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Linus S. Geisler: Duftesser
Kapitel 10

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10Hier im Land des Lichts beginnt der Mediterran Ende September seinen melancholischen Rückzug, ein sommersatter Liebhaber, der noch nicht weiß, mit welchen Worten er den Abschiedsbrief beginnen soll. Der Mistral, den er gegen Hirtenbehausungen und Amphitheater anrennen lässt, erweist sich als ungeeignetes Idiom, zu ungestüm, um die Sommergeliebte in jene Trance zu versetzen, die den Schmerz des Verlassenwerdens erträglich macht. So begnügt er sich, ab und zu die Stände der Nougatverkäufer von Montélimar auf die Route nationale zu fegen, an der sie den rückströmenden Holländern, Deutschen und Skandinaviern die Restposten ihrer klebrigen Süßigkeiten anzudrehen versuchen. Weil sich die Novemberangst schon in die Nacken der Heimkehrenden verbissen hat, kaufen sie willig jeden Schund wie ein unvergängliches Andenken.

Am Rande von Tarascon ortete ich nach zahllosen Telefonaten und Faxen Diderot auf seinem Landgut, drei Monate nach seinem Blutsturz. Er begrüßte mich mit der Versicherung, die Einwohner verehrten ihn wie Tartarin von Tarascon, vor allem, weil er weit und breit der beste Steuerzahler sei. Sonst aber ließen sie ihn in Ruhe. Er genieße das Privileg eines Narren, von dem niemand genau wisse, wofür man ihn halte solle: für einen läppischen Tölpel, der grenzenloses Vertrauen verdiene, oder für einen Unhold, abgerichtet auf die Schändung von Jungfrauen im narkotischen Duft der Lavendelfelder. 

Dann lagerte Didi, vor Wochen noch ein massiger Gargantua, den Restleib, der er jetzt war, in die Höhlung eines eichenen Lehnstuhls. Ein grotesker Schrumpfungsprozess hatte ihn zu einer Fledermaus gemacht mit müllfarbigem Teint und krankhaft glänzenden Lippen. Unter dem kuttenartigen Umhang wölbte sich ein Kugelbauch, bis zum Bersten gefüllt mit der Flüssigkeit, die sich vor seiner Leber staute. Ich stellte mir vor, wie man sie mit einer Punktionskanüle entleerte. In warmem, bernsteinfarbenem Strahl würde sie sich Liter um Liter in die Auffanggefäße entleeren. 

Diderot tippte grinsend mit einem Knochenfinger gegen die federnde Wölbung:

»Du siehst, das Fitzelchen DNA in Papas Erbgut hat sich, wie zu erwarten, durchgesetzt, das Froschbauch-Gen, so könnte man es euphemistisch bezeichnen. Das unvergängliche Erbe derer von Diderot.« 

Dann holte er zu einem gewaltigen Gelächter aus, die Diderotsche Posaune von einst, dröhnend, aber ohne die abgründige Resonanz von früher. Mit einer sakralen Gebärde hob er die fleischlosen Hände empor und rief: 

»Oh, mon frère, wie siehst du aus, was ist los? Dein edles Maul hängt links und rechts herunter, als spielte im Salon nebenan Chopin leibhaftig einen Valse trist, während die Legionen seiner Schwindsuchterreger zur letzten Attacke blasen! Die Auflösung seiner Proteine steht kurz vor der Vollendung.«

Dann legte er die Hände auf die Köpfe der beiden Dalmatiner, die links und rechts aufrecht neben ihm saßen. Wie auf Kommando hoben sie die witternden Schnauzen zu ihm hoch und stießen unisono einen wiauguff-Laut aus.

