Linus S. Geisler: Sterben
gläubige Menschen leichter? – Spiritualität im Sterbeprozess
Vortrag vom 28. Februar
2009 anlässlich des 16. Solinger Hospiztages
Sterben gläubige Menschen
leichter?
Spiritualität im
Sterbeprozess
Linus S. Geisler
Ein junger Mann, der seinen
Zivildienst auf der Tumorstation einer Universitätsklinik abgeleistet
hatte, schrieb später über diese Zeit:
"Hier fiel mir vermehrt
auf, dass Patienten, die auf mich ruhiger, gelassener und zufriedener wirkten,
auch häufig über Glauben und Spiritualität sprachen. So
stellte ich schon vor meinem Studium die Hypothese auf, dass Menschen,
die auf irgendeine Art und Weise gläubig sind, weniger Angst vor Tod
und Sterben haben."
Dieses Thema ließ Stefan
Bauer, so heißt der junge Mann, nicht mehr los. Er studierte Medizin
und schrieb 2005 seine Doktorarbeit über das Thema Spiritualität
und Furcht vor Tod und Sterben. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind ein
Versuch,
Antworten auf die hier gestellte Frage zu geben. Ich werde später
ausführlicher darauf eingehen.
Eine einfache Frage?
Die Frage, ob religiös
oder spirituell ausgerichtete Menschen leichter sterben, stellt sich jedem,
der mit der Begleitung und Betreuung Sterbender zu tun hat, früher
oder später. Sie erscheint selbstverständlich und lässt
daher auf klare Antworten hoffen.
In den vergangenen dreißig
Jahren ist eine kaum überschaubare Forschung zu möglichen oder
gesicherten Zusammenhängen zwischen Religiosität, Spiritualität
und seelischem Befinden bei Sterbenden, geleistet worden. Eindeutige Antworten
wären daher zu erwarten. Aber die eingehende Analyse enttäuscht.
Dies ist umso erstaunlicher,
als nahezu alle Religionen enge Bezüge zu Sterben und Tod und der
damit verbundenen Sinnfrage erkennen lassen:
-
Jede Religion versucht das Verhältnis
zum Tod zu definieren, legt seine Bedeutung fest und prägt in Glaubenssätzen
und Ritualen die Art und Weise wie Menschen sterben.
-
Geburt, Sterben und Tod sind
Ereignisse im menschlichen Leben, die eine primär spirituelle Dimension
besitzen.
-
Alle Religionen dienen im weitesten
Sinn der Lebens- und Todesbewältigung.
-
Für C. G. Jung waren die
meisten Religionen komplizierte Systeme der Vorbereitung auf den Tod. In
seiner Autobiografie nannte er als entscheidende Frage für den Menschen:
"Bist Du auf Unendliches bezogen oder nicht?"
-
Der Buddhismus gilt als eine
Religion, die im Kern von der Auseinandersetzung mit dem Tod gekennzeichnet
ist (Birgit Heller). Nach einem chinesischen Sprichwort soll, wer über
das Leben Bescheid wissen möchte, Konfuzianismus studieren. Wer etwas
über Tod und Sterben erfahren möchte, den Buddhismus. Viele Buddhisten
unterziehen sich mehrfach am Tage einer intensiven Sterbemeditation.
-
Der Tod gilt dabei nicht als
das Ende, sondern als Durchgang zu einer neuen Existenz. Dabei ist ganz
entscheidend, dass das Bewusstsein in der Todesstunde frei von Anhaftungen
und Angst ist, konzentriert und voll spiritueller Kraft, d. h. vor allem
von Liebe, Mitgefühl und Ich-Freiheit erfüllt (Michael von Brück).
-
Eugen Drewermann definiert Religion
als den Versuch, einer Antwort auf die radikale Zufälligkeit und Ungesichertheit
menschlichen Daseins, also auf die Sinnfrage.
-
Die Wiener Professorin für
katholische Theologie Birgit Heller bringt es m. E. auf die prägnanteste
Formulierung: "Religionen sind Sinngebungssysteme".
