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Linus S. Geisler: Duftesser
Kapitel 19

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19Das Reich des Dottore Antoniniano deckte sich in seinen Grenzen mit dem Imperium Romanum zur Zeit der Geburt Christi. Dies war unschwer an den kleinen Fähnchen auf der Weltkarte in seinem Wartezimmer abzulesen. Jede der kleinen Flaggen stand für eine gelungene künstliche Befruchtung. Die meisten Fähnchen waren grasgrün. Dazwischen steckten immer wieder blutrote Flaggen, Symbole für außerordentliche Siege, die Dottore Antoniniano im Kampf gegen die Kinderlosigkeit errungen hatte. Die roten Fähnchen waren den mamme-nonne über fünfzig vorbehalten, denen er zur Seligkeit eines eigenen miracolo bambino verholfen hatte. 

Antoninianos Herrschaftsbereich umfasste alle Mittelmeerländer und streckte seinen kräftigsten Ausläufer vor bis zum Persischen Golf. Im Norden erstreckte es sich bis England, nur Irland erreichte es - aus welchen Gründen auch immer - nicht. Der südlichste vorgeschobene Posten seines italienischen Mutterlandes war die winzige Isola di Pantelleria. An all den Einstichstellen der Fähnchen wiegten verklärte Mütter die Frucht ihres Leibes in den Armen, Geschöpfe, die ihr Dasein mindestens ebenso sehr den trickreichen Künsten des Dottore Antoniniano verdankten wie den Geschlechtszellen ihrer Eltern, deren erstes Rendezvous im Reagenzglas stattgefunden hatte. 

Es war ein mysteriöses Imperium, in dem der Dottore als Alleinherrscher regierte. Er hielt es ohne weltliche Ordnungskräfte zusammen. Alle Barrieren der Sprachen und Riten hatte es mühelos überwunden. Es vereinte die gegensätzlichsten Klimata, die Sturmgefilde der Orkney Islands ebenso wie die Dürrezonen der arabischen Wüstenregionen. Die einzig akzeptierte Währung dieses Reiches stammte aus dem Fort Knox Antoninianos. Sie war unverwechselbar und fälschungssicher, in keine andere Währung konvertierbar, und das singuläre Resultat seiner alchimistischen Hände: das befruchtete Ei. Die Münze des Lebens und dennoch sterblich. 

In der Polarnacht seiner Tiefkühltruhen hortete der Dottore die erstarrten Embryonen, Frostblumen einer trügerischen Ewigkeit. Manche verloren, aufgegeben von flüchtenden Vätern oder von verwirrten Müttern verstoßen. Auf ewig verdammt in der entsetzlichsten aller Höllen, nicht in unauslöschlichen Feuern, sondern in brennender Kälte ohne Ende. Im neunten Kreis waren sie eingefroren im eisigen Fluss Cocytus, so wie ihr Barde Dante Alighieri sie besungen hatte: 

So staken blau bis wo die Scham man sieht 
Die schmerzensreichen Schatten in dem Eise 
Die Zähne klapperten das Storchenlied.
»Sehen Sie dieses Ei?« hatte Denis Diderot seinem d'Alembert zugerufen. »Damit können alle theologischen Systeme und alle Tempel dieser Erde gestürzt werden!«

Antoninianos Reich war ein Reich der Schläfer und Träumer. Eine Welt der Daumensauger und Milchlutscher. Überlebende aus traumatischen Reisen durch Retorten und Sonden, Pipetten und Nährlösungen. Das Opium der Schuldlosigkeit und des Nicht-Wissens gluckerte in ihren warmen Eingeweiden. 

Ob auch sie ursprünglich im Schöpfungsplan Gottes aufgeführt waren, konnte niemand mit Sicherheit sagen. Den Wissenschaftlern stellte sich die Frage nicht. Dottore Antoniniano selbst war felsenfest überzeugt, nur Erfüllungsgehilfe des großen Entwurfes zu sein, was ihm wiederum Ächtung und Bann des Kardinalerzbischofs eintrug. Der Dottore hob seine behaarten Hände in einer opfernden Geste:

»Seine Eminenz wirft mir vor, ich fabriziere Kinder auf Bestellung wie Kälber, was ihn allerdings nicht davon abhält, den neugeborenen Kleinen tausend zärtlichste Grüße und Gottes überreichen Segen zu übermitteln.«

»Vielleicht ist es seine Art, ihnen seine Liebe zu zeigen?« wandte ich tastend ein.

