Zwischen Furcht und Hoffnung
kann der |
Mensch leben, aber nicht
ohne Hoffnung |
C. W. Hufeland
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Gespräche mit
Todkranken und Sterbenden
Die Situation
Während der letzten Krise im Leben eines
Menschen, wenn die Krankheit zum Tode da ist und das Sterben nicht mehr
verhindert werden kann, braucht der Patient am dringendsten das Gespräch
mit dem Arzt. Aber genau diese Phase wird meist bestimmt von Pseudokontakten,
Täuschung, Lüge oder Sprachlosigkeit. Zwischen dem Wunsch des
Kranken nach Kommunikation und der Kommunikation, die seine Umwelt ihm
zuteil werden lässt, besteht eine tiefe Kluft. Nicht das Gespräch,
sondern der Abbruch der Gespräche, nicht Zuwendung, sondern Isolation
kennzeichnen häufig die Situation des Schwer- und Todkranken.
Die Mehrzahl der Todkranken und Sterbenden
wird im Krankenhaus versorgt. Die Tendenz ist steigend:1968 betrug der
Prozentsatz im Krankenhaus Verstorbener noch 44,2%, 1978 59,2%
und
1984 bereits 65%. Durch die höhere Lebenserwartung werden Familienmitglieder
immer seltener innerhalb der eigenen vier Wände mit Tod und schwerer
Krankheit konfrontiert. Technisch sind die meisten Krankenhäuser für
die Betreuung von Todkranken und Sterbenden besser ausgerüstet. Weil
jedoch "diese Aufgabe dem Selbstverständnis dieser Institution, das
auf Heilen, Wiederherstellung und Gesundung ausgerichtet ist", widerspricht,
resultieren gerade aus der Krankenhausbetreuung die größten
Probleme (U. KOCH, Ch. SCHMELING).
Der Routineablauf des Krankenhausalltags
verhindert
weitgehend die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod. Zahlreiche Reglementierungen
und Einschränkungen sorgen für entsprechende Barrieren: Die Angehörigen
dürfen nur kommen, wenn es die Besuchszeit erlaubt, und nicht, wenn
der Kranke es am dringendsten nötig hätte. Der Stationsablauf
wird durch Wecken, Mahlzeiten, Untersuchungen und therapeutische Maßnahmen
ausgefüllt. Der Kranke erhält "viele Anweisungen, aber wenig
Erklärungen". Die letzten Tage seines Lebens muss er gemeinsam mit
Fremden (Mitpatienten, Ärzten, Pflegekräften) verbringen.
In einer Studie an Krankenhausärzten
(Ch.
REIMER) räumte ein Drittel der Befragten ein, dass sie Krebskranke
"weniger gern" behandeln als andere Patienten. Nur zwei Drittel der Ärzte
sprechen mit ihren Todkranken und Sterbenden (Gesprächsdauer zwischen
5 und 20 Minuten), aber der Anstoß geht meistens vom Patienten aus.
Auch die Wahl der Themen ist bezeichnend: Am häufigsten wird über
therapeutische Aspekte gesprochen, selten über die Prognose, nie über
den Tod. Dennoch bewerteten die befragten Ärzte ihr Verhalten alles
in allem positiv. Die in der gleichen Studie befragten Patienten konstatierten
hingegen eine unzureichende Gesprächsbereitschaft der Ärzte.
Am meisten wurden klare Antworten und Offenheit vermisst ("Wir bestrahlen
jetzt, dann wird es besser..."). Beklagt wurde, dass die Ärzte zu
wenig
Zeit für ihre Patienten aufwenden. Die wesentliche Aussage war,
dass die Patienten sich allein gelassen fühlten. Ein Patient:
"Hier gibt es Ärzte, Schwestern, Priester - einen Menschen habe ich
hier noch nicht gesehen." Natürlich wissen auch Ärzte um die
"Hilflosigkeit der Helfer": "Der Mediziner neigt zum Lügen, zur Verlängerung
des Sterbens, zum Geben von Hoffnung wider besseres Wissen" (Franco REST).
Im Umgang mit Todkranken und Sterbenden
neigt der Arzt dazu, dem Patienten wichtige Informationen vorzuenthalten,
die
Angehörigen jedoch häufig über Gebühr zu informieren,
sogar über den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt. Die dadurch ausgelöste
antizipatorische Trauer der Angehörigen enthält die Gefahr, dass
der Patient vorzeitig abgeschrieben wird. Mit dem Patienten wird über
alles gesprochen, nur nicht über den Tod. Und alles, was getan wird,
trägt den Keim in sich, die Isolation und Einsamkeit des Todkranken
zu verstärken.
