Hier
im Land des Lichts beginnt der Mediterran Ende September seinen melancholischen
Rückzug, ein sommersatter Liebhaber, der noch nicht weiß, mit
welchen Worten er den Abschiedsbrief beginnen soll. Der Mistral, den er
gegen Hirtenbehausungen und Amphitheater anrennen lässt, erweist sich
als ungeeignetes Idiom, zu ungestüm, um die Sommergeliebte in jene
Trance zu versetzen, die den Schmerz des Verlassenwerdens erträglich
macht. So begnügt er sich, ab und zu die Stände der Nougatverkäufer
von Montélimar auf die Route nationale zu fegen, an der sie
den rückströmenden Holländern, Deutschen und Skandinaviern
die Restposten ihrer klebrigen Süßigkeiten anzudrehen versuchen.
Weil sich die Novemberangst schon in die Nacken der Heimkehrenden verbissen
hat, kaufen sie willig jeden Schund wie ein unvergängliches Andenken.
Am Rande von Tarascon ortete
ich nach zahllosen Telefonaten und Faxen Diderot auf seinem Landgut, drei
Monate nach seinem Blutsturz. Er begrüßte mich mit der Versicherung,
die Einwohner verehrten ihn wie Tartarin von Tarascon, vor allem,
weil er weit und breit der beste Steuerzahler sei. Sonst aber ließen
sie ihn in Ruhe. Er genieße das Privileg eines Narren, von dem niemand
genau wisse, wofür man ihn halte solle: für einen läppischen
Tölpel, der grenzenloses Vertrauen verdiene, oder für einen Unhold,
abgerichtet auf die Schändung von Jungfrauen im narkotischen Duft
der Lavendelfelder.
Dann lagerte Didi, vor Wochen
noch ein massiger Gargantua, den Restleib, der er jetzt war, in die Höhlung
eines eichenen Lehnstuhls. Ein grotesker Schrumpfungsprozess hatte ihn
zu einer Fledermaus gemacht mit müllfarbigem Teint und krankhaft glänzenden
Lippen. Unter dem kuttenartigen Umhang wölbte sich ein Kugelbauch,
bis zum Bersten gefüllt mit der Flüssigkeit, die sich vor seiner
Leber staute. Ich stellte mir vor, wie man sie mit einer Punktionskanüle
entleerte. In warmem, bernsteinfarbenem Strahl würde sie sich Liter
um Liter in die Auffanggefäße entleeren.
Diderot tippte grinsend mit
einem Knochenfinger gegen die federnde Wölbung:
»Du siehst, das Fitzelchen
DNA in Papas Erbgut hat sich, wie zu erwarten, durchgesetzt, das Froschbauch-Gen,
so könnte man es euphemistisch bezeichnen. Das unvergängliche
Erbe derer von Diderot.«
Dann holte er zu einem gewaltigen
Gelächter aus, die Diderotsche Posaune von einst, dröhnend, aber
ohne die abgründige Resonanz von früher. Mit einer sakralen Gebärde
hob er die fleischlosen Hände empor und rief:
»Oh, mon frère,
wie siehst du aus, was ist los? Dein edles Maul hängt links und rechts
herunter, als spielte im Salon nebenan Chopin leibhaftig einen Valse
trist, während die Legionen seiner Schwindsuchterreger zur letzten
Attacke blasen! Die Auflösung seiner Proteine steht kurz vor der Vollendung.«
Dann legte er die Hände
auf die Köpfe der beiden Dalmatiner, die links und rechts aufrecht
neben ihm saßen. Wie auf Kommando hoben sie die witternden Schnauzen
zu ihm hoch und stießen unisono einen wiauguff-Laut aus.