»Wie könnte er sie lieben? Für ihn sind sie Homunkuli, seit Urzeiten in teuflischen Phiolen schwelend. Und der Mensch maßt sich an, den Korken aus der Öffnung zu ziehen. Sie sind eher Objekte des Exorzismus als der Liebe. In keiner elterlichen Umarmung gezeugt, sind sie in seinen Augen dem Niemandsland des Dämonischen entsprungen. Ja, er geht noch einen Schritt weiter. Ungeborene seien diese Embryonen und niemand wisse, welche von ihnen je geboren würden. Diese Ungeborenen aber seien die Unseligsten der Unseligen. Da sie das Leben nicht erlangt hätten, müsse man sie zu den Toten zählen, ungetaufte, tote Wesen. Seit Innozenz XII aber zählten ohne Taufe gestorbene Kinder zu den ewig Verdammten, auch wenn der Kardinal Coelestin Sfondrati ihnen in seinem postum Werk Nodus praedestinationis dissolutus 1697 eine Art natürlicher Seligkeit habe zuerkennen wollen.« 

Eine Anwandlung theatralischer Verzweiflung schien den Dottore zu überkommen:

»Ich habe gewagt, seine Eminenz an Rahels flehenden Schrei zu erinnern, mit dem sie Jakob anfiel: Verschaff mir Söhne! Wenn nicht, sterbe ich! An die Magd Bilha, die sie Jakob anträgt, die er schwängern und die auf ihren Knien gebären soll. Und Bilha gebiert Jakob einen Sohn. Rahel sieht darin einen Akt göttlicher Gerechtigkeit, weshalb das Kind Dan, der Richter, genannt wird. Der zweite Sohn, den die Magd zur Welt bringt, wird Naftali, der Kämpfer, geheißen. Es sind Rahels Siege im Gotteskampf. Aber nicht genug, Lea, Rahels Schwester, wird von Eifersucht erfasst. Obwohl sie schon vier Söhne geboren hat und unfruchtbar geworden ist, möchte sie es Rahel gleichtun und Jakob weitere Söhne schenken. So führt sie Jakob ihre Magd Silpa zu, die ihm noch die Söhne Gad und Ascher, das Glückskind, schenkt. Ein Drittel der Stämme Israels ist also gewissermaßen durch Leihmütter entstanden! Aber wie reagiert seine Eminenz? Als ob ich ein Idiot wäre, belehrt er mich, sicher wisse ich doch, dies seien Adoptionen gewesen, keine künstlichen Befruchtungen. Adoptionen stünde der Heilige Stuhl aber bekanntlich durchaus wohlwollend gegenüber.«

Seine Verzweiflung verflog so rasch, wie sie gekommen war. Er hätte süße Rache an seiner Eminenz nehmen, ja ihm vielleicht sogar aufrichtigen Schmerz zufügen können, gestand mir der Dottore mit einem Anflug von Belustigung. Aber das liege nicht in seiner Natur. Warum auch solle er das Weltbild des greisen Gottesmannes mit dem wohl begründeten Verdacht erschüttern, dass die hurtige Schar studentischer Samenspender seines Institutes fast überwiegend aus Adepten der verschiedenen Priesterseminare bestand? Diese jungen Männer seien durch bestimmte Merkmale leicht zu identifizieren: Meist gäben sie sich als Psychologiestudenten aus, ihre Blicke seien fliehend, die Hände schweißig. Die überdurchschnittliche Zügigkeit, mit der sie zum Erfolg kämen, lasse auf einen beträchtlichen Trainingsvorsprung vor den anderen Studiosi schließen. Auch werde gemunkelt, dass sie den Judaslohn der hunderttausend Lire meist in den Opferstöcken von San Giovanni in Laterano oder San Paolo Fuori le Mura verschwinden ließen. Nur besonders Mutige entledigten sich des Geldes in der Petersbasilika. Das ganze sei, bemerkte der Dottore abschließend, ein bewundernswertes Handlungsgeflecht aus fadenscheiniger Rechtfertigung eines verbotenen Lustgewinnes und profaner Ablasszahlung. Abgesehen davon, der Kardinalerzbischof sei als Realist bekannt. Insofern sei nicht auszuschließen, dass diese Enthüllungen seine Weltsicht eher bestätigen würden als an ihr zu kratzen. Wie auch immer, die Handschellen des Zölibates, die er eines Tages jedem der jungen Männer anlegen würde, seien auf alle Fälle sein letzter Trumpf. 