Dazu Elisabeth KÜBLER-Ross: "Die Einsamkeit,
die unpersönliche Behandlung setzt schon ein, wenn der Kranke aus
der gewohnten Umgebung herausgerissen und hastig ins Krankenhaus geschafft
wird. Wer sich jemals in solchem Augenblick nach Ruhe und Trost gesehnt
hat, vergisst niemals, wie man ihn auf die Trage packte und mit heulenden
Sirenen ins Krankenhaus transportierte: Der Transport ist bereits der Beginn
einer langen Leidensgeschichte. Schon der Gesunde erträgt kaum die
Geräusche, das Licht, die Pumpen, die vielen Stimmen, die den Kranken
im Notaufnahmeraum überfallen... Im Notaufnahmeraum der Klinik entfaltet
sich sofort die Geschäftigkeit von Schwestern, Pflegern, Assistenzärzten;
vielleicht stellt sich eine Laborantin zur Blutabnahme ein, ein Spezialist,
der ein Elektrokardiogramm machen will; vielleicht packt man den Kranken
auf den Röntgentisch. Jedenfalls fängt er hier und da eine Bemerkung
über seinen Zustand oder entsprechende Fragen an seine Angehörigen
auf. Langsam unausweichlich beginnt man ihn als Gegenstand zu behandeln,
er hört auf, eine Person zu sein. Oft entscheidet man gegen seine
Wünsche, und wenn er sich dagegen aufzulehnen versucht, verabreicht
man ihm ein Beruhigungsmittel ... Er mag um Ruhe, Frieden und Würde
flehen - man wird ihm Infusionen, Transfusionen, die Herz-Lungen-Maschine,
eine Tracheotomie verordnen - was eben medizinisch notwendig erscheint.
Vielleicht sehnt er sich nur danach, dass ein einziger Mensch einmal einen
Augenblick bei ihm stillhält, damit er ihm eine einzige Frage stellen
kann - doch ein Dutzend Leute machen sich rund um die Uhr an ihm zu schaffen,
kümmern sich um seine Herz- und Pulsfrequenz, um Elektrokardiogramm
und Lungenfunktion, um seine Sekrete und Exkrete - nur nicht um ihn als
Persönlichkeit ..."
Die Schwierigkeiten
Warum sind das Sprechen und der Umgang mit
Todkranken und Sterbenden so schwierig zu bewältigen? Warum sträuben
sich Ärzte vor dieser Aufgabe und sehen in ihr etwas für ,,Profis'',
d.h. Psychiater, Psychologen oder Onkologen?
Es gibt dafür offensichtliche und
tieferliegende Gründe. Offensichtliche Gründe sind der erforderliche
Zeitaufwand, die mangelnde Schulung für diese Aufgabe und die Schwierigkeit
der Materie selbst. In Wirklichkeit spielen oftmals andere Gründe
eine Rolle: Der Tod hat zwar zu allen Zeiten den Menschen mit Furcht
und Schrecken erfüllt, aber zu keiner Zeit sind Tod und Sterben so
sehr zum Tabu geworden wie in der unsrigen, die charakterisiert ist durch
eine Flucht vor der Wirklichkeit des Todes. In einem Zeitalter, wo dem
technisch Machbaren nahezu keine Grenzen gesetzt sind, muss die Erkenntnis,
dass es dennoch eine nicht "machbare Sache" im Leben des Menschen
gibt, nämlich die Überwindung des Todes, ein besonders unerträgliches
Gefühl von Ohnmacht auslösen. Andererseits hat gerade diese nahezu
grenzenlose Machbarkeit in technischen Dingen dazu geführt, "dass
Sterben heute grausamer ist als früher, so einsam, so mechanisiert
und unpersönlich, dass man zuweilen nicht mehr angeben kann, in welchem
Augenblick der Tod eintritt" (E. KÜBLER-ROSS).
