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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Sprechen mit Sprachlosen - Kommunikation mit Aphasikern 
Die Welt des Aphasikers
Möglichkeiten und Grenzen der Sprachtherapie
Sprachtraining
Fehler im Umgang mit Aphasikern
 
 
Der Mensch ist das Wesen, das spricht. Sprache ist seine Fähigkeit. Sie birgt
und enthüllt seine Möglichkeiten. Stummheit ist ein Gebrechen. Der sprechen
kann und der Sprache hat, ist ein Mensch. Sprache ist menschlich. Die
Menschlichkeit des Menschen zeigt sich in seiner Sprache, in der Sprache 
schlechthin.
Dolf Sternberger(1986)
Sprechen mit Sprachlosen -
Kommunikation mit Aphasikern
Der Verlust der Sprache (Aphasie) ist die schwerste Form der Kommunikationsstörung, die der Mensch erleiden kann. Aphasie als Verlust der Sprache ist mehr, als zur Stummheit verurteilt zu sein. Der Begriff Aphasie umfasst viele Fähigkeiten, die an das Sprechen gebunden sind. Beim Aphasiker können daher eine oder mehrere der folgenden Fähigkeiten gestört sein: Sprechen, Sprachverständnis, Lesen, Schreiben, Buchstabieren, Zählen, Rechnen. Gerade weil der Aphasiker sprachlich unfähig ist, seine Kommunikationsstörung zu artikulieren, und sich die Verständigung mit ihm daher äußerst mühevoll gestalten kann, droht ihm ständig die Gefahr, nicht nur seinem "Käfig der Sprachlosigkeit" nicht entrinnen zu können, sondern in ihm auch noch allein gelassen zu werden. Ein beredtes Beispiel dafür im klinischen Alltag ist der Umgang mit aphasischen Apoplektikern. Eine Systematik der aphasischen Störungen enthält die Tabelle

Abb.: Formen der Aphasie

Da die Zahl geschulter Logopäden bei weitem nicht ausreicht, alle Aphasiker zu betreuen, muss jeder Arzt, der mit Aphasikern zu tun hat, die Grundzüge der Kommunikation mit Patienten, die unter aphasischen Störungen leiden, beherrschen. Langfristig ist die Einschaltung von Angehörigen und anderen Bezugspersonen für den aphasischen Patienten von großer Bedeutung. Ihnen kann das Buch von Martha L. TAYLOR "Mit Aphasikern leben" (siehe Literaturverzeichnis) hilfreich sein.



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Die Welt des Aphasikers
Der meist plötzlich eingetretene Sprachverlust löst beim Aphasiker Gefühle der Hilflosigkeit, der Verzweiflung und des Ausgeliefertseins aus, zu denen sich Ängste gesellen. Anfänglich ist es für den Betroffenen kaum zu verstehen, warum er nicht mehr reden, verstehen und schreiben kann und warum die Umwelt ihn nicht versteht. Im Aphasiker kann sich dann leicht die Vorstellung festsetzen, geisteskrank zu sein.

Die Aphasie ist nie eine einfache und isolierte Störung, sondern eine komplexe Behinderung, die auch zu Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens führt. Die Patienten sind häufig rasch ermüdbar, leiden unter Konzentrationsstörungen und Störungen der Merkfähigkeit, sind affektlabil, leicht reizbar und gelegentlich aggressiv. Aggressionen entstehen nicht selten als Reaktion auf das Verhalten einer verständnislosen Umwelt. Die intellektuelle und körperliche Leistungsfähigkeit weist starke Schwankungen von Tag zu Tag auf.

Der erste wichtige Schritt besteht darin, dem Aphasiker mit einfachen Worten zu erklären, dass er unter einer Sprachstörung leidet, worauf sie beruht und dass sich diese Störung im Laufe der Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit bessern oder ganz verschwinden wird. Oft ist es notwendig, die Problematik mehrfach zu erklären. Ebenso wichtig ist es, dem Aphasiker klarzumachen, dass er nicht geisteskrank oder geistesgestört ist. Als nächstes sollte ihm erklärt werden, dass gezielte Sprachübungen geplant sind und in Kürze beginnen werden, die es ihm erleichtern sollen, sich möglichst rasch wieder verständlich zu machen. Bei diesem Vorgehen werden Ängste und Aggressionen abgebaut und Hoffnung vermittelt.

Viele Aphasiker sind in der Lage, kurze gebräuchliche Redewendungen ("Wie geht's?", "Guten Tag" usw.) im Sinne einer automatisierten Sprache zu verwenden. Viele Aphasiker sind auch in der Lage zu zählen, das Alphabet aufzusagen oder Lieder zu singen. Diese automatisierten, von selbst ablaufenden Sprachleistungen besitzen jedoch nicht unbedingt eine prognostische Bedeutung. Es ist auch nicht möglich, durch Singen das Sprechen des Aphasikers zu verbessern. Natürlich soll ein Aphasiker, der früher gern gesungen hat, auch jetzt versuchen zu singen, weil ihm dies Auftrieb geben kann.



