Niemand
hat mich sicherer durch die Erstarrungen jenes ersten eisigen Wintersemesters
gerettet als Diderot. Damals froren die Enten mit ihren gelben Füßen
im Fluss fest. Ich nannte ihn bald Didi. Er hieß wirklich
so, war Sohn eines provenzalischen Weinbauern. Er studierte nicht in Frankreich
sondern in Deutschland, weil er alle französischen Denker für
schizothym
hielt, bis zur Brüchigkeit ihrer Gehirne überfeinert, und in
der germanischen Barbarei der Eigentlichkeit, wie er es nannte,
ein Semester lang so etwas wie eine Klausur in Narkose durchleben wollte.
Zunächst war er mir im Gedrängte des Präpariersaales nicht
aufgefallen, obwohl er ein massiger Hüne war und sicher mehr als hundert
Kilo wog, auch war er einige Jahre älter als die meisten von uns.
Er trug die Haare schulterlang. Ich vermute, dass er sie in seinen gelegentlichen
Anfällen von Rastlosigkeit mit hastigen Scherenschnitten selbst zurechtstutzte.
Die Nase war knotig, seine Augen zu klein im massigen Gelände seines
Gesichts, aber von wieselhafter Flinkheit, die dünnen Lippen eine
Sperre, über deren Freigabe alleine er mit rigoroser Ichsucht verfügte.
Nur beim ersten Hinsehen erschien er als tapsiger Unhold, immer mit einem
kuttenartigen Stoffkonvolut behangen, das ihn von hinten zum debilen Trappistenmönch
degradierte. Von dem Augenblick an aber, wo er zu sprechen begann - falls
er sich entschloss, irgend einem Günstling diese Gnade zu erweisen
-, wurde er zu einem Feuerwerker brillanter gallischer Fantasmen. Aber
nie gab er sich unkontrolliert seinen Selbstverzückungen hin. Er unterwarf
periodisch seine Gedanken und Visionen einer gnadenlosen und logischen
Prüfung von unbestechlicher Klarheit.
Wie er auf mich verfallen
war, weiß ich bis heute nicht. Nach dem einen gemeinsamen Wintersemester
verlor ich ihn für drei Jahrzehnte aus den Augen, um ihn dann an der
Sorbonne als einen der führenden französischen Genetiker wiederzutreffen.
In seinem Institut hatte er sich mit acht seiner hyperbegabten Adepten
in einer Mischung aus mediterraner Gelassenheit und preußischer Perfektion
dem Ziel verschrieben, den herrenlosen Text des Lebens zu entschlüsseln,
vor allem aber zu korrigieren.
Er klingelte eines Abends
bei mir, warf sich auf meine Couch, was diese für Sekunden in physikalische
Grenzbereiche ihrer Belastbarkeit versetzte, sagte, er heiße Diderot,
wirklich Diderot, wie jener Denis mit seiner Encyclopédie.
Sein Vorname sei allerdings Alphonse, und ich würde im übrigen
eines Tages verstehen, dass kein Name Zufall sei. So habe er wahrhaftig
eine Augenärztin mit dem Namen Aveugle, also Blind -
man stelle sich vor Madame Aveugle und einen Elektrizitätswerksdirektor
kennen gelernt, der Lumière hieß. Zu verdanken habe
er alles seinem Vater, dem Weinbauern.
»Er starb eines nachts
an seinem eigenen Wein. Aber nicht so, wie du jetzt vielleicht meinst,
im Suff erstickt, nein, er zelebrierte einen für einen Winzer bemerkenswerten
Abgang. Charlotte, rief er kurz nach Mitternacht meiner Mutter zu, schauen
Sie her! Zugegebenermaßen keine sehr ausgefallenen letzten Worte,
wenn ich an andere denke (Wagner: Was für eine herrliche Relieftapete!