In der Frage nach den Gründen gibt
Elisabeth KÜBLER-ROSS gleichzeitig die Antwort: "Liegt die Ursache
dieser immer mehr mechanischen, unpersönlichen Behandlung in uns selbst,
in unserer eigenen Abwehrhaltung? Können wir vielleicht nur auf diese
Weise mit den Ängsten fertig werden, die ein schwer oder hoffnungslos
Erkrankter in uns auslöst? ... Denn Instrumente bedrücken uns
weniger als die leidenden Züge eines menschlichen Wesens, das uns
wieder einmal an die eigene Ohnmacht erinnert, an unsere Grenzen, unser
Versagen, unsere eigene Sterblichkeit."
Den meisten Ärzten fällt es schwer,
mit ihren todkranken Patienten ein tragfähiges Bündnis zu schließen,
das von Offenheit und Vertrauen bestimmt wird. Unsere Schwierigkeit, spontan
mit Todkranken und Sterbenden in der richtigen Weise umzugehen, wird durch
die Tatsache verdeutlicht, dass es erst einer Systematik der Erforschung
des Sterbens bedurfte, um eine klinisch tragfähige Sterbebeistandshilfe
zu konzipieren. Diese Sterbebeistandshilfe ist aber nicht Sache von Spezialisten,
Onkologen oder speziell geschulten Psychotherapeuten, sondern eine Aufgabe
für den praktisch und klinisch tätigen Arzt.
Ich möchte an der
Hand eines Menschen sterben. |
L. Bartholomäus
|
In dieser letzten Minute
unseres Seins bestätigt, |
sich was unser ganzes
Leben zuvor gefüllt hat: |
Dass der Mensch den Menschen
braucht, der |
zugleich sein ärgster
Feind und sein bester Helfer ist. |
H. Schaefer
|
Das Ziel
Todkranke und Sterbende führen, heißt
in Grenzbereichen operieren, nicht jedoch auf verlorenem Posten oder im
Niemandsland. Dieser Weg hat folgende Ziele (E. KÜBLER-Ross, U. KOCH,
S. SCHMELING, R. ADLER, W. HEMMELER, E. AULBERT):
-
Ein tragfähiges Arbeitsbündnis
aufbauen.
-
Die Einsamkeit nehmen.
-
Hoffnung vermitteln.
-
Ängste abbauen
-
Ungerechtfertigt erscheinende "negative
Gefühle" akzeptieren.
-
Abwehrmechanismen nicht durchbrechen.
-
Die Familie des Erkrankten einbeziehen.
Die Einsamkeit, in der sich der Kranke
befindet, ist tödlich im wahrsten Sinne des Wortes: Täuschung
und Lüge isolieren ihn, die Helfer ziehen sich zurück, die Angehörigen
sind bestürzt oder überfordert, der Kranke selbst in dem Entsetzen
vor dem Unfasslichen wie gelähmt. Seine Fragen stoßen ins Leere,
die Gesichter um ihn drücken Befremden aus, vieles wird an ihm getan,
aber niemand befasst sich mit ihm. Angehörige, Besucher, Ärzte
und Schwestern begrenzen den Aufenthalt bei ihm auf die kürzest mögliche
Zeit. Seine eigene Sprachlosigkeit über das kaum Fassbare baut weitere
Mauern um ihn auf. Schließlich befindet er sich in der schrecklichsten
aller denkbaren Situationen: Der Tod nähert sich, und er ist allein
gelassen. So geht manchmal der "soziale Tod" dem physischen Tod voraus.
Der Pathologe S. SANES, der kurz nach seiner
Emeritierung an einem malignen Lymphom erkrankte, hielt seine Gedanken
und Erlebnisse in den nächsten 5 Jahren bis kurz vor seinem Tode schriftlich
in dem Buch "A Physician Faces Cancer in Himself" (1979) fest. Er musste
die Erfahrungen machen, dass es den meisten Kollegen, die ihn betreuten,
an Einfühlungsvermögen mangelte. Aus der Summe seiner Erfahrung
leitete er praktische Vorschläge für die Betreuung Krebskranker
ab: "Eine persönliche Beziehung herstellen zu Patient und Familie;
verfügbar und pünktlich sein; sich Zeit nehmen; sich vorstellen
(dies gilt für die Spitalsituation); das Gespräch bezüglich
Ort und Zeit so festlegen, dass unnötige Unterbrechungen unterbleiben;
einfache Begriffe gebrauchen und medizinische Ausdrücke vermeiden;
sich selbst genau beobachten und kontrollieren, um nicht durch Betonung,
Mimik und Gestik eigene Ängste, Befürchtungen und Sorgen, die
die Diagnose im Arzt hervorruft, auf den Patienten überspringen zu
lassen; wenn es sich um Krebs handelt, das Wort auch gebrauchen und die
besondere Art des Krebses dieses Patienten erklären, zu Bleistift
und Papier greifen, um die Erklärungen zu verdeutlichen; sich den
Fragen von Patient und Familie öffnen; dem Patienten und der Familie
die eigene Telefonnummer geben und mitteilen, wer einspringt, wenn der
Arzt abwesend ist; sich nicht ärgern, wenn Patient und Familie unlogische
Fragen stellen oder sich nach Behandlungen erkundigen, die sie in der Laienpresse
gelesen haben."
