Die Visite, der Höhepunkt
an jedem Tag, war gleichzeitig |
immer die größte
Enttäuschung gewesen. |
Thomas Bernhard:
Der Atem
|
Im Krankensaal der Klinik
gibt es ferner kein ordentliches |
Gespräch mit den
Kranken; die Kurve regiert die Stunde. |
Viktor von
Weizsäcker, 1949
|
Als der Chefarzt heute
morgen mit seinen Assistenten |
und Wärtern auf
der Visite war und mich untersuchte, |
diktierte er dem Stationsarzt
etwas, das ich nicht verstand. |
Unbekannter
Patient, 13. Jahrhundert, Damaskus
|
Das Visitengespräch
Die Visite ist in der Klinik die einzige
regelmäßige Gesprächsmöglichkeit zwischen Patient
und Arzt. Die meisten Patienten sehen der Visite daher mit einer hohen
Erwartungshaltung entgegen. Die Realität aber lehrt, dass viele Patienten
das Visitengespräch enttäuschend erleben. BLIESENER und KÖHLE
(1986) nennen die traditionelle Visite schlichtweg einen "verhinderten
Dialog".
Die klassische Visite spielt sich im Klima
eines latenten Interessenkonflikts ab, der meist zu Lasten des Patienten
gelöst wird (FEHLENBERG und Mitarbeiter), weil zwischen den Patientenbedürfnissen
und
den Teambedürfnissen, die während der Visite befriedigt
werden sollen, große Unterschiede bestehen.
WESTPHALE und KÖHLE haben die Rangfolge
der vom Arzt und vom Patienten eingebrachten Themen bei internistischen
Visiten analysiert und einander gegenübergestellt (s. Tab.).
Rangfolge der Mittelwerte
vom Arzt eingebrachter Themen
Thema |
absolut |
prozentual |
Therapie |
1,35 |
-
21,9 |
Diagnose |
1,33 |
21,6 |
Untersuchungsergebnisse |
0,89 |
14,4 |
körperliches
Befinden |
0,73 |
11,8 |
Krankheitsverhalten |
0,71 |
11,5 |
Krankheitserleben |
0,51 |
8,3 |
Sonstiges |
0,50 |
8,1 |
psychisches
Befinden |
0,19 |
2,4
-
|
Summe
Themen |
6,17 |
100,0 |
|
Rangfolge der Mittelwerte
vom Patient eingebrachter Themen
Thema |
absolut |
prozentual |
Krankheitserleben |
0,73 |
-
24,8 |
Diagnose |
0,54 |
18,3 |
Krankheitsverhalten |
0,48 |
16,3 |
Therapie |
0,47 |
15,9 |
körperliches
Befinden |
0,32 |
10,9 |
Untersuchungsergebnisse |
0,23 |
7,8 |
Sonstiges |
0,13 |
4,4 |
psychisches
Befinden |
0,05 |
1,7
-
|
Summe
Themen |
2,95 |
100,1 |
|
Die Gegenüberstellung zeigt, dass
für den Arzt die Feststellung der Krankheit den thematisch größten
Anteil an der Visite ausmacht während spiegelbildlich dazu die weitaus
meisten thematischen Initiativen des Patienten um seine Stellungnahme zur
Krankheit kreisen.
Die Patientenbedürfnisse während
der Visite beinhalten Informationsbedürfnisse, das Ansprechen emotionaler
Erlebnisinhalte, Ängste, den Wunsch, ganz allgemein zu fragen, und
die Behandlung akuter Aspekte der Krankheit. Darüber hinaus soll die
Visite auch den kontaktiven Wünschen des Patienten entsprechen. Die
Teambedürfnisse
betreffen
einen völlig anderen Bereich: Überprüfung von Diagnose und
Therapieergebnis, konsiliarische Funktion, Treffen von Anordnungen zu Untersuchung
und Behandlung sowie Ratschläge. Untersuchungen haben ergeben, dass
90% der Patienten in Akutkrankenhäusern ein hohes Informationsbedürfnis
hinsichtlich ihrer Krankheit haben, das aus ihrer Sicht jedoch nicht ausreichend
gestillt wird (RASPE 1979). Das intensive Informationsbedürfnis spiegelt
sich jedoch nicht in einer adäquaten Frageaktivität der Patienten
wider. Im Gegenteil: Dieselben Patienten, denen ein hohes Informationsbedürfnis
unterstellt werden kann, unternehmen im Gespräch mit dem Arzt nichts
oder kaum etwas, um die gewünschten Informationen zu bekommen. Dafür
gibt es unterschiedliche Gründe (RASPE, 1980, QUASTHOFF-HARTMANN,
1982):
-
Psychologische Gründe: Das Gespräch
mit dem Arzt wird als Stresssituation erlebt, die die freie Entfaltung
des Patienten hemmt.