»Der Kardinalerzbischof ist ein Greis,« versuchte ich zu vermitteln. »Der Starrsinn des Alters verschont auch ihn nicht, selbst wenn es eine Enge des Geistes auf ungewöhnlich hohem Niveau ist. Es bedarf schon einer beträchtlichen Flexibilität zu akzeptieren, dass ein Kind heute bis zu fünf Elternteile haben kann, darunter drei Mütter: den genetischen Vater und die genetische Mutter, die Leihmutter, die Adoptivmutter und den Adoptivvater.« 

Der Dottore war mit meinem Einwand nur halbherzig einverstanden: »Seine Eminenz ist ein Greis, sicherlich, aber ein erstaunlich wacher und belesener Greis. Noch erstaunlicher die Lektüre, die er bevorzugt. Mitten in unserem Wortwechsel trippelte er an ein Buchregal hinter seinem Stuhl - Thron wäre die zutreffendere Beschreibung - und zog ein Lederbändchen heraus, eine bibliophile Kostbarkeit, wie ich schon aus der Entfernung sehen konnte, vielleicht eine Leihgabe der Vatikanischen Bibliothek, ein Glanzstück des Index librorum prohibitorum, wahrscheinlich sogar sein eigener Besitz. Was Marquis de Sade zu seiner Zeit als äußerste Ausschweifung beschrieben habe, bedeutete mir seine Eminenz, sei ein harmloser Vorläufer dessen, was heute im Namen der In-vitro-Befruchtungen inszeniert werde. Und dann, lieber Kollege, begann er mir tatsächlich einen Abschnitt aus La Philosophie dans le Boudoir vorzulesen. Seine Rezitation hat mich dermaßen verblüfft, dass ich mir den Text besorgt habe.«

Er griff in die Schublade, holte ein Bändchen, allerdings in schlichtem Leinen gebunden, heraus, schlug es bei dem Lesezeichen auf und fuhr fort:

»In der Philosophie im Boudoir lässt de Sade den Wüstling Dolmancé erzählen: »Einer meiner Freunde lebte mit der Tochter, die er von seiner eigenen Mutter bekommen hatte; erst vor acht Tagen hat er einen dreizehnjährigen Knaben entjungfert, der die Frucht des Verkehrs mit dieser Tochter ist. In ein paar Jahren wird dieser gleiche junge Mann seine Mutter ehelichen, so hat mein Freund es gewünscht ...«

Er lehnte sich zurück und wartete die Wirkung auf mich ab.

»Sie haben Recht, die Belesenheit seiner Eminenz ist beeindruckend. Aber wirft er nicht einfach die Dinge etwas durcheinander?«

Der Dottore zuckte die Achseln.

»Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht ist es Methode. Senile Konfusion - und in Wirklichkeit eine dialektische Höchstleistung. Gut, wir wissen es nicht. Ich habe seine Eminenz eingeladen, sich das Schauspiel der In-vitro-Fertilisation in meinem Institut anzusehen, man könnte sagen zu genießen. Denn für mich ist es bei aller Routine, die wir haben, jedes Mal ein hoch-dramatischer Akt von hoher Schönheit und unglaublicher Spannung. Er hat abgelehnt. Es könne gerechtfertigt sein, so seine Argumentation, der Sünde ins Angesicht zu blicken, denn der Feind könne Aug um Auge am besten vernichtet werden. Aber es gäbe Böses, dessen Tücke darin bestünde, dass es sich durch Betrachtung vermehre wie eine Hydra. Dazu zähle mein Handwerk. Hier gelte das Biblische: Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg

Eine Laborantin brachte dem Dottore einen neuen Espresso. Es war der sechste im Verlaufe unseres Gesprächs, wenn ich richtig gezählt hatte. Der Dottore war sozusagen ein Kettentrinker. Vielleicht sog er aus diesen endlos servierten Surrogaten seine Lebenskraft, er, der sich in die Dienste des Lebens gestellt hatte, ein Mann des Lebens, wie er sich selbst bezeichnete. Vielleicht lag es an dem schwärzlichen Gebräu, dass sein Zorn über den Kardinalerzbischof in einer zweiten Eruption erneut aufflammte.