»Ursprünglich wollte ich sie Crick und Watson nennen. Eine törichte Idee, wie ich rasch erkannte. Denn sie sind viel zu schön, vor allem aber viel zu weise, um einen Plan zu haben, vollendete Entwürfe, keines Schöpfers bedürftig. Jetzt heißen sie einfach Droite et Gauche, rechts und links. Das bezeichnet nichts als das Revier jedes einzelnen. Es nimmt nichts vorweg, drückt ihnen kein Brandzeichen auf. Sie sehen total gleich aus, nicht wahr? Allerdings nur für die anderen. Ich alleine kann Droite und Gauche an einem winzigen Merkmal unterscheiden. Streng dich nicht an! Mit den Augen ist es nicht zu sehen. Seit ich sie so getauft habe, hat noch nie einer seine Seite verwechselt. Wenn ich mit einem Problem in der Sackgasse bin, rufe ich sie zu mir. Dann lege ich meine Linke auf Gauche und die Rechte auf Droite. Die Wärme ihres Blutes dringt durch meine Handflächen, steigt bis zum Herzen, geht als Impuls bis zu meiner Stirn. Du weißt, in meinem Institut rechnen wir fast ausschließlich und experimentieren kaum. Experimentieren ist was für Kurzdenker, die alle Resultate begrapschen müssen wie die Hintern ihrer Sekretärinnen, weil das klare Licht der Mathematik ihre unsystematischen Gehirne in Schwindel versetzt. Droite und Gauche beherrschen inzwischen die Infinitesimalrechnung. Besser gesagt, die Lösungen, die aus ihren warmen Schädeldecken über meine Hände in meinen Kopf aufsteigen, sind im allgemeinen nur durch Integral- oder Differentialgleichungen zu finden. Natürlich rechnen sie nicht im herkömmlichen Sinne. Ihre Methode ist viel genialer: Sie finden zuerst die Lösung und dann verfolgen sie schrittweise den Weg zurück, der zum Ausgangsproblem führt. Du würdest dich wundern, wie viel Artikel wir gemeinsam publiziert haben! Nur die Idioten von Nature und Science weigern sich beharrlich, sie als Co-Autoren mit aufzuführen.« 

Didi's Pranken begannen symmetrisch mit wiegendem Rhythmus, das Fell über der Nasenwurzel von Droite und Gauche einer unendlich sanften Massage zu unterziehen. Die Gebärde war von hypnotischer Wirkung. Die Lider der beiden Tiere senkten sich kaum wahrnehmbar immer tiefer, bis schließlich das warme Leuchten ihrer Augen völlig verdeckt war. Diderot, ein tödlich verwundeter Merlin, schon angeweht vom ewigen Schlaf im Wald von Brocéliande, verwob uns, Gauche, Droite, mich und vielleicht auch sich selbst in einen Zustand unentrinnbarer Trance, die nicht der Schwermut entbehrte. 

Der Mistral fauchte in immer wiederkehrenden Attacken gegen die Festungsmauern von Diderots Landsitz und zog sich jedes Mal mit blutiger Nase zurück. Das Licht des späten Nachmittags drang durch die Fenstergewölbe, ein gelassenes Licht, das sich schon in den Rüstungen der römischen Legionäre gespiegelt hatte. Die Hunde waren inzwischen in spiegelbildlicher Haltung, wie Wachskerzen im Sonnenlicht, nach beiden Seiten zu Boden gesunken.

Didi, der Magier, beherrschte seine Kunst perfekt. Wie damals in den Nächten, als wir Ziegenkäse wie das Brot des Lebens in uns hineinstopften, unterbrach er mit untrüglichem Instinkt unseren Dämmerzustand kurz vor Eintritt der narkotischen Phase. Über die Schulter brüllte er nach rückwärts in die Tiefe des Raumes ein dröhnendes Marie-Louise! Die Tiere und ich fuhren hoch, wurden zu katatonisch erstarrten Figuren. Gemeinsam horchten wir auf die herantapsenden Schritte. Marie-Louise löste sich aus dem Dämmer, eine schwerleibige Alte, die einen Dunst aus Mäusefell, Schimmel und gewärmter Milch verbreitete. Der Mäusegeruch überwog eindeutig. Didi griff in die Falten des obersten ihrer unzähligen Röcke, zog sie zu sich her und tupfte ihr einen Kuss auf die Stirn, von dem sich nicht sicher entscheiden ließ, was überwog: Ehrfurcht oder galante Respektlosigkeit.