-
Kognitive Gründe: Der Patient
ist mit seiner Informationsverarbeitungskapazität im Gespräch
überfordert. Erst nach der Visite schälen sich bestimmte Fragen
und Vorstellungen heraus, die dann meist mit inkompetenten Gesprächspartnern
(Mitpatienten, Angehörigen usw.) versuchsweise aufgearbeitet werden.
-
Organisatorische Gründe: Der Patient
erkennt den Zeitdruck, unter dem der Arzt steht, und hat nicht den Mut,
ihn mit scheinbar unwichtigen Fragen zu behelligen.
-
Gründe, die im Rollenverständnis
des
Arztes liegen: Eine Haltung der unbedingten Autorität und der damit
verbundene intensive Führungsanspruch des Arztes hemmen die Eigeninitiativen
des Patienten. Nach Untersuchungen von KAUPEN-HAAS halten 43% aller Ärzte
eine autoritäre Rolle für angemessen.
-
Medizinische Gründe: Der Patient
ist so krank, dass er zu einer aktiven Gesprächsgestaltung nicht mehr
in der Lage ist.
Wahrscheinlich spielt aber gerade während
der Visite das Grundproblem jeder Kommunikation eine besondere Rolle, nämlich
die Schwierigkeit, eine gemeinsame Wirklichkeit zu finden.
Was sich realiter während klinischer
Visiten abspielt, hat die Visitenforschung, die bis in das Jahr 1970 zurückreicht,
aufgedeckt. Damals fand SIGRIST, dass der chirurgische Arzt durchschnittlich
eine knappe Minute pro Patient und Tag zur Verfügung hat. Diese begrenzte
Zeit stellt an den Patienten ungewöhnliche Anforderungen: Er muss
in der Lage sein, in kurzer und präziser Weise Fragen an den Arzt
zu stellen und Anordnungen und Auskünfte entgegenzunehmen, dies alles
häufig in einem Klima ängstlicher Erwartung oder Spannung. Dies
führt häufig dazu, dass der Patient, obwohl er voller drängender
Fragen ist, diese im Rahmen der Visite nicht formuliert. SIGRIST: "Ich
habe oft erlebt, dass Patienten ihre mir gegenüber geäußerten
Klagen und Fragen bei der Visite nicht zur Sprache gebracht haben ... Auffallend
war für mich der starke Disziplinierungscharakter der Visite."
Untersuchungen in einem großen Hamburger
Krankenhaus (JÄHRIG und KOCH) ergaben eine durchschnittliche Visitendauer
von 3,5 Minuten. Die Arztredezeit lag bei 2 Minuten. Nur ein Drittel des
ärztlichen Gesprächsanteils richtete sich direkt an die Patienten
(patientenzentrierte Redezeit). Die Relation Patientenredezeit: Arztredezeit
betrug etwa 1: 2. Während der Arzt im Durchschnitt 6 Fragen pro Visite
stellte, war es beim Patienten nur eine.Wahrscheinlich spielt aber gerade
während der Visite das Grundproblem jeder Kommunikation eine besondere
Rolle, nämlich die Schwierigkeit, eine gemeinsame Wirklichkeit
zu finden.