Man könnte den Eindruck
haben, dass Religionen letztlich sogar mehr in Beziehung zu Sterben und
Tod stehen, als zum Leben.
Warum also sind eindeutige
Antworten auf den Einfluss von Religiosität auf menschliches Sterben
so schwierig?
Nach meinem Dafürhalten
gibt es dafür drei wesentliche Gründe:
1. |
Sterben ist
ein hochindividuelles Geschehen. Jeder Mensch stirbt anders. Allgemeingültige
Auslegungen und Handlungsanweisungen müssen daher im Kern fragwürdig
bleiben. |
2. |
Religiosität, Gläubigkeit
und Spiritualität müssen differenziert betrachtet werden. Bestimmte
Formen von Religion sind hilfreicher als andere.
Dies muss zu differenten
Antworten führen, die letztlich sogar gegensätzlich ausfallen
können. |
3. |
Schließlich: was ist
unter "leichter sterben" zu verstehen? Wenn das Sterben eines jeden Menschen
so einmalig ist, wie der Abdruck seiner Hand – Elisabeth Kübler-Ross
hat dieses Bild gebraucht – sind normierte Aussagen über die Sterbequalität
kaum zu erwarten. |
Jeder stirbt anders
Wo einer herkommt, wie er
gelebt hat und wohin er glaubt, hofft oder fürchtet gehen zu müssen,
machen den individuellen Tod aus. Uniformität im Sterben ist darüber
hinaus gerade im Zeitalter einer ausgeprägter Individualisierung für
viele Menschen kaum erträglich. Es geht nicht um den Tod, sondern
die Frage stellt sich "welcher Tod?". Und vielleicht noch mehr die Frage:
welcher Tod auf keinen Fall?
Der Tod erscheint als das
vollkommen Andere und Fremde, das Unberechenbare schlechthin. Dies ist
für den Menschen der Moderne schwer hinnehmbar. Er strebt nach Risikokalkül
auch im Leiden und Sterben. Er will einen berechenbaren, einen programmierten
Tod. Im Sterbeprozess darf möglichst nichts Ungeplantes auftauchen.
Patientenverfügungen sind der fragwürdige Versuch der Vorausbestimmung
von Sterbemodalitäten. Der selbst organisierte Tod wird zum Ziel.
Die Soziologin Marianne Gronemeyer fragt provozierend: "Wie willst du gestorben
werden?"
Die Devise, der gute Tod
könne "gelingen" täuscht eine Machbarkeit des Sterbens
vor und setzt Sterbende wie Begleitende unter Druck. Sterben ist keine
Leistung, die abgefordert werden kann. Sterben ereignet sich. Der Tod bleibt
das große unvorhersehbare Ereignis, dem wir einsam ausgeliefert sind.
Sehr klar hat Martin Luther
in seiner Fastenpredigt 1522 die große Einsamkeit des Sterbens
formuliert: "Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert und keiner wird für
den andern sterben, sondern jeglicher in eigener Person für sich mit
dem Tode kämpfen … ein jeglicher muss für sich selbst geschickt
sein in die Zeit des Todes."
Und der Philosoph Kierkegaard
meint: "Der eigene Tod, das ist der Ernst, der Tod des anderen ist nur
eine Stimmung."
Eine 67jährige Patientin
(E. C.), die ihre letzten Tage in einem Hamburger Hospiz verbrachte, sagte:
"Der Tod ist doch eine Lebensreifeprüfung. Die muss jeder Mensch für
sich alleine bestehen."
Das Sterben des Anderen wird
auch für den so genannten Erfahrenen jedes Mal neu sein, weil es jedes
Mal anders ist. Denn die allgemeine Erkenntnis des Gesunden, dass Sterblichkeit
zwar eine absolute Konstante des Menschseins ist, ist ein Wissen,
das mit dem Bewusstsein des Sterbenskranken, sich bereits in jenem
Prozess zu befinden, der unausweichlich in das Ende des Lebens einmündet,
nicht gleichzusetzen ist. Diese Erkenntnis sollte bescheiden stimmen –
aber nicht entmutigen.