Das Arbeitsbündnis ist ein
"ungeschriebener Vertrag" zwischen Arzt und Patient. Die wesentlichen "Leistungen"
dieses Vertrags sind die Vermittlung des sicheren Gefühls für
den Patienten, dass er in keiner Phase der Krankheit allein gelassen wird.
Der Aufbau eines solchen Arbeitsbündnisses hängt entscheidend
von der vertrauensvollen und einfühlsamen Gesprächsführung
ab, sie vermittelt dem Patienten das Gefühl emotionaler Wärme
und positiver Wertschätzung, sie lässt ihn erkennen, dass seine
Gefühle verstanden und akzeptiert werden.
Ohne das Vermitteln von Hoffnung ist
eine wirkliche Betreuung des todkranken Patienten nicht möglich, denn
der Mensch kann zwar zwischen Furcht und Hoffnung leben, "aber nicht ohne
Hoffnung". Dies gilt für alle Phasen der Krankheit. Elisabeth KÜBLER-Ross:
"In jeder Phase vorhanden ist fast immer die Hoffnung. . . Wenn wir unseren
todkranken Patienten zuhören, macht es uns immer wieder tiefen Eindruck,
dass auch diejenigen, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden haben und
ihre Krankheit durchaus realistisch beurteilen, immer noch mit der Möglichkeit
einer besonderen Heilung spielen, an die Entdeckung eines neuen Medikamentes
glauben, an den ,Erfolg eines Forschungsprojekts in letzter Minute'...
Diese Hoffnung hilft dem Todkranken, bei Verstand zu bleiben und alle Untersuchungen
über sich ergehen zu lassen. Sie verspricht sozusagen eine Rechtfertigung
des Leidens ... Wir stellten fest, dass alle Patienten Hoffnung hegten
und sich in besonders schwierigen Perioden von ihr tragen ließen."
Um jedem Missverständnis zu begegnen:
Es geht nicht um das Wecken unrealistischer Hoffnungen um jeden
Preis. Eine derartige Rechnung kann über kurz oder lang nicht aufgehen.
Was der Arzt aber immer darf, ist eine "glückliche Wendung" nicht
ausschließen. Hoffnung beim Tod- und Sterbenskranken heißt
nicht nur Hoffnung auf Heilung. Die Hoffnung nimmt hier andere Dimensionen
an als beim Gesunden. Aber sie ist im Kern immer da und muss erhalten bleiben.
Oft ist es nur die Hoffnung auf ganz vordergründige Dinge: die Hoffnung
auf ein paar Stunden oder Tage ohne Schmerzen, auf etwas Ruhe, auf schweigende
Zuwendung oder als letzte Hoffnung, dass "bald das Ende" da sein oder jemand
um einen trauern wird. In den Gedanken eines betroffenen Krebskranken schildert
U. HILLEBRAND einen mittlerweile verstorbenen Leidensgenossen, der eine
Schwesternschülerin extra herbeischellt, um ihr die Frage zu stellen:
"Weinst du um mich, wenn ich tot bin ?"
Für den gläubigen Patienten eröffnen
sich schließlich vollkommen andere Perspektiven der Hoffnung. Es
ist die Hoffnung auf das grundsätzlich Neue, auf die andere, die wirklich
"Neue Welt", die in der geheimen Offenbarung mit wenigen, aber überwältigenden
Worten in Aussicht gestellt wird: "Siehe, ich mache alles neu" (Geheime
Offenbarung, 21,5).