»Hol uns den Cidre, Marie-Louise!« und gleichzeitig abwehrend zu mir: 

»Mon frère, keine Angst, ich habe nicht gesagt, hol uns Cidre, sondern hol uns den Cidre. Der Cidre, den sie uns, besser gesagt mir bringen wird, sieht aus wie Cidre, gluckert im Glas wie Cidre, er schmeckt sogar wie Cidre und kostet fünfmal soviel wie Cidre. Aber er ist kein Cidre. Besser gesagt, er ist ein Cidre für Leute wie mich, Leute, deren Lebern sich vollgesogen haben mit den kostbaren oder einfachen Weinen der Bourgogne, des Roussillon oder Languedoc, mit den Gewächsen der Champagne, mit Pastis oder diversen Vieux Cognacs. Nun lagern sie, diese Lebern, wie Wackersteine in den Bäuchen und keltern ihren eigenen Saft mit überschwellender Großzügigkeit. Und die Leute mit den Wackersteinen im Bauch jammern und kaufen sich für Gangsterpreise diesen Cidre, der kein Cidre ist. Denn er ist nichts als ein synthetisches Gesöff ohne ein Molekül Alkohol, gebraut von einem genialen Lebensmittelchemiker. Er versorgt Frankreich flächendeckend mit seinem Cidre vital. Reste seines guten Geschmacks haben ihn davor bewahrt, ihn Cidre immortel zu taufen. Er ist mittlerweile Besitzer zweier Loireschlösser, einer Art Privatkathedrale in der Nähe von Avignon und einer Luxusjacht namens Ivresse. Von Juni bis Ende September kreuzt er auf ihr in einem bacchantischen Delir zwischen Nizza und Perpignan hin und her und her und hin, ein fliegender Holländer des Mittelmeeres. Aus den Bordlautsprechern plärrt der Spatz von Paris Non, je ne regrette rien, und in den Zusatztanks gluckert der Cidre, der echte allerdings. Denn Monsieur Cidre, wie ihn ganz Frankreich nennt, gehört zwar auch dem Wackerstein-Club an, aber er hat wiederholte Eide geleistet, seinen Körper niemals auch nur mit einem Tropfen Cidre vital, dem unerschöpflichen Quell seines phantastischen Reichtums, zu entweihen.«

Marie-Louise schlurfte herein, angekündigt von der Bugwelle des Mäusegeruchs, mit einem hölzernen Tablett, zwei Gläsern und zwei Krügen, an denen sie mit geschlossenen Augen blitzschnell roch, um dann den einen vor Diderot, den anderen vor mir zu platzieren.

»Sie ist der einzige Mensch«, klärte Didi mich auf »der Cidre vital und echten Cidre todsicher mit der Nase auseinander zu halten vermag. Meinen Freunden würde ich natürlich niemals die Beleidigung eines Cidre vital zufügen. Unter uns, mon frère, manchmal wünsche ich mir im Stillen, Marie-Louise irrte sich wenigstens einmal, aber ich bin mir absolut sicher, es wird niemals passieren.«

Als Marie-Louise im Hintergrund verschwunden war - nur das Mäusefell-Odeur stand noch für Sekunden wir ihr Double im Raum - beugte Diderot sich vor und flüsterte mir zu:

»Im übrigen, nur wenige meiner Freunde kennen das Geheimnis: Marie-Louise war meine Amme. Ich kann mich an alles erinnern vom ersten Tag an. Natürlich glaubt es mir keiner. Aber Marie-Louise hat es mir wiederholt bestätigt. Damals war sie eine umwerfende Frau von brutaler Weiblichkeit. Sie verbreitete einen Dunst aus Blut, Milch und Geschlecht um sich. Zugleich aber hielt sie sich die brünstigen Männerscharen vom Leib. Nur wenn sie wollte, gab sie ein winziges Signal der Hingabe, und der Auserwählte blieb ein Leben lang gezeichnet. Zuerst habe ich mich geweigert, auch nur einen Tropfen ihrer Milch in meinen damals noch jungfräulichen Körper einzusaugen. Was sage ich Milch! Was in ihren Brüsten schwoll, war eine dampfende animalische Sahne. Ich weigerte mich einen ganzen Tag lang. Eine Ablehnung, die Marie-Louise nie zuvor erfahren hatte. Man hielt mich für krank. Doktor Moretat faselte etwas von perinataler Trinkschwäche. Wie sollte der Schwachkopf auch ahnen, was es heißt, erstmals die Brust zu nehmen oder nicht. Wie sollte er begreifen: Es ist die erste Entscheidung des Menschen für oder gegen etwas, was er begehrt. Wie er diese Entscheidung trifft, so wird er alle Entscheidungen seines Lebens treffen. Er kann sich wie ein Mongoloider mit Milch vollgurgeln, blind gegen die Ästhetik seiner Quelle, ein brutaler Säufer. Er kann mit bourgoiser Habgier die winzigen Krallen ins Fleisch der Brüste graben, das erste Recht von zahllosen späteren, die er einklagen wird. Er kann sich die ganze Sache auch erst einmal betrachten, sich wärmen am Schimmer des Fleisches, den feuchten Brodem ansaugen, mit tastender Zunge die Warzen erspüren und schließlich den warmen, fettigen Strom des Lebens in köstlichen Schlucken ins Körperinnere rinnen lassen. Mein Vorgehen war völlig anders. Ich betrachtete das Ganze als methodischen Prozess von höchster Komplexität. So viel gab es zu prüfen! Wer war diese Quelle? Warum dieses Wesen und nicht Maman? War es wirklich das Beste vom Besten, das man für mich bereithielt? Vor allem aber: wollte ich überhaupt? Du musst zugeben, ein Tag ist für alle diese Entscheidungen wahrhaftig nicht zu lange. Aber dann, mon frère, als ich mich entschlossen hatte, sicherte ich mir mit festem Griff - Marie-Louise soll kurz aufgestöhnt haben - meinen Anteil am Leben. Schmatzend saugte ich binnen Minuten beide zum Platzen gefüllten Brüste leer zu schlaffen Anhängseln. Am Ende dieses Gewaltaktes sanken Marie-Louise und ich in restloser Erschöpfung zurück auf das Lager und schliefen traumlos sechs Stunden.« 

