der Streifen ausgesehen, aber nicht wie ein richtiges, und an einer Stelle seien die Registrierungen durch eine kürzere schriftliche Einfügung unterbrochen gewesen. Die Schrift habe aber keiner einordnen können. Möglicherweise habe es sich um indische oder hebräische Schriftzeichen gehandelt. Eine weitere Klärung war später nicht mehr möglich, denn merkwürdigerweise ging der Papierstreifen im Zuge der Ermittlungen verloren und tauchte niemals wieder auf.

Auch die Vernehmung des Pförtners der alten Klinik ergab keine brauchbaren Hinweise. Wie seit dreißig Jahren hauste er in seiner Pförtnerloge, ein Fossil, das keiner zu entfernen wagte, unfasslich verfettet und von Bier aufgedunsen. Sein Gehäuse wirkte wie ein Requisit aus einem misslungenen Gruselfilm, überall türmten sich Flaschen, Essensreste und verdrecktes Geschirr. Aus einem zersprungenen Transistorradio quengelte pausenlos Jazzmusik. Es blieb unklar, wie er es schaffte, zu jeder Zeit einen Sender herauszufischen, der Jazz brachte. Mezzi, so wurde er seit Ewigkeiten von uns genannt, weil er sich stereotyp mit mezzinische Kliniken meldete, war ein Mann, dessen Hirnrinde sich in Meeren von Bier und Schnaps aufgelöst hatte - bis auf ein winziges, aber geniales Areal. Sein Gedächtnisspeicher für Zahlen schien unzerstörbar und trotzte allen Noxen. Alle Telefonnummern des Klinikums waren dort fehlerfrei registriert, woran auch die Umstellung von drei- auf fünfstellige Ziffern über Nacht nichts änderte. 

Mezzi räumte ein, er könne nicht ausschließen, dass wenige Tage vor dem Verschwinden des Professors eine Person die Pförtnerloge passiert habe und in Richtung der oberen Stockwerke entschwunden sei, vielleicht sogar mehrmals. Die Person sei dem Professor auch nicht ganz unähnlich gewesen, aber weder könne er sich festlegen, ob er es wirklich gewesen sei, noch ob sich die Person je wieder an ihm vorbei zum Ausgang begeben habe. Er denke viel an die alten Zeiten zurück, als hier noch ein toller Betrieb geherrscht habe, an die vielen Menschen, die ständig an seiner Loge vorbeigekommen seien, natürlich auch die vielen Ärzte. Da sei es nicht ganz einfach auseinander zu halten, was wann gewesen sei oder ob überhaupt. Natürlich durchsuchte man die ganze alte Klinik auf das genaueste, aber ohne jeden Hinweis auf den Professor. Das Unternehmen gestaltete sich auch schwieriger als vorauszusehen war. Der Komplex war verwinkelt wie ein Fuchsbau mit zahllosen verrottenden Laborräumen, schimmeligen Abstellkammern und vergammelten Verschlägen, die meisten abgesperrt und die Schlüssel nicht mehr aufzufinden.

Einige Wochen später trieb mich ein unbestimmtes Gefühl in die alte Klinik, vielleicht eine nostalgische Anwandlung. Immerhin hatten wir hier zwei Jahrzehnte Kranke behandelt und unsere Forschungen betrieben. Mezzi hing in seinem Sessel, besser gesagt, seine Körpermasse hatte sich mit seiner Sitzgelegenheit zu einem unlösbaren Komplex verkeilt. Wie immer war er von Batterien von Bierflaschen umgeben und wie immer dudelte das Transistorradio, diesmal schien es eine Improvisation über Body and Soul zu sein. Als er mich sah - vielleicht nahm er mich auch nur in einer Art animalischer Primitivreaktion wahr - ging irgendeine Regung in ihm vor, die man vorsichtig als eine Form des Wiedererkennens deuten konnte. Aber an ein Gespräch, noch dazu eines, das auch nur die geringsten Anforderungen an seine Merkfähigkeit stellte, war nicht zu denken. 