Ist sie bezahlt?), aber dann richtete er sich auf und spie schwallweise
den köstlichsten Burgunder aufs Bett, das Surrogat aller Spitzengewächse,
die er je gekeltert hatte, den Burgunder aller Burgunder. Dr. Moretat freilich,
der schwachsinnige Hausarzt, den man überflüssigerweise hastig
herbeizitiert hatte, wagte es, die rubinrote Eruption als ordinären
Blutfluss aus einer geplatzten Speiseröhrenkrampfader bei alkoholischer
Leberzirrhose zu deuten. So weit so gut, vielleicht kein ganz exzeptioneller
Exodus für einen Weinbauern. Aber stell dir vor, nur zwei Tage später
richtet sich sein Zwillingsbruder Jean, sie glichen sich wie ein Ei dem
anderen, um die gleiche Nachtzeit auf, ruft seiner Josephine zu, sehenSie
her!, und gibt die gleiche karmesinfarbige Inkarnation aller Rotweine
von sich, die Hände zu einem rasch überquellenden Kelch geformt.
Und dann die Krönung: Ein halbes Jahr später stirbt der letzte,
der ältere Bruder, Onkel Théophile. Er soff das Mehrfache seiner
heimgegangenen Zwillingsbrüder. Bei einer Überlandfahrt in Irland
knallt er zwischen Limerick und Killaloe mit seinem Wagen gegen einen Wegweiser
aus Stein. Zuvor hatte er angewidert zwei Gläser irischen Malt-Whisky
- eine Beleidigung für die Zunge jedes Provenzalen - getrunken und
sich unter dessen Einwirkung plötzlich geweigert, den Linksverkehr
als sinnvolle Regelung zu akzeptieren. Die irische Polizei bestand auf
seiner Obduktion. In der Prosectur der Infirmary von Limerick öffneten
sie seinen Leib. Die Leber, die sie erblickten, hätte in ihrer Unschuld
dem von allen Spuren der Lüsternheit verschonten Körper einer
Ursulinerin entstammen können. Da wurde ich stutzig. Wer oder besser
gesagt welches Prinzip verteilte mit Perfidie so ungleiche Karten, zinkte
sie mit Markierungen, die kein anderer sehen und somit auch keiner entfernen
konnte, und die dem Spieler, dem sie zufielen, keinen Hauch einer Chance
ließen?«
»Und das hat dich bewogen,
Medizin zu studieren?« nahm ich mir den Mut, Diderot zu unterbrechen.
»Nenn mir Alternativen!
Theologie? Ich habe sieben Semester in Rom an der Gregoriana studiert.
Zuviel Dogmen, Sophisterei und Onanie und zu wenig kritische Köpfe.
Biologie? Nach fünf Semestern Studium wusste ich mehr über das
Innenleben der kleinen Essigfliege Drosophila melanogaster als über
mein eigenes. Sieh sie dir an, die Herren Crick und Watson. Sie decodieren
den Text des Lebens, die unbegreifliche geometrische Schönheit der
Doppelhelix der DNA. Aber wofür haben sie Augen? Für das endlose
Adenin-Thymin-Guanin-Cytosin-Alphabet. Wahrscheinlich murmeln sie selbst
noch im Schlaf ihre endlosen ATGC-GTAC-Sequenzen, das OM MANI PADME HUM
der Genetiker. Aber was liegt wirklich vor ihren Augen? Die Antwort findest
du im ersten Buch der Genesis.«
Mit hohepriesterlich erhobenen
Händen begann er zu rezitieren:
»Da hatte er einen
Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte.
Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand
oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der
Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen
geben.«
»Da hast du sie, die
Jakobsleiter, die Himmelsleiter, das ist die Doppelhelix in Wahrheit. Bei
ihrem Anblick gestand Salvador Dalí, jetzt habe er in Wirklichkeit
die Existenz Gottes geschaut!«
Diderot lehnte sich zurück
und begann ein schwärzliches Gefaser, ähnlich den Haarbüschelchen
der Maiskolben, in Zigarettenpapier einzudrehen. Angezündet war der
Geruch der Selbstgedrehten überraschend aromatisch und von unaufdringlicher
Süße. Rotwein werde er demnächst mitbringen, verkündete
er dann, nichts Erlesenes, aber ein aufrichtiger Wein vom heimischen
Gut, der zum Reden anregt und auf Ziegenkäse hungrig macht. Nie wieder
aß ich soviel Ziegenkäse wie in jenem Winter.
»Was also bleibt?«,
nahm er den Faden wieder auf. »Natürlich ist die Medizin auch
nur ein fauler Kompromiss, um hinter das Geheimnis der gezinkten Karten
zu kommen. Aber sie erlaubt es mir sozusagen von außen, naiv, wenn
du willst, in die Sache einzusteigen. Da gibt es drei Brüder, zwei
trinken Rotwein in Quanten, die gemessen an der Erhaltungsdosis französischer
Weinbauern als bescheiden zu bezeichnen sind, und krepieren an einem Blutsturz
mit Lebern, die aussehen wie alte Kartoffelsäcke. Der Dritte, ein
unheiliger Trinker, der nach zwei Malt-Whisky die Kontrolle über sein
Fahrzeug verliert, stirbt mit der Leber einer Madonna. Ich habe drei Lebensläufe,
zwei so gut wie identisch, der dritte schlägt völlig aus der
Art. Hier ist mein Einstieg und nicht beim Heiligen Augustinus oder
den ATGC-Repetiermaschinen. Mag sein, dass ich zum Schluss bei dem einen
oder den anderen lande. Aber zu Beginn ist dieser Lebensentwurf mein Stein
von Rosette. In hieroglyphischen und demotischen Schriftzeichen enthält
er den Text des Lebens und ich bin der begnadete Entzifferer Champollion.«
Er legte eine kurze Pause
ein, dann nahm er den Faden wieder auf:
»Aber das ist nur der
erste, ich möchte fast sagen selbstverständliche Schritt. Der
Stachel ist die Frage dahinter: Wer schrieb den Text und wozu? Was hatte
er damit im Sinn? Warum entließ er den Menschen nicht ohne Gottesprogramm
in die Evolution? Oder könnte es nicht sein, dass es gar niemanden
gibt, der den Text verfasst hat? Du weißt, die Franzosen haben schon
immer Gott am gründlichsten und raffiniertesten bezweifelt. Bernanos,
Claudel, aber allen voran Pascal. Seine berühmte Wette: Wenn Gott
nicht existiert, verliert man nichts, wenn man an ihn glaubt, aber wenn
er existiert, läuft man Gefahr alles zu verlieren, wenn man nicht
an ihn glaubt. Aber seine logique du cœur ist für mich ein
Zwitter. Ich bin für logische Methoden, bei denen man nicht das Herz
als Joker im Ärmel behält. Wirf einem Zufallsgenerator fünf
Millionen Buchstaben in den Schlund. Mit einer mathematisch nicht mehr
ausdrückbar verschwindenden Chance besteht die Möglichkeit, dass
er in abermillionen Jahren daraus den Tartuffe
konstruiert. Du hältst
das für unmöglich? Jeder Statistiker wird dir sagen, dass die
Chance der Randomisierungsmaschine beim ersten Versuch Molière
Konkurrenz zu machen genau so groß oder klein ist wie beim letzten.
Wozu also Molière? Hätte die Menschheit ausreichend Geduld,
könnte sie im Vertrauen auf das Zufallsgerät glatt auf unser
Genie verzichten. Die Frage, was wollte Molièreuns damit sagen,
wäre der göttlichen Lächerlichkeit preisgegeben.