Diderot richtete sich auf, wartete kurz die Wirkung seiner Säugerstory ab und versuchte sich dann wieder in einem Rabelais’schen Gelächter, das allerdings einen kichernden Beiton hatte: 

»Auf diese Art, mon frère, habe ich bis heute alles verschluckt und verschlungen. Weine, Frauen, Moleküle, Erleuchtungen. Darum, siehst du, bin ich gefüllt bis zum Bersten!« 

Er packte sein Glas mit dem sündhaft überteuerten Cidre vital und begann ihn mit geschlossenen Augen in gargantuesken Schlucken seinem überdehnten Körper einzuverleiben.

Überraschend plötzlich fiel die Dämmerung ein. Die Konturen der Gegenstände begannen zu verschwimmen. Auch die Wucht des Mistrals flaute ab. Es schien kühler zu werden im Raum. Sein Zentrum war ausgefüllt von Diderot, nunmehr ein gesichtsloser Schattenhügel. Zu seinen Füßen die Dalmatiner, Statuen, deren Schimmer verglomm. Sie bildeten ein Triptychon, dessen memento mori in seiner Mitte von den Metaphern des Lebens flankiert war. Über allem schwebte eine Mixtur aus getrocknetem Lavendel und dem sauren Bukett des Cidre.

Vorauseilende Trauer erfasste mich, dieses zwiespältigste Gefühl des Arztes. Unzählige Male war ich ihr unterlegen, ein mephistophelisches Privileg, das keine Abnutzung erleidet und zur äußersten Stummheit führt. Hunderte Türen von Krankenzimmern, die sich hinter mir geschlossen hatten, mein Rücken im Fadenkreuz von Blicken, geweitete Linsen, stygische Augen, zerfallende Netzhäute. Die Antizipation des Todes. Jetzt drängte sie sich wieder auf.

»Es war nicht mehr als ein Antichambrieren.« sprach Diderot in die Stille des Raumes. »Damals, an meinem Nahe-Todes-Tag, als ich beinahe verblutete. Zugegeben, ein bemerkenswertes Vorzimmer und dennoch enttäuschend. Die Nahe-Leben-Ereignisse sind bei weitem aufregender. Alles war, wie in den Büchern beschrieben. Ich sah unter mir die armen Kerle, schweißtriefend vor Angst, wie sie meine sterbliche Hülle bearbeiteten. Eine kaltschnäuzige Panik, in der sie ihre Hackordnung trotzdem penibel befolgten. Wo immer nur Platz war, schoben sie Tuben, Katheter und Sonden in die Labyrinthe meines Gekröses. Ich hatte Mühe, mich nicht selbst zu bedauern. Immer, wenn sie glaubten, die Sache einigermaßen im Griff zu haben, rülpste ich ihnen die nächste Portion Blut auf Kittel und Schuhe. Selbst der kleinen Anästhesistin aus Martinique rieselten Schweißrinnsale über die Schokoladenfurche ihres Rückens bis zwischen die Pobacken. Von oben war alles bestens zu übersehen. Man hatte mir ja die Proszeniums-Loge im Jedermannspiel zugedacht. Mein Leib oben an der Decke des Notfallraumes war gewichtslos, zum ersten Mal in meinem Leben. Du weißt, man hat in Experimenten versucht Sterbende zu wiegen, um das Gewicht des Astralleibes zu bestimmen. Irgendwelche Zahlenfetischisten haben dabei 30 g herausbekommen. Eines Tages werden sie das Molekulargewicht des Heiligen Geistes entschlüsseln. Aber ich garantiere dir, sofort wird ihnen ein Kurienkardinal zehn Millionen Dollar auf ein Nummernkonto in Zürich transferieren, damit sie alles wieder vergessen.«