Mit anderen Worten: die "Innenseite"
des Sterbens eines anderen bleibt bis zu einem gewissen Grad immer verborgen
und kann bei noch so genauer Betrachtung und Beschäftigung mit der
"Außenansicht" nur unzulänglich erkannt werden.
Dieser natürlichen Grenzen
sollte sich jeder Sterbebegleiter bewusst sein. Wie einer wirklich gestorben
ist, wissen wir sozusagen immer nur aus "zweiter Hand". Alle Aussagen darüber,
wie
jemand gestorben ist, haben eine grundsätzliche Grenze. Das ist eine
Erklärung dafür, warum Sterbeforschung über die Qualität
des Sterbens und die Ursachen für das subjektive Erleben des
individuellen Sterbens nur begrenzte Aussagen treffen kann. Das gilt auch
und gerade für die Auswirkungen von Glauben, Religion und Spiritualität
auf das Sterben.
Was heißt "leicht"
sterben?
Was heißt "leicht"
sterben? Vordergründig könnte es bedeuten, dass körperliche
Symptome wie Schmerzen, Übelkeit, Atemnot u. ä. beherrscht sind.
Die moderne Palliativmedizin kann hier nicht alles, aber sehr vieles leisten.
Es könnte auch bedeuten, dass Betreuer und Begleiter stets zur Seite
stehen. Dass die Ängste und Depressionen vielleicht durch Medikamente
beseitigt oder wenigstens gemindert worden sind. Dass die Würde des
Sterbenden gewahrt und der Wunsch nach einem bestimmten Sterbeort erfüllt
wurde.
Der gute Tod
Fragt man Menschen, welchen
Tod sie sich wünschen, erhält man oft die Antwort: einen "guten
Tod". Genau genommen ist ein "gutes Sterben" gemeint. Was ein guter Tod
ist, darum ist viel gerungen und darüber ist viel geschrieben worden.
Die Literatur zeichnet nicht
selten ein geschöntes Bild. So lesen wir bei Marcel Proust in seinem
Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit:
"Das Leben ging
und nahm die Enttäuschungen des Daseins gleichfalls mit sich fort.
Ein Lächeln schien auf den Lippen meiner Großmutter zu liegen.
Auf dieses letzte Lager hatte der Tod sie wie ein Bildhauer des Mittelalters
mit den Zügen eines jungen Mädchens hingestreckt, das sie einst
gewesen war."
Das British Medical Journal
hat im Januar 2000 eine ganze Ausgabe dem Thema A good death gewidmet.
In dem Editorial wendet sich der Herausgeber Richard Smith an die Leser
des BMJ und empfiehlt ihnen, falls sie es bisher nicht getan hätten,
mit den Vorbereitungen auf das Sterben zu beginnen. Immerhin würde
jeder BMJ-Leser noch in diesem Jahrhundert sterben.
Das Editorial nennt zwölf
Prinzipien eines "guten Todes":
Prinzipien eines
"guten Todes"
-
Zu wissen, wann der Tod
kommt und zu verstehen, was zu erwarten ist
-
Die Kontrolle über
das Geschehen zu behalten
-
Würde und Privatsphäre
zugestanden zu bekommen
-
Eine gute Behandlung der Schmerzen
und anderer Symptome
-
Die Wahl zu haben, wo man
sterben möchte (zu Hause oder anderswo)
-
Alle nötigen Informationen
zu bekommen
-
Jede spirituelle und
emotionale
Unterstützung zu bekommen
-
Hospizbetreuung überall,
nicht nur im Krankenhaus
-
Bestimmen zu können, wer
beim
Ende dabei sein soll
-
Vorausbestimmen zu können,
welche Wünsche respektiert werden sollen
-
Zeit zu haben für den Abschied
-
Gehen zu können,
wenn die Zeit gekommen ist und keine sinnlose Lebensverlängerung
zu erleiden
|
Das alles kann weitgehend
geleistet werden durch das große therapeutisches Potenzial von Medizin
und Pflege. Man könnte versucht sein zu sagen: alle diese Hilfen wurzeln
allerdings in diesseitigen Ressourcen. Diese Prinzipien scheinen
vor allem darauf ausgerichtet zu sein, die Autonomie und Würde des
Sterbenden zu bewahren. Der Wunsch nach spiritueller Unterstützung
wird nur als einer unter vielen genannt.
