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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch   © Pharma Verlag Frankfurt 
Das Gespräch mit dem Schmerzpatienten
Akuter/chronischer Schmerz
Die Schmerzwahrnehmung
Die Schmerzdiagnose
Schmerzbeeinflussung im Gespräch
Schmerzbehandlung beim Tumorkranken
 
Das Gespräch mit dem Schmerzpatienten
Der Schmerzpatient stellt für den niedergelassenen Arzt eine häufige, wichtige und oft schwierige Aufgabe dar.11% der Patienten in der Praxis leiden an chronischen Schmerzen, 10 % aller Verordnungen niedergelassener Ärzte sind Schmerzmedikamente. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es etwa 3 Millionen chronische Schmerzpatienten, darunter etwa 375 000 - 500 000 sogenannte "Problempatienten" (M. ZIMMERMANN).

Das entscheidende "Geheimnis" des Gesprächs mit dem Schmerzpatienten entspricht den Grundlagen jedes verstehenden Gesprächs: emotionale Wärme, empathische Haltung und aktives Zuhören, verbunden mit der Fähigkeit, die Gefühle des Patienten zu verbalisieren.



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Akuter/chronischer Schmerz
Die meisten Schwierigkeiten im Gespräch mit dem Schmerzpatienten resultieren aus der Tatsache, dass viele Ärzte nur Erfahrungen in der Behandlung des akuten Schmerzes haben. Akuter und chronischer Schmerz unterscheiden sich jedoch grundlegend. Der Sinn des akuten Schmerzes ist seine Warn- oder Alarmfunktion, er ist der "bellende Wachhund". Dem chronischen Schmerz fehlt diese Warnfunktion weitgehend. Er bestimmt mehr und mehr das körperliche, seelische und soziale Befinden des Betroffenen über die Grundkrankheit hinaus: Der chronische Schmerz wird zur eigenständigen Krankheit, zur Schmerzkrankheit.

Aus pragmatischen Gründen erscheint es zweckmäßig, in der Therapie zwischen dem chronischen Schmerz ohne (z.B. chronischer Rheumatismus) und mit Karzinom zu unterscheiden. Denn der Krebsschmerz weist gegenüber dem sonstigen chronischen Schmerz eine Reihe von Besonderheiten auf: ein erkennbarer Sinn fehlt, sein Ende ist nicht abzusehen, er erinnert dauernd an die Tumorkrankheit, er ist im allgemeinen zunehmend, und er löst Todesgedanken aus (E. AULBERT, 1990).

Ziele des Gesprächs mit dem Schmerzpatienten sind:

  • das Schmerzerlebnis auf kommunikativem Wege weniger unangenehm zu machen,
  • dem Patienten eine sinnvolle Auseinandersetzung mit der Schmerzkrankheit zu ermöglichen und
  • ihm die Möglichkeit aufzuzeigen, durch bestimmte Verhaltensweisen und Techniken, das Schmerzerlebnis selbst günstig zu beeinflussen.


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Die Schmerzwahrnehmung
Wahrnehmungspsychologisch stellt der Schmerz ein Signal dar, das vom Organismus im Rauschen sogenannter diffuser, unspezifischer Reizgemische ausgemacht wird (B. KOSSMANN und Mitarbeiter). Dies bedeutet, dass die Schmerzwahrnehmung im Verhältnis weniger intensiv ausfällt, wenn es nicht gelingt, den Rauschpegel des diffusen unspezifischen Reizgemisches zu erhöhen. Dies kann beispielsweise durch Ablenkungstechniken geschehen.

Die Schmerzwahrnehmung beinhaltet verschiedene Komponenten: 

  • eine sensorische Komponente, das heißt die Schmerzempfindung selbst,
  • kognitive Reaktionen wie z.B. Gedanken, bildhafte Vorstellungen und Begleitgefühle wie Angst, Depression usw. und
  • das motorische Schmerzverhalten, z.B. stöhnen, jammern, sich krümmen oder hin- und herlaufen.


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Die Schmerzdiagnose
Für eine wirksame Schmerzbehandlung ist eine sorgfältige Schmerzdiagnose unerlässlich. Dabei müssen folgende Punkte herausgearbeitet werden:
  • Lokalisation des Schmerzes,
  • Intensität,
  • Art und Charakter,
  • zeitliche Entwicklung und Verlauf,
  • Auslöser,
  • abschwächende und verstärkende Faktoren,
  • Begleitphänomene.
Um das subjektive Schmerzerleben möglichst deutlich zu erfassen, sind im Gespräch mit dem chronisch Schmerzkranken u.a. folgende Fragen wichtig:

"Was hat sich durch den Schmerz in Ihrem Leben verändert?"
"Was hilft Ihnen gegen die Schmerzen am besten?"
"Was ist für Sie das Schlimmste an Ihren Schmerzen?"

Es sollte immer eine Objektivierung der Schmerzintensität versucht werden, die allerdings nur in Grenzen möglich ist, weil der Schmerz grundsätzlich eine stark subjektive Erlebniskomponente enthält. Objektivierungsverfahren sind z.B. VRS (= verbal rating scale). Diese Skala reicht von 1 (= stärkster vorstellbarer Schmerz) über Zwischenstufen, z.B. 4 (= mäßiger Schmerz), bis 6 (= kein Schmerz). Für Patienten, die ihr Schmerzempfinden schlecht verbalisieren können, eignet sich möglicherweise die VAS (= visuelle Analogskala), die eine Beschreibung der Schmerzempfindung durch die Länge einer Strecke zwischen 0-100 mm ermöglicht. 0 bedeutet keine Schmerzen, 100 stärkster vorstellbarer Wert. Auch das Führen eines Schmerztagebuchs ist zur Beurteilung des Schmerzverlaufs und der Wirksamkeit von Therapiemaßnahmen wichtig. Die Schmerzanamnese hat neben dem diagnostischen Sinn auch eine wichtige therapeutische Bedeutung: sie zeigt dem Patienten, dass der Arzt ihn mit seinen chronischen Schmerzen ernst nimmt.