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Möglichkeiten und Grenzen der Sprachtherapie
Nach der akuten Krankheitsphase kann es innerhalb der nächsten 6 -12 Monate zu spontanen Verbesserungen kommen. Der Sinn der Sprachtherapie besteht u.a. darin, diese spontane Besserung zu beschleunigen und eine möglichst große Beständigkeit der sprachlichen Leistungen zu erzielen. Das Sprachtraining verfolgt aber nicht nur das Ziel, die sprachlichen Leistungen zu verbessern, sondern auch als eine Form der menschlichen Zuwendung den Kranken zu stützen, zu motivieren und aufzurichten.

Die Sprachtherapie darf den Patienten nicht überfordern. Deshalb sind kurze, häufige Übungen besser als längere, die den Patienten ermüden. Motivation und Ermunterung zur Sprachtherapie sind nützlich, Sprachtherapie unter Druck hingegen kann die sprachliche Rehabilitation gefährden.

Versuche mit sogenannten Ersatzsprachen (z. B. Zeichensprache) haben sich beim Erwachsenen als nicht erfolgreich erwiesen. Für den Aphasiker scheint es schwieriger zu sein, eine neue Kommunikationsform zu erlernen, als wieder einen begrenzten normalen Wortschatz aufzubauen. Bei Aphasikern, die mehrere Sprachen beherrscht haben, lässt sich die Muttersprache am raschesten wieder lernen.

Der Erfolg einer Sprachtherapie hängt von dem Schweregrad der Sprachstörung, der zugrundeliegenden Erkrankung, den verbliebenen intellektuellen Fähigkeiten, dem Lebensalter und der Motivierbarkeit zum Sprachtraining ab. So gibt es auf der einen Seite Patienten, die trotz fachkundiger Sprachübungen völlig aphasisch bleiben, und andere, die im Idealfall lernen, wieder weitgehend normal zu sprechen (prominente Beispiele: Präsident Eisenhower, Sir Winston Churchill).



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Sprachtraining
Die Sprachbehandlung soll so rasch wie möglich einsetzen. Der Aphasiker versteht am besten, wenn mit ihm langsam und in einfachen, kurzen Sätzen gesprochen wird. Ein beliebter Fehler ist es, mit dem Aphasiker laut zu sprechen, in der Annahme, sein Verständnis dadurch zu verbessern.

Das Ziel der Sprachübungen soll darin bestehen, dass der Aphasiker lernt, einen begrenzten Wortschatz wiederzugewinnen, der auf seine individuelle Situation abgestimmt ist. Für den bettlägerigen Krankenhauspatienten sind daher beispielsweise die Wörter "Teller", "Bett" und "Verdauung" wichtiger als "Wald", "Straßenbahn" oder "Hund". Wesentlich ist es zunächst, gegenständliche und wirklichkeitsbezogene und nicht abstrakte Begriffe zu üben. Der Aphasiker lernt die Bezeichnung für Dinge, die er sehen, hören oder fühlen kann, leichter als abstrakte oder Sammelbegriffe. So gelingt es ihm in der früheren Phase der Restitution leichter, Wörter wie "Brot", "Bein" oder "Hemd" zu erlernen als "Essen", "Gehen" oder "Kleidung". Bei Wörtern mit gleicher Bedeutung soll der gebräuchlichere Begriff verwendet werden ("Stuhl" statt "Sitzgelegenheit", "Auto" statt "Kraftfahrzeug").

Zunächst soll ein kleiner Sprachschatz erlernt werden, der die wichtigsten Gegenstände des Alltags betrifft, wie z. B.: "Bett", "Stuhl", "Toilette", "Geld", "Uhr", "Brot", "Butter", "Kaffee", "Telefon", "Arzt", "Schuhe", "Mund", "Schlüssel", "Seife", "Hand", "Bein", "Tisch", "Haus". Später kommen dann Wörter hinzu, zu denen der Aphasiker eine persönliche Beziehung hat. Also beispielsweise für einen Gärtner "Blumen", "Samen", "Beet", usw.

Es ist ferner wichtig, dass der Aphasiker die verschiedenen Wortarten in einer sinnvollen Reihenfolge erlernt. Zunächst sollte der Aphasiker Substantive (Hauptwörter), Verben (Tuwörter) und Adjektive (beschreibende Eigenschaftswörter) erlernen. Erst zuletzt werden Adverbien (Umstandswörter), Artikel (Geschlechtswörter), Präpositionen (Fürwörter) und Konjunktionen (Bindewörter) erlernt. Vielen Aphasikern bereiten die "kleinen Wörter" (Präpositionen, Konjunktionen und Artikel) wesentlich mehr Schwierigkeiten als das Erlernen von Hauptwörtern. Dies gilt in erster Linie für den Patienten mit motorischer Aphasie, während es bei amnestischen Aphasikern gerade umgekehrt ist.