Die Welt des Todkranken und Sterbenden
ist voller Ängste. Eine der wichtigsten Aufgaben des Arztes
ist es, diese Ängste nicht noch zu vermehren, sondern wenn möglich
zu reduzieren. Dazu zählt, dass die Angst nicht durch das ungeschickte
oder unklare Wort, überflüssige Untersuchungen, Verschleierungstaktiken
und Entzug der menschlichen Zuwendung vermehrt wird und dass der Arzt die
Abwehrmechanismen der Angst erkennt (s. Kapitel "Angst und ihre Abwehr" ).
Ganz wesentlich für die Betreuung
todkranker Patienten sind die Einbeziehung und die Begleitung der Angehörigen.
Grundvoraussetzung
ist, dass Aufklärung und Informationsstand von Patient und Angehörigen
möglichst wenig voneinander abweichen. Sie erleben, oft nur zeitverschoben,
ähnliche Phasen des Trauerprozesses wie der Kranke (s. Abschnitt "Der
Weg zum Tod" ).
Auch die Angehörigen bedürfen der ärztlichen Begleitung.
So fällt es ihnen leichter, bestimmte Verhaltensweisen des Patienten,
die sonst uneinfühlbar wären, besser zu verstehen, z. B., dass
der Rückzug des Patienten von ihnen ein typisches Verhalten im Verlauf
der Krankheit ist und nicht Ablehnung bedeutet. Die Besuchszeiten und die
Wache am Bett des Sterbenden müssen großzügig geregelt
werden. Die Betreuung der Angehörigen muss von der Erkenntnis ausgehen,
dass sie selbst in hohem Maße leiden und insofern ebenfalls "Patienten"
sind (R. MÖHRING, A. VON VIETIEGHOFF-SCHELL).
In manchen Fällen sollte die Begleitung
der Angehörigen über den Tod hinausreichen. Oft genügen
einige wenige Aussprachen in den Wochen nach dem Verlust, um Hilfe in der
schwersten Phase der Trauer zu geben. Viele Angehörige erschrecken,
wenn sie nach dem Tod des Patienten von intensiven Träumen verfolgt
werden oder glauben, die Stimme des Verstorbenen zu hören oder ihn
vor sich zu sehen. Wenn sie erfahren, dass dies nicht ungewöhnliche
Phänomene der Trauerarbeit sind, kann dadurch viel Unruhe von ihnen
genommen werden.
Wir können nicht
lange in die Sonne blicken, |
und wir können dem
Tod nicht immer ins Auge sehen. |
Quelle unbekannt
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Der Weg zum Tode
Gespräche mit Todkranken und Sterbenden
haben das Ziel, die letzte schwierige Phase im Leben so erträglich
wie möglich zu machen, im Idealfall dem Patienten die Wege für
das "Reifwerden zum Tode" zu ebnen. Diese Gespräche zählen zu
den schwierigsten, die der Arzt zu bewältigen hat: Jedes Sterben eines
Menschen ist ein einmaliger Vorgang, wo Routine keinen Platz hat. Weil
sich das Rad nicht zurückdrehen lässt, ist auch die Chance, dem
Todkranken und Sterbenden im Gespräch beizustehen, jeweils nur einmal
gegeben. Der Arzt bewegt sich hier auf einem psychologisch hochsensiblen
Terrain. Erfolg und Misserfolg hängen wie sonst kaum von der Behutsamkeit
der Worte, einer größtmöglichen Einfühlung und Grundkenntnissen
über die psychologischen Reaktionsmuster sterbender Patienten ab.
Den Grundstein zum vertieften Verständnis
seelischer Vorgänge bei Todkranken und Sterbenden hat Elisabeth KÜBLER-ROSS
durch ihre Forschungen über Tod und Sterben gelegt. Es ist ihr in
Gesprächen mit Hunderten von todgeweihten und sterbenden Kranken gelungen,
aufzuzeigen, dass Menschen in diesem letzten Abschnitt ihres Lebens bestimmte
Phasen durchlaufen, deren Kenntnis ihr Befinden und ihre Verhaltensweisen
besser verständlich macht und Wege eröffnet, in Gesprächen
Hilfe zu leisten. Diese Phasen entsprechen in allen ihren Schattierungen
der Trauer und ihrer Verdrängung über die Zeit, dem Trauerprozess.
Die
von KÜBLER-Ross beschriebenen Phasen des Sterbens dürfen nicht
streng schematisch gesehen werden. Sie selbst räumt ein, dass der
Kranke keineswegs immer alle Phasen durchläuft. Sie betont, dass verschiedene
Phasen nebeneinander bestehen können. Es ist wesentlich, zu wissen,
dass die Phasen meist nicht chronologisch ablaufen; der Patient kann lange
in einer Phase verbleiben oder von einer späteren Phase wieder in
eine frühere zurückkehren.