»Er selbst, scheint mir, hat sich längst beide Augen herausgerissen, die Augen der Barmherzigkeit. Denn er ist blind gegen das Leiden dieser Frauen, die mich nach Irrfahrten und Erniedrigungen aufsuchen, von denen seine Eminenz keine Ahnung hat. Ich habe versucht, ihm nur einen bescheidenen Überblick über das Repertoire der hilflosen und unsinnigen Riten und Gebräuche zu geben, denen sich diese Unfruchtbaren unterwerfen. Sie trinken totes Wasser aus fauligen Teichen, weil es voller Lebenskeime sein soll. Wenn ihre Regel zu schwach ist, legen sie rostige Nägel in verdünntes Essigwasser und schlürfen die rötliche Brühe, um ihr Blut anzuregen. In der Champagne schütteln sie in der Heiligen Nacht, nur mit einem Hemdchen bekleidet, bestimmte Bäume, die Kindersegen verheißen, und reden mit ihnen. Sie rutschen mit bloßem Hinterteil über sogenannte Reibesteine, ein beliebter Brauch in den Vogesen, oder zwängen ihre Finger in die Einkerbungen von Fruchtbarkeitssteinen. Sie trinken Extrakte aus Artemisia, der Mutter aller Kräuter. Manche urinieren auf die Wurzeln des Mönchspfeffers, der sie wie ein Glied befruchten soll. Der Kardinalerzbischof blieb von alledem unbeeindruckt. Es seien Irrwege, um nicht Versündigungen zu sagen, belehrte er mich. Es gäbe nur einen wahren Weg. Gott sei ein Gott des Lebens und darum könne der Wunsch nach Leben nur durch das Gebet erfüllt werden.«

Bevor er fortfuhr, zögerte er für einen Moment. Sein Blick schien an mir hängen zu bleiben. Er sah durch mich hindurch, Augen, die sehr viel gesehen hatten, ermüdet vom unablässigen Schweifen an die Grenzen seines Reiches, ein Imperium, auf dem die Stille fetaler Anschwellungen lastete. Tasteten sie in Gedanken die äußersten Grenzziehungen ab, zu denen es ihn noch hinzog? Gab es diese Grenzen überhaupt? Oder verfing er sich in den nostalgischen Fallen seiner Assistentenjahre, die er als junger Geburtshelfer im stickigen Kreißsaal des Ospedale in Sondrio verbracht hatte? In einer Kette ohne Ende zog er stöhnenden Müttern ihre Kinder aus dem Leib. So sehr er sich damals auch wusch, der animalische Geruch von Fruchtwasser und warmem Gebärblut haftete seiner Haut an wie eine Imprägnierung, ein Geruch, von dem er nie wusste, ob er ihn anwiderte oder ihn hörig machte. 

Hier in der Kapitale seiner Macht gab es diesen Geruch nicht. Hier gab es überhaupt keinen Geruch. Das Glas der Retorten und Schälchen war ohne Geruch, die Instrumente aus Edelstahl, die Mikroskope. Die tiefgefrorenen Samen lagerten als geruchlose Sorbets in den Fächern der Tiefkühltruhen und die Embryonen warteten in arktischer Erstarrung wie winzige gefrostete Garnelen auf den Tag ihrer Auferstehung, auch sie ohne Geruch. Manchmal allerdings glaubte der Dottore einen salzigen Fischhauch zu verspüren, aber er wusste, es war eine Täuschung. Nur in seinen seltenen Alpträumen lagerte der Brodem des Gebärzimmers von Sondrio in den Fluren und Laboren seines Institutes und er begann sich wieder zu waschen. Das Imperium des Dottore Antoniniano, war es am Ende nichts anderes als ein gigantisches Exil? Wie konnte es da Grenzen haben? 