Was sich realiter während klinischer
Visiten abspielt, hat die Visitenforschung, die bis in das Jahr 1970 zurückreicht,
aufgedeckt. Damals fand SIGRIST, dass der chirurgische Arzt durchschnittlich
eine knappe Minute pro Patient und Tag zur Verfügung hat. Diese begrenzte
Zeit stellt an den Patienten ungewöhnliche Anforderungen: Er muss
in der Lage sein, in kurzer und präziser Weise Fragen an den Arzt
zu stellen und Anordnungen und Auskünfte entgegenzunehmen, dies alles
häufig in einem Klima ängstlicher Erwartung oder Spannung. Dies
führt häufig dazu, dass der Patient, obwohl er voller drängender
Fragen ist, diese im Rahmen der Visite nicht formuliert. SIGRIST: "Ich
habe oft erlebt, dass Patienten ihre mir gegenüber geäußerten
Klagen und Fragen bei der Visite nicht zur Sprache gebracht haben ... Auffallend
war für mich der starke Disziplinierungscharakter der Visite."
Untersuchungen in einem großen Hamburger
Krankenhaus (JÄHRIG und KOCH) ergaben eine durchschnittliche Visitendauer
von 3,5 Minuten. Die Arztredezeit lag bei 2 Minuten. Nur ein Drittel des
ärztlichen Gesprächsanteils richtete sich direkt an die Patienten
(patientenzentrierte Redezeit). Die Relation Patientenredezeit: Arztredezeit
betrug etwa 1:2. Während der Arzt im Durchschnitt 6 Fragen pro Visite
stellte, war es beim Patienten nur eine.
Abb.: Gesprächsrichtung
des visitenführenden Arztes auf einer traditionellen Krankenstation
und auf der internistisch-psychosomatischen Krankenstation der Universität
Ulm
(WESTPHALE und KÖHLE,
1982).
Formal-quantitative Analysen des Arzt-Patienten-Gesprächs
während der Visite verdeutlichen die starke Asymmetrie dieser
Interaktionsform. Bei einer Untersuchung von NORDMEYER waren bei einer
durchschnittlichen Visitendauer von 3,5 Minuten die Gesprächsanteile
des Arztes, gemessen an Wörtern (63%), Fragen (82%) und Unterbrechungen
(87%), durchgehend größer als die des Patienten.
RASPE (1983) hat festgestellt, dass bei
Visitengesprächen geschlossene Fragen des Arztes überwiegen und
offene Fragen nur selten gestellt werden (Relation 10:1). Es stimmt nachdenklich,
dass sich auf der Visite bei Privatpatienten das Verhältnis jedoch
etwas zugunsten offener Fragen verschiebt.
ENGELHARDT und Mitarbeiter (1973) beurteilen
die sogenannte große Visite besonders kritisch: "Besonders
schädlich können sich unseres Erachtens Oberarzt- und Chefarztvisiten
auswirken, wenn die Ärzte am Krankenbett unreflektiert agieren, diskutieren
und die Folgen ihres Verhaltens nicht abschätzen. Schon die Vorstellung
des Patienten durch den Stationsarzt beginnt meist nicht mit den Beschwerden
des Patienten, die er auch verstehen könnte, sondern mit dem Terminus
technicus einer Diagnose. Es folgen die Schilderung von technischen Befunden
und ihre diagnostische Bedeutung. Die gesamte Unterhaltung läuft in
einer für den Hauptbeteiligten unverständlichen Sprache ab. Er
liegt dabei still, ehrfürchtig, mehr oder weniger gespannt im Bett
und versucht, etwas aufzuschnappen. Häufig versteht er aber überhaupt
nichts oder, was noch schlimmer ist, etwas Falsches. Besonders schlimm
und bedrohlich wird vom Patienten die Situation registriert, wenn sich
an seinem Krankenbett (zum Teil hitzige) Meinungsverschiedenheiten abspielen...
Der Patient weiß am Ende dieser Visiten, bei denen er lediglich eine
Statistenrolle spielt, nicht mehr, wem er vertrauen kann."