Ich versuchte mir vorzustellen, welchen Ort der Professor, wenn er seine alte Klinik wirklich noch einmal betreten haben sollte, mit großer Wahrscheinlichkeit aufsuchen würde. Er hatte ein sehr geschmackvoll eingerichtetes Arbeitszimmer besessen mit einer bemerkenswerten Handbibliothek. Dennoch ging er sehr gerne in die große Bibliothek der Klinik, möglicherweise, weil er sich umgeben von den mächtigen Bücherwänden besonders wohl fühlte, vielleicht auch, um so mit dem einen oder anderen Mitarbeiter informell ins Gespräch zu kommen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, wonach der kleine Lesetisch am Fenster mit dem Blick in den weitläufigen Klinikpark ausschließlich für ihn freigehalten wurde. Jetzt waren die Bücherregale leergeräumt und bräunlich verstaubt, die Leselampen abmontiert, die Tische und Stühle zusammengeschoben oder übereinander gestapelt. Nur den Lesetisch am Fenster hatte man aus welchem Grund auch immer, an seinem alten Platz belassen, ebenso den dazugehörigen Stuhl. Der Julinachmittag war sehr heiß, aber nicht schwül. In dem Raum lastete eine trockene Hitze, die das Holz der Bücherregale zum Knistern brachte. Fliegen, die nicht zu sehen waren, surrten gereizt, vielleicht hatten sie sich hinter den Rückwänden verfangen. Plötzlich wurde es absolut still, wie wenn im Kino der Ton ausfällt. Auch die Hitze war unbeweglich geworden. Die Zeit stand still. In diesem Moment wusste ich jenseits aller Zweifel, dass er im Raum war. Es war nicht die Erinnerung an ihn oder eine Form spiritueller Gegenwart, sondern er war hier, ungeteilt, zur Gänze. Es war ganz selbstverständlich, dass ich rasch und ohne zu zögern auf den Lesetisch am Fenster zuging. Als ich davor stand, fiel mein Blick auf eine kleine Anhäufung von zunächst unbestimmbaren Bruchstücken. Ich beugte mich darüber. Dann konnte ich eindeutig erkennen, was vor mit lag: ein dünnes Büschel grauer Haare und fünf pergamentfarbige Nägel einer menschlichen Hand. Spätere Untersuchungen ergaben, dass sie von einer linken Hand stammten. In diesem Augenblick wusste ich auch, dass es sein Haar und seine Nägel waren. Auch begann ich mich an ein Gespräch mit ihm nach dem Tode Judiths zu erinnern, in dem er Andeutungen über Nägel und Haare machte, die mir damals obskur vorkamen. Sie betrafen verschollene oder verstorbene Menschen. Aber den genauen Inhalt konnte ich mir nicht mehr in das Gedächtnis zurückrufen. 

Natürlich wurde die Kriminalpolizei verständigt und eine riesige Ermittlungsmaschinerie kam in Gang. Man bestand auf einer DNA-Analyse der Haare und Nägel, was im Endeffekt sinnlos war, wie sich erwies, denn irgendeine Gewebeprobe des Professors, die man zum Vergleich hätte heranziehen können, existierte nicht mehr. Auch waren erstaunlicherweise lebende Blutsverwandte nicht ausfindig zu machen. Seine Wohnung war inzwischen aufgelöst worden und seine Kleider hatte man einer karitativen Organisation überlassen. Erben waren nicht vorhanden. Seine Hinterlassenschaft hatte er testamentarisch einer Initiative namens Aufbruch nach Shambhala vermacht. Eine Vereinigung oder Gesellschaft mit diesem oder nur einem annähernd ähnlichen Namen war aber trotz intensiver Nachforschungen nirgendwo registriert. Manchmal kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht erst noch gegründet werden musste, was freilich wiederum davon abhing, ob die Enzyklopädie fernöstlicher Mythen als unabdingbarer Wegweiser ausfindig zu machen war oder nicht.

Für kurze Zeit tauchte ein Hoffnungsschimmer auf, als sich einer seiner Doktoranden erinnerte, dass man vor drei oder vier Jahren auch dem Professor für eine bestimmte Testreihe des Labors eine Blutprobe entnommen und tiefgefroren hatte. Aber sie war - als einzige unter mehr als zweihundert Proben - nach dem Umzug in das neue Klinikum offensichtlich verloren gegangen. So standen wir mit leeren Händen da. Aber, so wurde mir klar, dies alles war in sich folgerichtig und entsprach ganz seinem Denken in der letzten Zeit: Ob die Nägel und Haare von ihm oder einem Fremden stammten machte keinen Unterschied.

Mit einer Mischung aus Neugierde und untergründiger Angst begann ich seine Aufzeichnungen zu studieren.


Linus S. Geisler: DUFTESSER    Leseprobe: Prolog     ISBN: 978-3-8334-7472-9  
URL: http://www.linus-geisler.de/duftesser/geisler_duftesser_prolog.html

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