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Schmerzbeeinflussung im Gespräch
Es gibt eine Reihe von Faktoren, die die Schmerzschwelle erniedrigen wie z. B.:
  • Angst,
  • Schlaflosigkeit, 
  • Sorgen,
  • Traurigkeit,
  • Introversion, 
  • Depression,
  • soziale Abhängigkeit, 
  • Langeweile,
  • Isolation
(R. TWYCROSS).
Daraus folgt, dass die Schmerzschwelle umgekehrt angehoben werden kann: durch Befreiung von Begleitsymptomen, Behebung der Schlaflosigkeit, Vermittlung von Hoffnung und Verständnis, sich Zeit nehmen, Einbindung in die Familie, Beschäftigung und Ablenkungsstrategien.

Generell gibt es folgende Möglichkeiten der Schmerzbewältigung: 

  • Ablenkungstechniken, 
  • Suggestionsstrategien, 
  • Minderung von Angst und Unsicherheit als Schmerzverstärker (siehe Kapitel "Gespräche gegen die Angst" Link),
  • Meditationsverfahren, 
  • Entspannungstechniken.
Die Ablenkungstechniken haben zum Ziel, die Selbstaufmerksamkeit des Patienten auf seinen Körper und damit seine Schmerzen zu senken. Im Rahmen von Imaginationsübungen kann der Patient erlernen, Körpersignale von Umgebungssignalen zu trennen und angenehme bzw. schmerzinkompatible Vorstellungen zu entfalten. Er kann beispielsweise üben, sich eine angenehme Strandszene "in allen Details" (Klima, Beschaffenheit des Strandes, Liegestuhl, Blick auf das Meer, kühlende Getränke) vorzustellen und diese Vorstellungen bei Schmerzverstärkung einzusetzen.

Bei Suggestionsstrategien erfolgt die Therapie verbal, in speziellen Fällen über Hypnose. Hier ist die Persönlichkeit des Arztes entscheidend: der charismatische, kraftvolle, Sicherheit vermittelnde und Angst nehmende Arzt hat hier die besten Erfolge. Hier gilt besonders die Devise: der Arzt als Arznei (LUBAN-PLOZZA). Meditationsverfahren dienen dazu, die Selbstaufmerksamkeit auf ein Minimum zu senken. Sie sind besonders für Menschen mit hoher Selbstaufmerksamkeit und dadurch intensiver Schmerzwahrnehmung geeignet. Zu den Entspannungstechniken zählen das autogene Training sowie die progressive Entspannung nach JACOBSEN. Sie müssen, wie alle Schmerzbewältigungstechniken in schmerzarmen oder schmerzfreien Phasen, am besten in Gruppenübungen erlernt werden, um dann zur richtigen Zeit eingesetzt werden zu können.



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Schmerzbehandlung beim Tumorkranken
Etwa 40% der Patienten in fortgeschrittenen Stadien der Krebskrankheit und 60% der Patienten im terminalen Stadium leiden unter stärksten Schmerzen. Das Problem ist dabei offenbar nicht so sehr die Intensität als das ständige Vorhandensein der Schmerzen. Durch sie wird der Tumorpatient fortwährend an seine lebensbeendende Krankheit erinnert (L. HOFFMANN, 1983). Der Grad der Schmerzfreiheit ist daher für die Lebensqualität des Krebskranken entscheidend (E. AULBERT). Für das Gespräch mit dem schmerzbelasteten Tumorkranken bedarf es nicht des "Spezialisten". Persönliche Zuwendung, Präsenz und Verfügbarkeit, einfühlende und tröstende Sprache sind das Entscheidende. Der schmerzmindernde Effekt dieser zuwendungsintensiven Beziehung zwischen Arzt und Patient kann nicht hoch genug angesetzt werden. Voraussetzung allerdings ist, dass der Arzt sich mit Leiden und Sterben persönlich auseinandergesetzt hat, um nicht seine Unsicherheit und seine Ängste auf den Patienten zu übertragen. Die Schmerzbehandlung des krebskranken Patienten in der terminalen Phase ist daher, wie AULBERT betont, "eine der persönlichsten und im Grunde genommen intimsten Aufgaben ... weil sie die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tode und somit die eigenen Ängste gegenüber Leiden und Tod berührt".

Die Grundregeln der Krebsschmerztherapie (modifiziert nach E. KLASCHIK) lauten:

  1. Zweifele nicht an der Schmerzangabe des Patienten.
  2. Lasse den Patienten nicht warten.
  3. Handle zielbewusst und gib zu verstehen, dass Du Zeit hast.
  4. Verordne eine sicher wirksame Schmerzmitteldosis.
  5. Stelle einen Therapieplan auf.
  6. Besprich ihn mit dem Patienten und den Angehörigen.
  7. Erkundige Dich wenig später nach dem Befinden des Patienten. 
  8. Baue ein stabiles Verhältnis zu Deinem Patienten auf.
  9. Behandle die psychologischen und sozialen Hintergründe.
  10. Wende Dich nicht ab, auch wenn Du scheinbar (!) nichts mehr für den Patienten tun kannst.
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Linus Geisler: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. 3. erw. Auflage, Frankfurt a. Main, 1992
© Pharma Verlag Frankfurt 

Autorisierte Online-Veröffentlichung: Homepage Linus Geisler - www.linus-geisler.de

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