Die klinische Visite ist aus der Sicht
des Patienten die zentrale Gelegenheit, Informationen von seinem Arzt zu
erhalten sowie sein Erleben, seine Interessen und seine Wünsche zu
artikulieren. Die klinische Realität steht dazu im Widerspruch, denn
die Visite läuft über weite Strecken ohne Beteiligung des
Patienten ab. Dafür gibt es folgende Gründe: Bei einem Gesprächspartner,
der sich adäquat an einem Gespräch beteiligen will, muss das
laufende Gespräch bestimmte Qualitäten haben. NOTHDURFT (zit.
n. KÖHLE und RASPE): "Das Gespräch muss wahrnehmbar sein. Es
muss durchschaubar sein, d. h., das Gespräch muss in seinem Verlauf
hinreichend erkennbar sein. Und schließlich muss das Gespräch
absehbar sein, d. h., es muss in seinem weiteren Verlauf hinreichend extrapoliert
werden können."
Beobachtbarkeit, Durchschaubarkeit und
Absehbarkeit
sind
aber gerade Qualitäten, die meist in Visitengesprächen nicht
gegeben sind. Das Visitengespräch wird beispielsweise für den
Patienten unbeobachtbar, wenn die Visitierenden sich plötzlich
miteinander in reduzierter Lautstärke unterhalten. Der Patient erlebt
dies als deutlich erkennbare Geheimhaltung. Eine ähnliche Wirkung
entsteht, wenn die Visitierenden sich am Bett des Patienten nicht über
ihn, sondern über einen anderen Patienten unterhalten. Das Visitengespräch
ist für den Patienten oft undurchschaubar, weil sein Hintergrundwissen
und sein Vorverständnis weit hinter dem der anderen Visitenteilnehmer
zurückstehen. Beim Klinikpersonal kann im allgemeinen ein hohes Maß
an vorheriger Verständigung vorausgesetzt werden, das es ihm ermöglicht,
vieles von dem, was ausgedrückt werden soll, überhaupt nicht
mehr zu formulieren. Für den Patienten als Außenstehenden muss
ein solches Gespräch teilweise oder völlig undurchschaubar wirken.
Das Visitengespräch ist schließlich für den Patienten auch
nicht
absehbar, weil aus seiner Sicht die Extrapolierbarkeit erheblich eingeschränkt
ist. Dass Patienten sich gegen solche weitverbreiteten Visitenpraktiken
so gut wie nicht zur Wehr setzen, ist Tatsache. Dadurch wird aber ein gewisser
Circulus vitiosus in Gang gesetzt, den NOTHDURFT auf die einfache Formel
bringt: "Die Undurchlässigkeit produziert somit jene Unmündigkeit
des Patienten, die wiederum Voraussetzung ihrer Wirkungsfähigkeit
ist."
Warum versuchen Patienten so wenig, sich
gegen den für sie unbefriedigenden Visitenverlauf aufzulehnen? Dafür
gibt es verschiedene Gründe: Die Spielregeln von Alltagsgesprächen,
die ihnen geläufig sind, sind auf das Visitengespräch weitgehend
nicht übertragbar. Hinzu kommen die hemmenden Einflüsse eines
tradierten Rollenverständnisses, das per se die Asymmetrie im Gespräch
verstärkt. Das Visitengespräch ist in der Regel thematisch ein
fachliches Gespräch, in dem der letztlich "inkompetente Patient" sich
mit hochkompetenten Gesprächspartnern konfrontiert sieht. Schließlich
bewegen den Kranken Ängste vor möglichen negativen Folgen in
der ärztlichen und pflegerischen Betreuung, wenn er sich gegen offenbar
festgefügte und allgemein akzeptierte Gesprächsrituale auflehnt.
Das Unbehagen, das Visitengespräche
bei vielen Patienten hinterlassen, resultiert häufig daraus, dass
Initiativen
des Patienten unbewusst oder bewusst unterbunden
oder verhindertwerden.
Dadurch entwickeln sich ausgeprägte Asymmetrien zu Ungunsten des Patienten.