Beim Trauern muss der Faktor Zeit berücksichtigt
werden: Er ist von außen her kaum zu verändern. Der Arzt kann
also die einzelnen Phasen nicht beschleunigen, indem er z. B. mit "vernünftigen
Argumenten" operiert.
In diesem Zusammenhang muss noch einmal
erwähnt werden, dass auch die Angehörigen praktisch die
gleichen Phasen wie der Kranke, allerdings zeitverschoben, durchlaufen.
Der Arzt kann dem Patienten und den Angehörigen nur mit größter
Geduld beistehen, während sie sich ganz individuell in einer jeweils
bestimmten Phase ihrer Trauerarbeit mit der Krankheit auseinandersetzen.
Der klinische Alltag zeigt tatsächlich, dass manche Patienten keineswegs
alle Phasen durchmachen und nicht regelhaft die beschriebenen Verhaltensmuster
aufweisen. (F. REST: "Der Patient soll nicht bestimmte Sterbephasen durchlaufen
müssen.")
Hier eine kurze Übersicht über
die 5 Phasen:
1. Phase: Nicht-wahrhaben-Wollen und
Isolierung (Verweigerung)
Die erste Reaktion eines Patienten, der
erfährt, dass er unheilbar krank und sein Tod abzusehen ist, lautet:
"Ich doch nicht, das ist ja gar nicht möglich!" Es ist die Phase der
Verweigerung. Sie wird besonders dann drastisch durchlebt, wenn der Patient
unvorbereitet oder zu früh aufgeklärt wurde. Das Nicht-wahrhaben-Wollen
schiebt sich "wie ein Puffer zwischen den Kranken und sein Entsetzen über
die Diagnose". Nur dieser Verdrängungsmechanismus erlaubt es ihm überhaupt
in dieser Phase, das zunächst Unfassliche zu ertragen.
Die Abwehrmechanismen können
vielgestaltig sein: Der Patient glaubt die Diagnose einfach nicht. Er ist
fest überzeugt, Opfer einer Fehldiagnose zu sein (das Röntgenbild,
die Blutprobe, der histologische Schnitt wurden verwechselt, der diagnostizierende
Arzt ist nicht kompetent), oder die Diagnose mag zwar stimmen, sie bedeutet
aber keineswegs das endgültige Aus.
In dieser Phase neigt der Patient dazu,
verschiedene Ärzte aufzusuchen, sich Rat von den verschiedensten Seiten
zu holen und seine Hoffnung an Außenseitermethoden zu klammern. Die
Ablehnung der Realität kann so weit gehen, dass sein "irreales" Verhalten
für denjenigen, der die Psychodynamik nicht kennt, uneinfühlbar
sein muss: Neue geschäftliche Pläne werden auf den Tisch gelegt,
große Reisen geplant, ein Hausbau für das kommende Jahr ins
Auge gefasst.
In dieser Phase sollen Gespräche nur
dann stattfinden, wenn der Patient dazu bereit ist, und nicht, wenn
der Arzt es für richtig hält. Der Arzt muss auch jederzeit das
Gespräch abbrechen, wenn der Patient zu erkennen gibt, dass er das
Thema nicht erträgt. Der Arzt muss also fähig sein, zu erkennen,
wann der Patient sich in dieser Phase der Wahrheit entziehen möchte,
weil er sonst nicht überstehen kann.
In der Phase des Nicht-wahrhaben-Wollens
sollte der Patient nicht auf die Widersprüche seines Verhaltens
und Denkens hingewiesen werden, damit dieser Schutzmechanismus nicht entkräftet
wird. Es ist aber auch nicht Aufgabe des Arztes, solche Abwehrreaktionen
zu fördern. Die Neigung dazu besteht durchaus, weil sie es dem Arzt
und seinen Helfern erleichtert, den schwierigen Zeitpunkt hinauszuschieben,
in welchem sich der Patient endgültig mit der tödlichen Diagnose
abfinden muss.
Das Verhalten des Kranken wird auch von
seinem Gesprächspartner bestimmt: Es scheint, dass Kranke besonders
dann im Gespräch der Wahrheit ausweichen, wenn ihr Gesprächspartner
selbst noch keine eigene sichere Beziehung zu Tod und Sterben gewonnen
hat. Das erklärt, warum der Patient in dieser Phase verschiedenen
Beobachtern in seinen Reaktionen sehr unterschiedlich vorkommen kann.