Das
sind die Fragen, die beim Anblick der makellosen Leber meines versoffenen
Onkels Théophile aufsteigen. Letzte Fragen. Und die Medizin ist
möglicherweise nur das Nadelöhr, durch das ich mich zwängen
muss.«
Ich wusste nicht, was ich
antworten sollte. Diderot kramte die Ingredienzien zur nächsten Selbstgedrehten
aus den Tiefen seiner Kutte. Nie wieder habe ich einen Menschen gesehen,
der den Rauch einer Zigarette mit solch gedankenvoller Inbrunst in die
äußerste Peripherie seiner Atemwerkzeuge saugte, ein singulärer
Prozess der Verschmelzung von Anorganischem und Organischem.
»Habe ich dir schon
einmal die Geschichte vom Beil im Gehirn erzählt?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ein grandioses Bild.
Es stammt von meinem Namenspatron Denis. Bei ihm findest du die Metapher
vom Beilhieb im Kopf. Nur durch diese gewalttätige und unberechenbare
Absage an jede Regel könne das große Werk entstehen. Es ist
der Beilhieb menschlicher Wissbegierde, der die Schädel spaltet und
öffnet, sie aufnahmefähig macht für das absolute Neue. Im
achtzehnten Jahrhundert gab es die hohe Zeit der Keratoplastiker. Sie formten
aus Wachs anatomische Faksimile, wahre Wunderwerke an Plastizität
und Lebensnähe. Einer der größten war André-Pierre
Pinson. Von ihm stammt ein aus Wachs geformter weiblicher Kopf, vom Scheitel
bis zum Hals aufgebrochen und die beiden Hälften auseinandergebogen.
In diesen Spalt zwingt Pinson den Blick des Betrachters, er soll eindringen
in das offengelegte Gehirn, ihm seine Geheimnisse entreißen. Pinson
hat begriffen, was Diderot mit dem Beilhieb im Kopf meinte! Rituale, Regeln
und Maxime sind das Todesurteil des Künstlers und Forschers. Du musst
die Dinge spalten. Gehirne, Werke, Atome. Deswegen faszinieren mich bei
allem kontrollierten Entsetzen die Rauchpilze über Hiroshima und Nagasaki.
Seit Hiroshima ist nichts mehr wie zuvor, nicht die Natur und nicht die
Liebenden. Aber die letzte große Aufspaltung der Menschheit liegt
noch vor uns. Das Genom. Die vollständige Bibliothek der Erbinformationen
des Menschen. In zwanzig, vielleicht dreißig Jahren wird es der letzte
Beilhieb menschlicher Neugier gespalten haben. Gemessen an dieser Aufgabe
war der Bau der Pyramiden ein Klitterwerk von schwarzarbeitenden Dilettanten.
Stell dir vor, einhunderttausend Gene werden vor uns liegen, einhunderttausend
aufgeschlagene Folianten! Der Text ohne Autor entziffert bis zum letzten
Komma.«
»Das«, fragte
ich zögernd »wird die Krönung - wessen auch immer - sein?«
Jetzt kam jener Ausdruck
in Diderots tiefliegende, zu kleine Augen, der auch dreißig Jahre
später, als das Genom vollständig entschlüsselt vor ihm
lag, sich eher verstärkt als abgeschwächt hatte. Ein Wolfsblick,
dachte ich im ersten Augenblick. Aber nein, es war der Blick einer Bestie,
verrückt vor Hunger, einem Hunger, der durch jeden gierigen Bissen
die Gier nur noch verstärkt, sich selbst zu verschlingen. Ein Blitz
nur, so flüchtig, dass ich im nächsten Augenblick an meiner Wahrnehmung
zweifelte.
»Krönung?«,
fragte er und sah mich verständnislos an. »Nein, mon frère,
die Dämmerung des ersten Schöpfungstages.«
Diderot war über mich
gebeugt und träufelte das Gift seiner Visionen in mein Gehirn. Es
verteilte sich in langsamen Rinnsalen über seine Oberfläche,
schlängelte sich zwischen die Windungen, begann in das Neuronengeflecht
einzusickern, ein Narkotikum mit schleichender, aber todsicherer Wirkung.