SIEGRIST (1978) hat die typischen Antwortreaktionen des Arztes, der vom
Patienten um eine Information gebeten wird, analysiert:
1. Nichtbeachten: Der Arzt übergeht
die Patientenfrage.
2. Adressatenwechsel: Anstatt eine
Antwort zu geben, spricht der Arzt selbst einen anderen Visitenteilnehmer
an.
3. Themenwechsel: Der Arzt entwickelt
eine konkurrierende Initiative und bringt ein neues Thema ein.
4. Verschieben: Der Arzt deutet
die Patientenfrage um und verschiebt seine Reaktion auf nebensächliche
Aspekte.
5. Unsicherheit: Der Arzt kann
mangels eigener Information die Frage gegenwärtig noch nicht beantworten.
6. Symmetrie: Der Arzt zeigt in
seiner Äußerung das Bemühen, die Frage des Patienten so
gut er kann zu beantworten.
Es liegt auf der Hand, dass die ersten 4 Antwortreaktionen
zwangsläufig eine asymmetrische Gesprächsführung zur Folge
haben.
BLIESENER hat 12 Strategien der Abweisung
von Patienteninitiativen beschrieben: Abriegeln, Überfahren, Hinhalten,
Leerlaufen lassen, Abwinken, Stillegen, Problematisieren, Abbiegen, Verlagern,
Filibustern, Abgleiten, Sich-Rausreden. BLIESENER und SIEGRIST (1981) haben
systematisch erfasst, welche Methoden Ärzte und Pflegepersonal einsetzen,
um zu verhindern, dass der Patient das Gespräch nach seinen eigenen
Wünschen und Vorstellungen bestimmt ("inhibitory routins"):
-
Das Personal vermittelt den Eindruck, sehr
beschäftigt zu sein.
-
Das Personal redet den Patienten nicht an.
-
Mitglieder des Personals unterhalten sich
untereinander in einer Weise, die für den Patienten unverständlich
ist, und wenden sich nur für erklärende Fragen, Berichtigungen,
Vervollständigungen usw. an den Patienten.
-
Mitglieder des Personals sprechen leise, schneiden
sich gegenseitig das Wort ab, benutzen Anspielungen, Abkürzungen und
Fachtermini oder handeln das Thema schnell ab.
-
Das Thema, das besprochen wird, ist weit von
dem entfernt, was der Patient einbringen möchte.
-
Mitglieder des Personals beteiligen den Patienten
zwar am Gespräch, binden aber seine Aufmerksamkeit dadurch, dass sie
ihm eine Batterie von Fragen stellen und gleichzeitig Untersuchungen (Auskultieren,
Puls messen) an ihm vornehmen.
Krankheitsbezogene Informationen muss der
Patient häufig indirekt dem Gespräch des Teams entnehmen; damit
sind Missverständnissen Tür und Tor weit geöffnet. Paradoxerweise
ist der Patient daher um so mehr auf derartige indirekte Informationen
angewiesen, je schwerer krank er ist. Nach einer Untersuchung von FEHLENBERG
und Mitarbeitern antworten Ärzte auf krankheitsbezogene Patientenfragen
bei Leichtkranken in 36%, bei Schwerkranken jedoch in bis zu 92% ausweichend.
Lösungsansätze
Die Analyse der Kommunikationsstörungen
im Visitengespräch macht gleichzeitig die Lösungsansätze
deutlich:
Das Visitengespräch sollte patientenzentriert verlaufen (WESTPHALE
u. KÖHLE, 1982, FEHLENBERG, SIMONS u. KÖHLE). Damit rückt
der Patient aus der Rolle des mehr oder minder störenden Statisten
in den Mittelpunkt des Visitengesprächs. Er erhält nicht nur
die gewünschten Informationen, sondern seine Kommunikationsinteressen
werden aktiv berücksichtigt.