»Ursprünglich
wollte ich sie Crick und Watson nennen. Eine törichte
Idee, wie ich rasch erkannte. Denn sie sind viel zu schön, vor allem
aber viel zu weise, um einen Plan zu haben, vollendete Entwürfe, keines
Schöpfers bedürftig. Jetzt heißen sie einfach Droite
et Gauche, rechts und links. Das bezeichnet nichts als das Revier
jedes einzelnen. Es nimmt nichts vorweg, drückt ihnen kein Brandzeichen
auf. Sie sehen total gleich aus, nicht wahr? Allerdings nur für die
anderen. Ich alleine kann Droite und Gauche an einem winzigen
Merkmal unterscheiden. Streng dich nicht an! Mit den Augen ist es nicht
zu sehen. Seit ich sie so getauft habe, hat noch nie einer seine Seite
verwechselt. Wenn ich mit einem Problem in der Sackgasse bin, rufe ich
sie zu mir. Dann lege ich meine Linke auf Gauche und die Rechte
auf Droite. Die Wärme ihres Blutes dringt durch meine Handflächen,
steigt bis zum Herzen, geht als Impuls bis zu meiner Stirn. Du weißt,
in meinem Institut rechnen wir fast ausschließlich und experimentieren
kaum. Experimentieren ist was für Kurzdenker, die alle Resultate begrapschen
müssen wie die Hintern ihrer Sekretärinnen, weil das klare Licht
der Mathematik ihre unsystematischen Gehirne in Schwindel versetzt. Droite
und Gauche beherrschen inzwischen die Infinitesimalrechnung. Besser
gesagt, die Lösungen, die aus ihren warmen Schädeldecken über
meine Hände in meinen Kopf aufsteigen, sind im allgemeinen nur durch
Integral- oder Differentialgleichungen zu finden. Natürlich rechnen
sie nicht im herkömmlichen Sinne. Ihre Methode ist viel genialer:
Sie finden zuerst die Lösung und dann verfolgen sie schrittweise den
Weg zurück, der zum Ausgangsproblem führt. Du würdest dich
wundern, wie viel Artikel wir gemeinsam publiziert haben! Nur die Idioten
von Nature und Science weigern sich beharrlich, sie als Co-Autoren
mit aufzuführen.«
Didi's Pranken begannen symmetrisch
mit wiegendem Rhythmus, das Fell über der Nasenwurzel von Droite
und Gauche einer unendlich sanften Massage zu unterziehen. Die Gebärde
war von hypnotischer Wirkung. Die Lider der beiden Tiere senkten sich kaum
wahrnehmbar immer tiefer, bis schließlich das warme Leuchten ihrer
Augen völlig verdeckt war. Diderot, ein tödlich verwundeter Merlin,
schon angeweht vom ewigen Schlaf im Wald von Brocéliande,
verwob uns, Gauche, Droite, mich und vielleicht auch sich
selbst in einen Zustand unentrinnbarer Trance, die nicht der Schwermut
entbehrte.
Der Mistral fauchte in immer
wiederkehrenden Attacken gegen die Festungsmauern von Diderots Landsitz
und zog sich jedes Mal mit blutiger Nase zurück. Das Licht des späten
Nachmittags drang durch die Fenstergewölbe, ein gelassenes Licht,
das sich schon in den Rüstungen der römischen Legionäre
gespiegelt hatte. Die Hunde waren inzwischen in spiegelbildlicher Haltung,
wie Wachskerzen im Sonnenlicht, nach beiden Seiten zu Boden gesunken.
Didi, der Magier, beherrschte
seine Kunst perfekt. Wie damals in den Nächten, als wir Ziegenkäse
wie das Brot des Lebens in uns hineinstopften, unterbrach er mit untrüglichem
Instinkt unseren Dämmerzustand kurz vor Eintritt der narkotischen
Phase. Über die Schulter brüllte er nach rückwärts
in die Tiefe des Raumes ein dröhnendes Marie-Louise! Die Tiere
und ich fuhren hoch, wurden zu katatonisch erstarrten Figuren. Gemeinsam
horchten wir auf die herantapsenden Schritte. Marie-Louise löste
sich aus dem Dämmer, eine schwerleibige Alte, die einen Dunst aus
Mäusefell, Schimmel und gewärmter Milch verbreitete. Der Mäusegeruch
überwog eindeutig. Didi griff in die Falten des obersten ihrer unzähligen
Röcke, zog sie zu sich her und tupfte ihr einen Kuss auf die Stirn,
von dem sich nicht sicher entscheiden ließ, was überwog: Ehrfurcht
oder galante Respektlosigkeit.
»Hol uns den Cidre,
Marie-Louise!« und gleichzeitig abwehrend zu mir:
»Mon frère,
keine Angst, ich habe nicht gesagt, hol uns Cidre, sondern hol uns
den
Cidre. Der Cidre, den sie uns, besser gesagt mir bringen
wird, sieht aus wie Cidre, gluckert im Glas wie Cidre, er schmeckt sogar
wie Cidre und kostet fünfmal soviel wie Cidre. Aber er ist kein Cidre.