Ich öffnete meinen Mund, aber ich war ein Fisch. Ich steckte im Gelee des sich schwärzenden Todeszimmers. Irgendwer streute zerbröselnden Lavendel auf meine Schuppen. Die Dalmatiner schienen sich witternd aufgerichtet zu haben. Dann glaubte ich ihre zärtlichen Zungen zu hören, wie sie Didi's Handrücken mit unendlicher Vorsicht beleckten.

»Dann war alles wie es geschrieben steht bei Dr. Moody und Konsorten, ein Summen, irgendwie elektronisch, ein langer, dunkler Tunnel. Ich fiel in das Lichtlose. Es begann mich hinüber zu gebären. Eine verzehrende Sehnsucht. Ein schluchzendes Hinüberreichen in das vollkommen Andere. Ahnungen an der Klippe der Ichlosigkeit. Unfassliche Bedeutungsschwere und völlige Bedeutungslosigkeit in einer Gleichung. Es war das Nichts, das gleichzeitig für das Ganze stand. Der äußerste Rand der Entgrenzung. Einfacher gesagt, Gott hielt mir die Knackwurst der Ewigkeit vor die Nase, aber ich schnappte nur in den Widerhaken des Diesseits.«

Diderot ließ sein ausgehöhltes Lachen in den Raum schallen und haute auf einen versteckten Schalter. Licht fuhr mir stechend in die Augen. Die Hunde winselten. Marie-Louise trippelte ins Zimmer, riss die Cidre-Krüge vom Tisch und stieß die Fenster auf. Die Dalmatiner fuhren jaulend in die Höhe. Didi bleckte die Zähne und hechelte mich an:

»Es kostet vierzehnhundert Dollar.«

»Was?« entfuhr es mir.

»Das Programm, mon frère.«

»Welches Programm?«

»Das Nahe-Tod-Programm.«

Ich verstand nichts. Didi beugte sich zu mir vor, ein Lehrer zu seinem behinderten Schüler.

»Susan Blackmore« erklärte er nachsichtig, »Lehrbeauftragte für Sozio-Psychologie an der Universität Bristol. Sie hat ein Nahe-Tod-Programm geschrieben. Wir haben es im Archiv meines Institutes auf CD-ROM. Es simuliert den >Tunnel< absolut perfekt. Auf dem Bildschirm ist es praktisch identisch mit dem, was ich sah, als ich beinahe starb in dem Vampir-Hospital in Paris. Sie hat alles berechnet und kann es simulieren. Die geniale Software des finalen Zwischenzustandes. Der Tunnel und sein jenseitiges Dahinter sind nichts als das letzte Rauschen der Sehrinde des sterbenden Gehirns. Neurone, die ihren Dienst quittieren. Das Jenseits als Abfallprodukt des terminalen Sauerstoffmangels. So einfach ist das, mein Freund. Morgen spiele ich es dir vor. Für den Blick ins ewige Leben brauchst du nichts als einen schnellen Rechner und Susan's Silberscheibe. Gute Nacht! Das war's. Droite und Gauche sind sterbensmüde. Im Turmzimmer wird Marie-Louise dir einen Krug richten - mit Milch.«


Linus S. Geisler: DUFTESSER    Leseprobe: Kapitel 10 (Diderot 3)   ISBN: 978-3-8334-7472-9
URL: http://www.linus-geisler.de/duftesser/geisler_duftesser10.html

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