Die Phase des Nicht-Wahrhabens-Wollens
und der Verdrängung ist meist nur vorübergehend. Da sie einen
besonders quälenden Abschnitt darstellt, sollte sie der Arzt nicht
durch sein Verhalten verlängern.
2. Phase: Zorn
Diese Phase lässt sich mit den Worten
charakterisieren: "Warum denn gerade ich?" Die Phase des Zorns ist eine
sehr schwierige Phase. Denn der Zorn des Patienten geht weitgehend ungezielt
in alle Richtungen und kann jeden treffen. Das ist verständlich, denn
wohin er auch blickt, er findet Anlass zum Zorn. KÜBLER-Ross: "Im
Fernsehen sieht er junge Leute bei ihren wilden Tänzen, während
er im Bett liegen muss und sich kaum rühren kann; er sieht einen Western-Film,
in dem Männer kalten Blutes umgebracht werden vor den Augen anderer,
die seelenruhig ihr Bier trinken - und sofort fällt ihm ein, wie herzlos
sich seine Angehörigen und die Schwestern benehmen. Der Nachrichtendienst
quillt über von Katastrophen, Kriegen und Zerstörungen, und alles
ist doch so weit entfernt - aber seine Tragödie hier wird rasch vergessen
sein. Doch das will er nicht, dagegen wehrt er sich, ihn soll man nicht
so rasch vergessen !"
Der Zorn kann sich gegen Ärzte, Schwestern
und Angehörige richten, gegen die Diät, die Behandlung, das Krankenhaus,
die Zimmergenossen, die Krankenkasse usw. Es ist wichtig, sich die zufällige
Zielrichtung
dieser Zornausbrüche vor Augen zu halten, um sich nicht als Arzt persönlich
betroffen zu fühlen, darauf zu reagieren und sich dadurch den Weg
zum Patienten zu verbauen.
3. Phase: Verhandeln
Diese Phase ist meist nur flüchtig,
fällt kaum auf, kann aber für den Patienten sehr hilfreich sein.
Nachdem er erkannt hat dass er tatsächlich todkrank ist, dass er mit
seinem Zorn wirklich nichts an seiner Situation ausrichten kann, beginnt
er sich ähnlich zu verhalten wie Kinder, die trotz aller Ablehnung
der Eltern doch noch einen Wunsch erfüllt haben möchten. Sie
beginnen Angebote zu machen und zu verhandeln: "Wenn ich die ganze Woche
über meine Hausaufgaben pünktlich mache - darf ich dann ...?"
Die Wünsche des Patienten in der Phase
des Verhandelns sind schon nicht mehr die Wünsche nach Heilung oder
Rettung, denn mittlerweile hat er erkannt, dass es diese Rettung nicht
gibt. Was er sich wünscht, ist eine etwas längere Lebensspanne,
vielleicht auch nur ein paar Tage ohne Schmerzen, Beschwerden und in Ruhe.
KÜBLER-Ross: "Meistens wird der Handel mit Gott geschlossen, streng
geheim gehalten und höchstens in der Sprechstunde des Seelsorgers
angedeutet. Bei unseren Einzelunterredungen ohne Publikum haben wir festgestellt,
dass viele Patienten als Preis für eine etwas längere Frist ihr
,Leben Gott widmen', ,sich dem Dienst der Kirche weihen wollen'." Da sich
hinter solchen Angeboten und Versprechungen Schuldgefühle verbergen
können, sollten derartige Andeutungen nicht beiseite geschoben werden.
Hier kann sich die Zusammenarbeit mit dem Seelsorger als besonders nützlich
erweisen.
4. Phase: Depression
Diese Phase wird bestimmt vom Gefühl
"eines schrecklichen Verlustes". Es ist die Phase, in der dem Menschen
der Verlust alles dessen droht, was ihm wichtig ist: körperliche Unversehrtheit,
Besitz, Bewegungsfreiheit, die Nähe und Liebe anderer Menschen. Ein
Verlust, und zwar der schwerste für die meisten Menschen, steht nunmehr
fest, der Verlust des eigenen Lebens.