Das Visitengespräch soll als Zweipersonengespräch
gestaltet
werden. Denn das konflikt- und personenzentrierte Vorgehen bedeutet immer
auch einen Schritt aus einer "Einpersonen-" in eine "Zweipersonen-Medizin"
(BALINT). Das Visitengespräch soll gleichermaßen die
Patientenbedürfnisse
wie
die Teambedürfnisse berücksichtigen. Neben Berücksichtigung
der krankheitsbezogenen Informationswünsche des Patienten im engeren
Sinne zählt dazu auch das Eingehen auf Kommunikationsbedürfnisse
des
Patienten, die mit dem emotionalen Erleben der Krankheits- und Krankenhaussituation
in Zusammenhang stehen. Es sollte ausreichend Zeit
zur Verfügung
stehen, damit sich ein wirkliches Gespräch wenigstens ansatzweise
entfalten kann.
Das Gespräch sollte symmetrisch
ablaufen.
Dies bedeutet, dass die Gesprächsbeteiligung von Arzt und Patient
quantitativ und qualitativ nicht unterschiedlich sein sollte. Der Arzt
sollte weniger als bisher Patientenfragen ausweichen, insbesondere bei
schwerkranken und belastenden Patienten. Symmetrie bedeutet auch, dass
der Arzt angemessen auf den zentralen Aspekt einer Frage eingeht. Der Patient
soll
dazu angeregt werden, selbst mehr Fragen zu stellen. Durch aktives
Hören sollte herausgefunden werden, ob bestimmte Bemerkungen des Patienten
ungestellte
Fragen enthalten.
Die Information des Patienten sollte
hinsichtlich Umfang und Qualität verbessert werden. Dabei ist ein
erhöhter Anteil "reaktiver Information" anzustreben: Das heißt,
es sollten mehr Informationen gegeben werden, die durch Fragen oder thematische
Initiativen des Patienten zustande kommen. "Implizite Informationen", die
der Patient lediglich aus den vom Personal über ihn geführten
Gesprächen entnimmt, sollten weitgehend vermieden werden.
Abweisungsstrategien, insbesondere Überfahren,
Hinhalten, Abbiegen, Verlagern und Sich-Herausreden, müssen vermieden
werden.
Ein Vorschlag, Kommunikationsprobleme während
der ärztlichen Visite zu vermeiden, die aus den unterschiedlichen
Bedürfnissen von Patient und Team resultieren, stammt von FEHLENBERG
und Mitarbeitern. Sie schlagen eine funktionale Entflechtung des
Visitengesprächs vor. Ein Teil der Visite soll patientenzentriert
gestaltet werden und am Bett des Patienten stattfinden. Der organisations
und teamorientierte Teil der Visite findet außerhalb des Krankenzimmers
statt.
Er kann durch tägliche Besprechungen oder Stationsvisiten der Ärzte
ergänzt werden. Die Visite am Krankenbett soll durch den zuständigen
Stationsarzt durchgeführt werden, der sich ans Bett des Kranken setzen
soll, während die übrigen Visitenteilnehmer eine angemessene
Distanz einhalten und das Gespräch verfolgen, jedoch meist nicht darin
einbezogen werden. Werden diese Leitlinien berücksichtigt, besteht
berechtigte Hoffnung, dass die Visite nicht zum "verhinderten Dialog",
sondern zur "Chance zum Gespräch" wird.
Leitlinien für das Visitengespräch
1. Die Visite muss patientenzentriert
ausgerichtet sein.
2. Das Visitengespräch ist ein Zweipersonengespräch.
3. Das Visitengespräch muss die
Patienten-
und
Teambedürfnisse
gleichermaßen berücksichtigen.
4. Dem Kommunikationsbedürfnis
des Patienten muss besonders Rechnung getragen werden.
5. Das Visitengespräch soll symmetrisch
gestaltet
werden.
6. Der Patient muss zum Fragen
angeregt
werden.
7. Implizite Informationen sind
zu vermeiden.
8. Keine Abweisungsstrategien (Hinhalten,
Überfahren, Abwinken, etc.).
9. Entflechtung von patientenzentriertem
und
organisations-
und
teamorientiertem
Teil der Visite.
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Linus
Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage,
Frankfurt a. Main, 1992
©
Pharma Verlag Frankfurt
Autorisierte
Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de
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