Besser gesagt, er ist ein Cidre für Leute wie mich, Leute, deren Lebern
sich vollgesogen haben mit den kostbaren oder einfachen Weinen der Bourgogne,
des Roussillon oder Languedoc, mit den Gewächsen der Champagne, mit
Pastis oder diversen Vieux Cognacs. Nun lagern sie, diese Lebern, wie Wackersteine
in den Bäuchen und keltern ihren eigenen Saft mit überschwellender
Großzügigkeit. Und die Leute mit den Wackersteinen im Bauch
jammern und kaufen sich für Gangsterpreise diesen Cidre, der kein
Cidre ist. Denn er ist nichts als ein synthetisches Gesöff ohne ein
Molekül Alkohol, gebraut von einem genialen Lebensmittelchemiker.
Er versorgt Frankreich flächendeckend mit seinem Cidre vital.
Reste seines guten Geschmacks haben ihn davor bewahrt, ihn Cidre immortel
zu taufen. Er ist mittlerweile Besitzer zweier Loireschlösser, einer
Art Privatkathedrale in der Nähe von Avignon und einer Luxusjacht
namens Ivresse. Von Juni bis Ende September kreuzt er auf ihr in
einem bacchantischen Delir zwischen Nizza und Perpignan hin und her und
her und hin, ein fliegender Holländer des Mittelmeeres. Aus den Bordlautsprechern
plärrt der Spatz von Paris Non, je ne regrette rien, und in
den Zusatztanks gluckert der Cidre, der echte allerdings. Denn Monsieur
Cidre, wie ihn ganz Frankreich nennt, gehört zwar auch dem Wackerstein-Club
an, aber er hat wiederholte Eide geleistet, seinen Körper niemals
auch nur mit einem Tropfen Cidre vital, dem unerschöpflichen
Quell seines phantastischen Reichtums, zu entweihen.«
Marie-Louise schlurfte herein,
angekündigt von der Bugwelle des Mäusegeruchs, mit einem hölzernen
Tablett, zwei Gläsern und zwei Krügen, an denen sie mit geschlossenen
Augen blitzschnell roch, um dann den einen vor Diderot, den anderen vor
mir zu platzieren.
»Sie ist der einzige
Mensch«, klärte Didi mich auf »der Cidre vital
und echten Cidre todsicher mit der Nase auseinander zu halten vermag. Meinen
Freunden würde ich natürlich niemals die Beleidigung eines Cidre
vital zufügen. Unter uns, mon frère, manchmal wünsche
ich mir im Stillen, Marie-Louise irrte sich wenigstens einmal, aber ich
bin mir absolut sicher, es wird niemals passieren.«
Als Marie-Louise im Hintergrund
verschwunden war - nur das Mäusefell-Odeur stand noch für Sekunden
wir ihr Double im Raum - beugte Diderot sich vor und flüsterte mir
zu:
»Im übrigen, nur
wenige meiner Freunde kennen das Geheimnis: Marie-Louise war meine Amme.
Ich kann mich an alles erinnern vom ersten Tag an. Natürlich glaubt
es mir keiner. Aber Marie-Louise hat es mir wiederholt bestätigt.
Damals war sie eine umwerfende Frau von brutaler Weiblichkeit. Sie verbreitete
einen Dunst aus Blut, Milch und Geschlecht um sich. Zugleich aber hielt
sie sich die brünstigen Männerscharen vom Leib. Nur wenn sie
wollte, gab sie ein winziges Signal der Hingabe, und der Auserwählte
blieb ein Leben lang gezeichnet. Zuerst habe ich mich geweigert, auch nur
einen Tropfen ihrer Milch in meinen damals noch jungfräulichen Körper
einzusaugen. Was sage ich Milch! Was in ihren Brüsten schwoll,
war eine dampfende animalische Sahne. Ich weigerte mich einen ganzen Tag
lang. Eine Ablehnung, die Marie-Louise nie zuvor erfahren hatte. Man hielt
mich für krank. Doktor Moretat faselte etwas von perinataler Trinkschwäche.
Wie sollte der Schwachkopf auch ahnen, was es heißt, erstmals die
Brust zu nehmen oder nicht. Wie sollte er begreifen: Es ist die
erste Entscheidung des Menschen für oder gegen etwas, was er begehrt.