Vielleicht hatte der Dottore die gleichen Gedanken verfolgt, denn unvermittelt fragte er mich:

»Gleich werden Sie mir die Lieblingsfrage stellen. Die Frage nach der Altersgrenze für meine mamme-nonne. Ich will die Antwort vorwegnehmen. Ich habe viel darüber nachgedacht. Man hat mir vorgeworfen, diese älteren Frauen seien untaugliche Mütter. Ich frage Sie, wo ist ein bambino besser aufgehoben, bei einer reifen Frau, deren Lebenswunsch sich damit erfüllt hat, statt bei einem dieser siebzehnjährigen Flittchen, für die es nur ein lästiger Betriebsunfall ist? Außerdem treffe ich sehr sorgsam meine Auswahl. Die Mütter müssen aus langlebigen Familien stammen, kerngesund sein, seelisch wie körperlich, vor allem müssen sie sich nicht nur Kinder wünschen, sondern sie inbrünstig lieben. Was, verehrter Kollege, spricht, wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, gegen die Erfüllung des Kinderwunsches bei einer Siebzigjährigen?«

»Wenn das Kind dreißig ist, ist seine Mutter hundert.«

»Wir sollten die großen Zusammenhänge sehen! Alle biologischen Entwicklungen sind miteinander verflochten. Die Menschen werden immer älter werden. Die natürliche Lebensgrenze liegt bei hundertzehn, vielleicht sogar hundertzwanzig. Also vierzig oder fünfzig gemeinsame Jahre für Mutter und Kind, das ist doch immens.«

Ich war sicher, der Dottore kannte alle Gegenargumente. Wie sollte ich ihn mit Szenarien von Müttern irritieren können, die mit zwanzig und siebzig je eine Tochter bekämen? Als Achtzigjährige hätten sie dann eine zehn- und eine sechzigjährige Tochter, ein Schulkind und eine ältere Dame als Schwestern. Wieder sah ich das Imperium des Dottore Antoniniano vor mir und ihn den Imperator als ewigen Grenzgänger, ruhelos getrieben von dem feuchten Gebärdunst des Ospedale in Sondrio, ein Herrscher, dessen Leben von Grenzverschiebungen abhing.

Morgen um elf, ließ er mich wissen, sei das nächste spettacolo geplant. Vielleicht würde mich seine Erhabenheit beeindrucken, vielleicht sogar überzeugen. Ich sagte zu.

Das Ereignis am anderen Morgen fand auf zwei Bühnen gleichzeitig statt: dem Labor des Dottore Antoniniano und dem angrenzenden Raum, in dem man die künftige Mutter auf ein weißes Lager gebettet hatte, ein keimfreies Brautbett. Ihr Mann, Olivenbauer aus der Provinz Teramo, das gegerbte Gesicht gerötet, hielt ihre Hand. Ihre Blicke waren auf die Opaleszenz des Monitors gerichtet. Zum vierten mal in einem Jahr verfolgten sie auf ihm das Hochamt, das der Dottore im Namen des Lebens im Labor nebenan zelebrierte. Wie immer beteten sie; diesmal zum Heiligen Antonius von Padua, dem verheißungsvollsten Fürsprecher für rasche Empfängnis und sanfte Niederkunft, da die Anrufungen der Margareta von Antiochia bisher buchstäblich fruchtlos geblieben waren. Das wenigstens glaubten sie. In Wirklichkeit aber beteten sie zu dem Gott auf der anderen Seite des Monitors.

Der hatte mittlerweile das Ei mit einer Kanüle gefasst, ein Korn, winzig, das das Universum enthielt, entsprungen aus dem Nichtseienden, eine Kugel schwebend in der Mitte des Bildschirms, transparent, von einer filigranen Hülle umgeben, getaucht in kosmisches Blau. Er, der Gott, hatte ihre Bahn in seine Sphäre gelenkt. Ihre Schwerkraft band sie für alle Zeiten an ihn. Mit seiner Rechten fing er den kräftigsten Samenfaden ein und saugte ihn in ein gläsernes Röhrchen. Dann drang er damit in Mikrometerschritten in die Kugel ein und entleerte das auserwählte Spermium in ihr Zentrum. Ein Akt roher Penetration auf dem Bildschirm, von ihm ein Surrogat der Liebe genannt.

