Betreuung der Angehörigen
Die Behandlung eines Familienmitglieds auf
der Intensivstation ist für Angehörige ein meist unvorhergesehenes
Ereignis, das sie wie ein Schock trifft. Ihr Verhalten ist zunächst
in hohem Maße emotional bestimmt. Es hängt ferner von
der Qualität der Beziehung zu dem erkrankten Angehörigen ab und
wird mitbestimmt durch das meist negativ geprägte Bild der Intensivmedizin
in der Öffentlichkeit.
Die Betreuung der Angehörigen ist
keine lästige Nebenaufgabe in der Intensivmedizin, sondern gehört
zum Gesamtbehandlungskonzept. Die Betreuung der Angehörigen ist
mittelbar auch eine Betreuung des Patienten, denn die Krise des Patienten
ist vielfach auch eine Krise der Angehörigen. Der sorgfältig
und vernünftig vorbereitete Angehörige kann für den Kranken
zu einer nicht zu unterschätzenden Quelle der Kraft werden. Andererseits
kann der Angehörige, der im Behandlungsteam und in der Intensivstation
nur Feindbilder erkennt, die Betreuung des Patienten erheblich erschweren.
Im Idealfall gelingt es, den Angehörigen im weitesten Sinne in das
Behandlungsteam zu integrieren.
Der Arzt auf der Intensivstation, nicht
selten physisch und emotional bis an die Grenzen belastet, sieht sich immer
wieder vor die manchmal kaum lösbar erscheinende Aufgabe gestellt,
eine tragfähige Brücke zu einem Angehörigen zu schlagen,
den er vielleicht als schwierig oder zumindest als zusätzliche Belastung
erlebt. Er wird mit den vielfältigsten Reaktionen und Verhaltensweisen
konfrontiert: Aggression, Trauer, Hilflosigkeit, Unsicherheit, Schuldgefühle,
Ängste, Vorwurfshaltung und Anspruchsdenken. Er begegnet möglicherweise
einer Feindseligkeit, die durch das Bild der Intensivmedizin in der Öffentlichkeit
und durch die Medien bestimmt ist. In anderen Fällen bewegen den Angehörigen
kindlichnaive, magisch anmutende Illusionen einer "totalen Machbarkeit
durch den Einsatz des gesamten intensivmedizinischen Repertoires" (Monika
DORFMÜLLER). Vielleicht wird er auch von apokalyptischen Visionen
verfolgt, weil er in der Tagespresse das prolongierte Sterben prominenter
Politiker, wie Franco in Spanien oder Tito in Jugoslawien, in allen Details
mitverfolgen konnte.
Die Schwierigkeiten, in einer solchen psychologisch
komplexen und emotional hochgespannten Situation Gespräche zu führen,
die die Belange des Patienten berücksichtigen, den Ansprüchen
der Angehörigen Rechnung tragen und die medizinischen Notwendigkeiten
plausibel machen, können enorm sein. Sie sind der Grund dafür,
dass häufig eingehenden Gesprächen mit Angehörigen ausgewichen
wird oder Gespräche scheitern, weil eine gemeinsame Wirklichkeit zwischen
Behandlungsteam und Angehörigen nicht gefunden werden kann.
Präsenz, Zuwendung, Empathie und
Akzeptanz
der entgegengebrachten Gefühle sind die Grundlage jeder Kommunikation
zwischen Behandlungsteam und Angehörigen. Der nächste Schritt
ist eine regelmäßige, verständliche, Angst abbauende und
warmherzige Information. Was der Angehörige ganz entscheidend
erwartet, ist das unmittelbare Eingehen auf seine aktuelle Situation und
Hilflosigkeit.
Zunächst ist es wichtig, den Schock
der ersten Konfrontation mit dem kranken Anverwandten zu mildern.
Denn
die Angehörigen sind "diejenigen, die zunächst am meisten erschrecken,
mehr als der Patient selbst. Sie sind schockiert über den großen
Aufwand der Apparaturen, hinter denen sie ihren kranken Angehörigen
oftmals nur schwer finden können" (B. F. KLAPP). Dieses Erschrecken
kann gemildert werden, wenn man den Angehörigen gut vorinformiert,
ehe man ihn zum Patienten führt. Der Arzt sollte bei der ersten Begegnung
dabei sein, um ggf. auftauchende Fragen gleich beantworten zu können.
Das Gespräch soll bestimmt werden von einer behutsamen, einfachen
Sprache, die immer auch Hoffnung signalisiert.
Es ist anzustreben, dass die Angehörigen
auf einem möglichst gleichen Informationsstand gehalten werden,
da sonst die Gefahr gegenseitiger Verunsicherung besteht. Günstig
wirkt es sich aus, wenn bei mehreren Angehörigen ein Hauptansprechpartner
gefunden
werden kann, der für eine gleichmäßige Information, Beruhigung
und Beschwichtigung innerhalb der Familie sorgt. Dies muss nicht immer
der nächste Angehörige sein.
Wichtig ist es auch, zu analysieren, in
welcher der oben geschilderten "Phasen" sich die Angehörigen befinden,
um ihre Fragen und ihr Verhalten besser einordnen zu können, scheinbar
irrationale Reaktionen besser zu verstehen und zu tolerieren, Anschuldigungen
und aggressives Verhalten richtig einzuordnen und das emotionale Aufschaukeln
von Spannungen zwischen Angehörigen und Behandlungsteam zu verhindern.
Ob der Angehörige also zum "Freund" oder zum "Feind" des Behandlungsteams
wird, liegt zu großen Teilen am Team selbst.
Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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