Wie er diese Entscheidung trifft, so wird er alle Entscheidungen
seines Lebens treffen. Er kann sich wie ein Mongoloider mit Milch vollgurgeln,
blind gegen die Ästhetik seiner Quelle, ein brutaler Säufer.
Er kann mit bourgoiser Habgier die winzigen Krallen ins Fleisch der Brüste
graben, das erste Recht von zahllosen späteren, die er einklagen wird.
Er kann sich die ganze Sache auch erst einmal betrachten, sich wärmen
am Schimmer des Fleisches, den feuchten Brodem ansaugen, mit tastender
Zunge die Warzen erspüren und schließlich den warmen, fettigen
Strom des Lebens in köstlichen Schlucken ins Körperinnere rinnen
lassen. Mein Vorgehen war völlig anders. Ich betrachtete das Ganze
als methodischen Prozess von höchster Komplexität. So viel gab
es zu prüfen! Wer war diese Quelle? Warum dieses Wesen und nicht Maman?
War es wirklich das Beste vom Besten, das man für mich bereithielt?
Vor allem aber: wollte ich überhaupt? Du musst zugeben, ein Tag ist
für alle diese Entscheidungen wahrhaftig nicht zu lange. Aber dann,
mon frère, als ich mich entschlossen hatte, sicherte ich mir mit
festem Griff - Marie-Louise soll kurz aufgestöhnt haben - meinen Anteil
am Leben. Schmatzend saugte ich binnen Minuten beide zum Platzen gefüllten
Brüste leer zu schlaffen Anhängseln. Am Ende dieses Gewaltaktes
sanken Marie-Louise und ich in restloser Erschöpfung zurück auf
das Lager und schliefen traumlos sechs Stunden.«
Diderot richtete sich auf,
wartete kurz die Wirkung seiner Säugerstory ab und versuchte sich
dann wieder in einem Rabelais’schen Gelächter, das allerdings einen
kichernden Beiton hatte:
»Auf diese Art, mon
frère, habe ich bis heute alles verschluckt und verschlungen. Weine,
Frauen, Moleküle, Erleuchtungen. Darum, siehst du, bin ich gefüllt
bis zum Bersten!«
Er packte sein Glas mit dem
sündhaft überteuerten Cidre vital und begann ihn mit geschlossenen
Augen in gargantuesken Schlucken seinem überdehnten Körper einzuverleiben.
Überraschend plötzlich
fiel die Dämmerung ein. Die Konturen der Gegenstände begannen
zu verschwimmen. Auch die Wucht des Mistrals flaute ab. Es schien kühler
zu werden im Raum. Sein Zentrum war ausgefüllt von Diderot, nunmehr
ein gesichtsloser Schattenhügel. Zu seinen Füßen die Dalmatiner,
Statuen, deren Schimmer verglomm. Sie bildeten ein Triptychon, dessen memento
mori in seiner Mitte von den Metaphern des Lebens flankiert war. Über
allem schwebte eine Mixtur aus getrocknetem Lavendel und dem sauren Bukett
des Cidre.
Vorauseilende Trauer erfasste
mich, dieses zwiespältigste Gefühl des Arztes. Unzählige
Male war ich ihr unterlegen, ein mephistophelisches Privileg, das keine
Abnutzung erleidet und zur äußersten Stummheit führt. Hunderte
Türen von Krankenzimmern, die sich hinter mir geschlossen hatten,
mein Rücken im Fadenkreuz von Blicken, geweitete Linsen, stygische
Augen, zerfallende Netzhäute. Die Antizipation des Todes. Jetzt drängte
sie sich wieder auf.
»Es war nicht mehr
als ein Antichambrieren.« sprach Diderot in die Stille des Raumes.
»Damals, an meinem Nahe-Todes-Tag, als ich beinahe verblutete. Zugegeben,
ein bemerkenswertes Vorzimmer und dennoch enttäuschend. Die Nahe-Leben-Ereignisse
sind bei weitem aufregender. Alles war, wie in den Büchern beschrieben.
Ich sah unter mir die armen Kerle, schweißtriefend vor Angst, wie
sie meine sterbliche Hülle bearbeiteten. Eine kaltschnäuzige
Panik, in der sie ihre Hackordnung trotzdem penibel befolgten. Wo immer
nur Platz war, schoben sie Tuben, Katheter und Sonden in die Labyrinthe
meines Gekröses. Ich hatte Mühe, mich nicht selbst zu bedauern.