Bevor seine volle Wirkung eintrat, versuchte ich Diderot zu provozieren,
eine schwächliche Abwehr, um mich so lange wie möglich bei Besinnung
zu halten:
»Und wer, Didi, wird
im Aufdämmern dieses ersten Tages der Schöpfer sein?«
Statt auf meine Frage einzugehen,
warf er sich mit gekünsteltem Pathos in die Brust und begann, Benn
zu deklamieren:
»Wir tragen in uns
Keime aller Götter,
das Gen des Todes und
das Gen der Lust.«
Dann lachte er schallend
und rief aus:
»Ich sehe sie schon
vor mir, die Angsthasen und ethischen Deserteure der Wissenschaft. Für
ihre Gehirne, mit denen sie ein Leben lang nur in den Genen der Taufliege
herumgestochert haben, wird die Bibliothek des Lebens ein Ort babylonischer
Verwirrung sein. Das Erschrecken des Narziss, der zum erstenmal sein Spiegelbild
zitternd auf der Wasseroberfläche schaut. Nur wenige werden mit der
großen Klarheit des Geistes Band für Band aus den Regalen holen.
Die neuen Exegeten der uralten Genesis.«
Diderot kam immer mehr in
Fahrt.
»Niemand weiß
es heute genau. Aber die Schätzungen gehen von fünfzigtausend
bis hunderttausend Genen aus. Stell dir das vor! Jedes Gen steht für
irgendeine Facette menschlicher Erscheinungsformen oder Verhaltensweisen.
Die Krümmungen deiner Ohrmuschel, die Farbe deiner Iris, die Elastizität
deiner Haare, dein unverwechselbares Gangbild, alles ist in diesem Text
niedergelegt, ob du eine Baß- oder Tenorstimme hast, beim Klettern
geschickt bist oder tollpatschig, eher Moll- als Dur-Tonarten liebst, alles
ist vorbestimmt, dein Leben aber auch dein Sterben. Ob du vertrottelt im
Altenheim versanden wirst oder dich mit fünfzig der Schlag trifft,
ob dein Magen dich jahrelang mit brennenden Geschwüren quälen
oder zuerst deine Leber ihren Dienst einstellen wird - denk an Onkel Théophile
-, im Orakel des Großen Textes ist alles unverrückbar niedergelegt.
Die Landkarte ist längst da, bevor es dich als Gelände gibt.
Was heute noch Terra incognita ist, wird sich schon übermorgen
in geheimnisvolle Kontinente aufgliedern, die sehnsüchtig ihrem Odysseus,
Magellan, Columbus oder Pedro Paez entgegenfiebern. Und wir werden
die Weltenumsegler, die Entdecker neuer Erdteile, die Fährtensucher
sein, die die Quellen des Blauen Nils aufspüren, die Quadratmeile
um Quadratmeile die weißen Flecken wegschmelzen, bis am Ende alle
Gebirge und Täler, alle Meere und Flussläufe, alle Seen und Wasserfälle,
alle Dschungel und Wüsteneien, alle Eisgebirge und Tropenlandschaften
des großen Atlas lückenlos, plastisch und in leuchtenden Kolorierungen
dargestellt sind.«
Diderots narkotische Einträufelungen
lösten eine wohlige Widerstandslosigkeit in mir aus. Zurückgelehnt
ließ ich seine Kolossalgemälde der Vorbestimmtheit des Menschen
vor meinen Augen emporsteigen und gab mich ihren Faszinationen hin, unfähig,
die Folgerungen dieser monumentalen Bilderschau weiterzudenken, obwohl
mich ein untergründiges Unbehagen zu beschleichen begann. Eine kleine,
letzte Welle von Widerstand öffnete meinen Mund, aber ich brachte
nur ein Satzfragment heraus:
»Was, dann ...?«
Zu meinem Erstaunen schien
aber gerade dieser Ansatz einer Frage, Diderots visionäre Fahrt vehement
zu beschleunigen.