Die Depression in der 4. Phase kann in
zweierlei
Form ablaufen:
a) Als reaktive Depression
auf
den Verlust von Geld, Beruf, körperlicher Unversehrtheit oder Führungsposition.
Oft handelt es sich tatsächlich um große konkrete und praktische
Probleme, die - zumindest dem Patienten - lebenswichtig erscheinen. Er
möchte, wenn er geht, dass für alles gesorgt ist. Selbst bei
todkranken Kindern im Alter über 5 oder 6 Jahren sind solche Reaktionen
zu beobachten: Sie machen sich z. B. Gedanken über ihr Fahrrad, wer
die Puppen oder die Eisenbahn bekommen soll. Es ist daher sehr wichtig,
in dieser Phase der reaktiven Depression zusammen mit den Angehörigen
oder beispielsweise dem Sozialarbeiter praktisch lösbare Probleme
anzugehen. Es hat sich gezeigt, dass die Lösung solcher Probleme eine
starke Entlastungsfunktion für den Kranken besitzt.
b) Die 2. Form der Depression ist die "vorbereitende
Depression", die nicht aus einem bereits erlittenen, sondern durch
einen drohenden Verlust ausgelöst wird. Sie ist ihrer Natur nach etwas
ganz
anderes als die reaktive Depression und erfordert daher auch von seiten
des Arztes, der Angehörigen und der Helfer eine andere Reaktion.
Der
vorbereitende Charakter dieser Depression liegt darin, dass sie den Weg
darstellt, "auf dem sich der Kranke auf den bevorstehenden Verlust aller
geliebten Dinge vorbereitet, um sich so die endgültige Annahme seines
Schicksals zu erleichtern". Hier sind im Gegensatz zur reaktiven Depression
Aufheiterungen und Ermunterungen fehl am Platz. Sie erschweren es dem Kranken,
über sein nahes Ende nachzudenken, reif zu werden zum Tode und schließlich
die letzte Phase, die Zustimmung, zu erreichen. KÜBLER-Ross sagt es
mit einfachen Worten: "Er muss trauern dürfen."
Im Gegensatz zur reaktiven Depression, in
der der Patient sehr viel besprechen will und ordnen möchte, verläuft
die vorbereitende Depression sehr still. Während dieser Depression
sind Worte des Arztes meist nicht nötig: "Der vorbereitende Schmerz
braucht kaum Worte." Viel wichtiger ist es, dem Patienten durch Gesten
oder öftere, wenn auch nur kurze Visiten zu signalisieren, dass man
als Arzt weiß, was ihn in dieser Phase bewegt und ausfüllt.
5. Phase: Zustimmung
Nachdem der Kranke alles durchlaufen hat:
Entsetzen, Auflehnung, Zorn, vergebliches Verhandeln und Depression, kann
er fähig werden, seinem Ende mit mehr oder weniger "ruhiger Erwartung"
entgegenzusehen. Die Phase der Zustimmung oder auch Hinnahme ist nicht
gleichbedeutend mit Resignation oder hoffnungslosem Aufgeben. Sie darf
jedoch auch nicht glorifiziert und als "glücklicher Zustand" missdeutet
werden. Ihr Wesen scheint darin zu liegen, dass der Patient nunmehr "fast
frei von Gefühlen ist". Sein Interessenkreis verengt sich mehr und
mehr, er möchte weitgehend in Ruhe gelassen werden, Besucher sind
ihm häufig nicht willkommen, Nachrichten und Probleme aus der Außenwelt
berühren ihn nicht mehr.
In dieser Phase sollte sich die Kommunikation
mehr auf Gesten als auf Worte beschränken. Hier liegt die große
Domäne des verstehenden und zustimmenden Schweigens in der
Begegnung zwischen Arzt und Patient. Der Patient soll auch wissen, dass
er nun nicht zu reden braucht, denn alle wichtigen Angelegenheiten sind
geregelt, es gibt nichts mehr, wofür sich Worte lohnen. Für Visiten
in dieser Phase eignet sich besonders der frühe Abend, wenn die Hektik
und Routine des Krankenhauses abgeebbt sind und der Arzt damit rechnen
kann, ungestört eine gewisse Zeit bei dem Kranken zu verbringen. Es
ist wichtig zu wissen, dass in dieser Phase die Familie meist mehr Hilfe,
Unterstützung und Verständnis benötigt als der Patient selbst.
Eine meiner Patientinnen sagte in dieser Phase: "Alle weinen, nur ich nicht."
Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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