Immer, wenn sie glaubten, die Sache einigermaßen im Griff zu haben,
rülpste ich ihnen die nächste Portion Blut auf Kittel und Schuhe.
Selbst der kleinen Anästhesistin aus Martinique rieselten Schweißrinnsale
über die Schokoladenfurche ihres Rückens bis zwischen die Pobacken.
Von oben war alles bestens zu übersehen. Man hatte mir ja die Proszeniums-Loge
im Jedermannspiel zugedacht. Mein Leib oben an der Decke des Notfallraumes
war gewichtslos, zum ersten Mal in meinem Leben. Du weißt, man hat
in Experimenten versucht Sterbende zu wiegen, um das Gewicht des Astralleibes
zu bestimmen. Irgendwelche Zahlenfetischisten haben dabei 30 g herausbekommen.
Eines Tages werden sie das Molekulargewicht des Heiligen Geistes entschlüsseln.
Aber ich garantiere dir, sofort wird ihnen ein Kurienkardinal zehn Millionen
Dollar auf ein Nummernkonto in Zürich transferieren, damit sie alles
wieder vergessen.«
Ich öffnete meinen Mund,
aber ich war ein Fisch. Ich steckte im Gelee des sich schwärzenden
Todeszimmers. Irgendwer streute zerbröselnden Lavendel auf meine Schuppen.
Die Dalmatiner schienen sich witternd aufgerichtet zu haben. Dann glaubte
ich ihre zärtlichen Zungen zu hören, wie sie Didi's Handrücken
mit unendlicher Vorsicht beleckten.
»Dann war alles wie
es geschrieben steht bei Dr. Moody und Konsorten, ein Summen, irgendwie
elektronisch, ein langer, dunkler Tunnel. Ich fiel in das Lichtlose. Es
begann mich hinüber zu gebären. Eine verzehrende Sehnsucht.
Ein schluchzendes Hinüberreichen in das vollkommen Andere. Ahnungen
an der Klippe der Ichlosigkeit. Unfassliche Bedeutungsschwere und völlige
Bedeutungslosigkeit in einer Gleichung. Es war das Nichts, das gleichzeitig
für das Ganze stand. Der äußerste Rand der Entgrenzung.
Einfacher gesagt, Gott hielt mir die Knackwurst der Ewigkeit vor die Nase,
aber ich schnappte nur in den Widerhaken des Diesseits.«
Diderot ließ sein ausgehöhltes
Lachen in den Raum schallen und haute auf einen versteckten Schalter. Licht
fuhr mir stechend in die Augen. Die Hunde winselten. Marie-Louise trippelte
ins Zimmer, riss die Cidre-Krüge vom Tisch und stieß die Fenster
auf. Die Dalmatiner fuhren jaulend in die Höhe. Didi bleckte die Zähne
und hechelte mich an:
»Es kostet vierzehnhundert
Dollar.«
»Was?« entfuhr
es mir.
»Das Programm, mon
frère.«
»Welches Programm?«
»Das Nahe-Tod-Programm.«
Ich verstand nichts. Didi
beugte sich zu mir vor, ein Lehrer zu seinem behinderten Schüler.
»Susan Blackmore«
erklärte er nachsichtig, »Lehrbeauftragte für Sozio-Psychologie
an der Universität Bristol. Sie hat ein Nahe-Tod-Programm geschrieben.
Wir haben es im Archiv meines Institutes auf CD-ROM. Es simuliert den >Tunnel<
absolut perfekt. Auf dem Bildschirm ist es praktisch identisch mit dem,
was ich sah, als ich beinahe starb in dem Vampir-Hospital in Paris. Sie
hat alles berechnet und kann es simulieren. Die geniale Software des finalen
Zwischenzustandes. Der Tunnel und sein jenseitiges Dahinter sind nichts
als das letzte Rauschen der Sehrinde des sterbenden Gehirns. Neurone, die
ihren Dienst quittieren. Das Jenseits als Abfallprodukt des terminalen
Sauerstoffmangels. So einfach ist das, mein Freund. Morgen spiele ich es
dir vor. Für den Blick ins ewige Leben brauchst du nichts als einen
schnellen Rechner und Susan's Silberscheibe. Gute Nacht! Das war's. Droite
und Gauche sind sterbensmüde. Im Turmzimmer wird Marie-Louise dir
einen Krug richten - mit Milch.«
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