»Dann, mon frère,
wenn die Entdeckungen abgeschlossen sind, die Kartographie beendet, dann
erst wird das Beil seine volle Wucht entfalten. Es wird den Weg von der
Entdeckung zur Eroberung freischlagen, die Riesenmachete des Geistes, die
den Dschungel der Unwissenheit lichtet. Dann werden wir den Atlas nach
unseren eigenen Bildern umgestalten. Nichts wird sich der Kraft
unserer Visionen in den Weg stellen können, alles was wir schauen
werden,
wird sich als neue Wirklichkeit erfüllen. Wir werden die Mystiker
des zwanzigsten Jahrhunderts sein. Aber anders als Meister Eckhart, Hildegard
von Bingen oder Franz von Sales werden wir nicht in Kartausen und Klausuren,
in Gottesfrömmigkeit, abgeschirmt von der sündigen Welt, unsere
Erscheinungen und Erleuchtungen ausleben. Nein, wir werden auf die Kanzeln
der Kathedralen der Wissenschaft steigen und verkünden, was wir geschaut
haben, unsere Enzyclica novae humanae vitae - bis die Völker
uns zu Füßen liegen, nur noch von einer Sehnsucht erfüllt:
dass diese Worte Fleisch werden.«
Ich nahm Diderots Phantasmagorien
immer weniger in Details wahr, sondern mehr und mehr als visionäre
Spiegelungen neuer Welten, eine kosmische Fata Morgana. Und die Menschheit
brach auf in das neue gelobte Land! Mein gallischer Koloss gönnte
mir eine Besinnungspause. Er hatte die Wirkung seines Narkotikums genau
dosiert und wusste, was er mir noch zumuten konnte. Mein Mund war bereits
versiegelt, meine Glieder zu keiner Regung mehr fähig. Augen und Ohren
verschmolzen zu einem gemeinsamen Sinnesorgan, dessen versickernde Wachheit
eben noch fähig war, die Kulmination seiner mystischen Schau aufzusaugen.
»Wenn der Flügelschlag
meiner Visionen ihre Stirnen gestreift hat und sie von meinem Nektar gekostet
haben, werden sie mir in das neue gelobte Land nachfolgen!«
Hatte ich es nicht gerade
schon gesehen, den Aufbruch der Massen in das Neue gelobte Land? Was hatte
er
verheißen und was hatte ich gehört? War da noch eine
Grenze oder war er schon in meinem Kopf und ich dem seinen? Wo lag noch
der Unterschied?
»Sie werden mir ihre
Gene zu Füßen legen, mon frère, die Gene der Krankheiten
und Gebrechen, des Alters und der Vergreisung, des Zerfalls der Sinne und
des Denkens und als äußerste Opfergabe das Gen des Todes. Und
ich, der ich die Texte aller Gene entschlüsselt habe, werde in gläsernen
Schalen ihre Samen und Eier auffangen und werde mich an das letzte große
noch unerledigte Werk machen: Ich werde die Texte umschreiben zu
einer neuen, unvergänglichen Hymne! Brahma werde ich sein, der Erbauer
der Welt, auf einem Lotusblatt schwimmend auf den Wassern, und ich werde
das Wasser und die Dunkelheit trennen und aus dem universalen Ei als Licht
hervorgehen.«
Als ich erwachte, war ich
erschöpft und hungrig, mein übertölpeltes Hirn ein schmerzhaft
pulsierender Ledersack. Schneelicht fiel in mein Zimmer. Autogeräusche
und Straßenbahngeklingel drangen herein. Ich fühlte mich entsetzlich
verlassen. Diderot war verschwunden. Nur die Couch wies eine kreisrunde
Vertiefung auf dort wo er gesessen hatte, und es roch nach seinen Selbstgedrehten,
scharf und säuerlich. Er hatte mich an der Angel.
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