Der Aphasiker sollte immer wieder zum Sprechen angeregt werden. Dies gelingt am ehesten, wenn das Gespräch zum angenehmen Erlebnis für den Aphasiker wird (Lob, Zuwendung). Der Aphasiker sollte generell viel Gelegenheit haben, Sprache zu hören, ohne jedoch überfordert zu werden (Mitverfolgen von Gesprächen, Radio, Fernsehen). Häufige kurze Übungen sind wichtiger und effektiver als ausgedehnte Sprachübungen in langen Intervallen. Das Behandlungsziel sollte realistisch und auf die kurzfristig erreichbaren Möglichkeiten abgestimmt sein. Durch empathisches Verhalten soll der Aphasiker das Gefühl haben, dass seine Umwelt versteht, wie schwer ihn seine Behinderung trifft.

Zusätzliche Schreibübungen können das Lesen und Sprechen fördern. Da bei hemiplegischen Aphasikern meist die rechte Körperhälfte betroffen ist, muss der Patient häufig lernen, die linke Hand zum Schreiben zu benutzen. Die Schreibübungen sollten in Schreibschrift und nicht mit Druckbuchstaben durchgeführt werden, weil die meisten Menschen die Schreibschrift besser als die Druckschrift beherrschen und weil später in einem neuen Lernprozess von Druckschrift auf Schreibschrift übergegangen werden müsste.

Für Leseübungen eignen sich gedruckte oder maschinengeschriebene Texte besser, da die meisten Menschen vorwiegend gedruckte Texte lesen. Aphasiker können eher Texte mit übergroßen Buchstaben als mit normal großen Lettern lesen, möglicherweise, weil die außerordentliche Buchstabengröße stimulierend wirkt. Wegen der eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit sind die Patienten allerdings anfangs nicht in der Lage, längere Zeit zu lesen. Viele Aphasiker beschäftigen sich mit ihrer Tageszeitung, obwohl sie sie noch nicht wieder lesen und verstehen können. Dennoch kann das Beibehalten dieser Gewohnheit anregend sein.



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Fehler im Umgang mit Aphasikern
Das Erzwingen des Sprechens oder einer Sprachbehandlung ist meist nicht erfolgreich. Der Nutzen einer Sprachbehandlung ist eng an die Bereitschaft des Patienten geknüpft, sich behandeln zu lassen. Besuche einzuladen, in der Absicht, den Patienten dadurch zu vermehrtem Sprechen anzuregen, ist nur sinnvoll, wenn der Patient den Besuch selbst wünscht und nicht durch eine lange Besuchsdauer überfordert wird.

Es ist ungünstig, anstelle des Aphasikers zu sprechen, weil dadurch sein Gefühl der Abhängigkeit verstärkt und das Selbstvertrauen untergraben wird.

Menschen beim Sprechen zu unterbrechen, ist immer ungünstig. Dies trifft ganz besonders für den Aphasiker zu. Er muss genügend Zeit bekommen, ohne Ungeduldsreaktionen der Umgebung nach seinen Worten zu suchen.

Es ist zunächst auch nicht wichtig, dass der Aphasiker jedes Wort perfekt ausspricht, wichtig ist es zunächst, dass er sich inhaltlich verständigen kann. Jede Form der Isolierung führt zu einer Verschlechterung der Sprechleistung, jede Überforderung zu einer Störung des Selbstvertrauens. Bei allen Bemühungen um den Aphasiker ist es wichtig, ihn zu einem aktiven Verhalten anzuregen und seine Eigeninitiativen nicht abzublocken.

Im Idealfall wird durch das "Sprechen mit Sprachlosen" nicht nur Verständigung und das teilweise Wiedererlernen der Sprache möglich, sondern auch das Verarbeiten und Überwinden der Krankheit, die zur Aphasie geführt hat.
 

Leitlinien zum Umgang mit Aphasikern
  1. Die Aphasie erklären und Verstehen signalisieren
  2. Besserung in Aussicht stellen
  3. Erklären: Aphasie bedeutet nicht Geisteskrankheit
  4. langsam in einfachen und kurzen Sätzen sprechen
  5. Sprachübungen nicht erzwingen
  6. häufige kurze Übungen
  7. realistisches Therapieziel anvisieren
  8. Wortauswahl in Abhängigkeit von der persönlichen Situation des Patienten
  9. Reihenfolge der Wortarten: zunächst Substantive, Verben und Adjektive, zuletzt Adverbien, Artikel, Präpositionen und Konjunktionen
  10. Schreibübungen in Schreibschrift (linke Hand?), Leseübungen in großer Druckschrift
  11. loben, motivieren, zum Sprechen anregen (Radio, Fernsehen)
  12. viel Geduld, sparsame, behutsame Kritik
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
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Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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