Der Dottore lehnte sich zurück:

»Sie haben es gesehen. Die Theaterbühne ist bekanntlich der gefährlichste Ort der Welt, weil nirgendwo soviel gestorben wird. In unserem piccolo teatro hingegen hat der Tod keine Macht. Hier regiert das Leben. Hier spielen wir das Drama der Urzeugung!« 

In Wirklichkeit sei es ein piccolissimo teatro, dozierte er. Das Ei, nur einen Zehntel Millimeter groß, das Spermium die Hälfte, Winzlinge, die unter dem Mikromanipulator vereinigt werden müssten. Den Vorgang Mikroinjektion zu bezeichnen, sei fast schon eine Untertreibung. Das Ganze sei etwas für Equilibristen der Biologie. Sonst nütze auch seine high-tech-macchina für hundert Millionen Lire nichts. Man müsse verliebt sein in den Schöpfungsakt und zugleich Ästhet. Seine Methode sei im übrigen die erste wirklich künstliche Befruchtung.

»Eier und Spermien in der Retorte zu mixen, das ist primitiv, das ist Steinzeit-Reproduktionsmedizin. Aber dieses Ei mit diesem einen Samenfaden zu vereinigen, das heißt, Schöpfung zu inszenieren.«

»Welches Prinzip wählt unter natürlichen Bedingungen den einen Gewinner aus, der unter Millionen Kombattanten ins Rennen geschickt wird?« wagte ich einzuwenden.

Der Dottore zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Wir können nur Spekulationen anstellen. Natürlich fragen wir uns auch, ob bei den unfruchtbaren Männern die Natur möglicherweise ihre Gründe hat, ihre Spermien nicht zum Zuge kommen zu lassen. Aber welche Jury sollte entscheiden können, welche Samenfäden die >besten< sind? Die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen? Das wäre letztlich nur ein albernes Pokerspiel. Was wir immerhin wissen, ist, dass unter den tausenden Kindern, die bis heute auf der Welt mit der Mikroinjektionsmethode gezeugt wurden, nicht mehr Missbildungen aufgetreten sind als bei der natürlichen Zeugung. Und unter uns, lieber Kollege, Paare, die alles das hinter sich haben, wie meine Klientel, sie würden dem Heiligen Antonius die Füße auch für Babies mit Teufelshörnern, Rabenschnäbeln und Ringelschwänzchen küssen. Ich vermute, sogar doppelt so inbrünstig.« 

Er machte eine unbestimmte Geste in das Halbdunkel des Labors und ergriff den Espresso, den ihm eine Hand aus dem Dämmer zureichte.

»Die Stärkung für den zweiten Akt des spettacolo. Die Braut ist gerüstet. Dem Bräutigam fällt zwar nur die Rolle des Voyeurs zu, aber er kann sich zumindest sicher sein, dass die Frucht, die ich gleich in ihren Schoß senken werde, zur Hälfte von ihm stammt. Nicht jeder Bräutigam kann das von sich behaupten. Sie wissen vielleicht, dass mich manche der Paare ihren padrino della sposa, ihren Brautvater, nennen. Schade, dass Sie beim letzten Akt in neun Monaten nicht dabei sein werden. Dann muss ich aus dem Mikrokosmos aufsteigen. Der uralte Makrokosmos ruft und will seinen Tribut. Dort hat sich nichts verändert. Noch müssen wir die Kleinen mit unseren Händen aus den Leibern der Mütter ans Licht der Welt holen. Noch ist leider die Ektogenese, die Aufzucht von Feten außerhalb eines menschlichen Körpers in einem künstlichen Uterus, eine Utopie.«

Er brach unvermittelt ab. Das Licht im Labor ging an. Seine geöffneten Hände staken in einer abgebrochenen Geste in der Luft, wie in Gelatine konserviert. Seine Erstarrung griff auf alle im Raum über und ließ sie in einer grotesken Dornröschen-Szenerie verharren. Der Widerschein des Monitors machte sein Gesicht zu Kitt. Eine winzige Veränderung begann sich um seinen Mund auszubreiten. Eine Spur Ekel, ausgelöst durch den untilgbaren Dunst aus Fruchtwasser und warmem Gebärblut, aufquellend aus dem stickigen Kreißsaal des Ospedale in Sondrio. Wie ferngesteuert, erhob sich der Dottore. Auf Schienen glitt er zum Waschbecken, zeitlupenhaft drehte er die Hähne auf und begann seine Hände mechanisch zu waschen. 


Linus S. Geisler: DUFTESSER    Leseprobe: Kapitel 19 (Dottore Antoniniano)   ISBN: 978-3-8334-7472-9
URL: http://www.linus-geisler.de/duftesser/geisler_duftesser19.html

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