Aber ist das wirklich alles?
Ist damit auch schon jene Leichtigkeit im Sterben erreicht, die über
das hinausgeht, was Palliativmedizin, z. B. durch Zuspruch, Beistand und
Medikation erzielen kann? Ist es jene Leichtigkeit, die über die eigene
begrenze Wirklichkeit hinausreicht und schon die Brücke schlägt
in eine andere Wirklichkeit, in der andere, hier nicht zugängliche
Qualitäten des Seins, bestimmend sind? Und vor allem: wie ist dieser
Brückenschlag in das Transzendentale vollziehbar?
Eine Antwort könnte
lauten: In einem weiteren Sinn, jenseits von Glaube und Religion, ist es
die spirituelle Sehnsucht, die Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit.
Sie ist eine Grundverfasstheit des Menschen. Denn es gibt Situationen und
Zustände, in denen wir erfahren, dass die Alltagswirklichkeit keine
umfassende Antwort auf die Fragen gibt, die uns im Innersten und
besonders im Sterben bewegen. Diese spirituelle Wirklichkeit ist transzendentaler
Natur. Sie ist nicht weniger "wirklich" als die Alltagswirklichkeit. Alltägliche
und spirituelle Wirklichkeit sind komplementär in einem konstituierenden
Sinne.
Vielleicht wird der Weg in
diese Transzendenz vor allem dann eröffnet, wenn der Mensch endlich
erlöst
ist, wenn er versöhnt ist.
Aber versöhnt womit?
Der bekannte buddhistische
Lehrer Sogyal Rinpoche beschreibt in seinem Werk Das tibetische Buch
vom Leben und vom Sterben eine junge Ärztin in einem großen
Londoner Krankenhaus. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag bedrängt ein
sterbenskranker alter Mann sie mit der Frage: "Glauben Sie, dass Gott mir
meine Sünden vergeben wird?" Sie kann nichts antworten, ist hilflos,
wie gelähmt und unfähig dem Kranken bei seiner Sinnsuche zu helfen.
Einen Geistlichen, an den sie die Frage weitergeben möchte, findet
sie nicht.
Später wendet sie sich
an Sogyal Rinpoche und fragt ihn, wie er sich verhalten hätte. Er
antwortet:
"Ich hätte
mich zu ihm gesetzt, seine Hand genommen, ihn einfach sprechen lassen und
ihm mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit und voll Mitgefühl zugehört.
Vielleicht hätte ich ihm auf diese Weise helfen können, seine
eigene
innere Wahrheit zu entdecken."
Möglicherweise hätte
ich zu ihm gesagt: "Gott hat Ihnen längst vergeben, denn Gott ist
die Vergebung selbst. Die eigentliche Frage ist: Können Sie sich
selbst vergeben?"
"Versöhnt" könnte
also eine Form der friedlichen, allumfassenden Verständigung
bedeuten. Versöhnt mit der Welt und der Umgebung, versöhnt mit
sich selbst, versöhnt mit Gott. Es ist jenes Phänomen, das die
Psychotherapeutin Monika Renz in ihrer Arbeit mit spirituell ausgerichteten
Patienten als wesentlich beschrieben hat: eine versöhnte Beziehung
zu Krankheit und Sterben.
Die anfangs gestellte Frage
nach dem "leichten Sterben" könnte also vielleicht treffender so formuliert
werden:
Sterben religiöse Menschen
versöhnter?
Der Antwort sollte zunächst
die Feststellung vorausgehen: auch der nicht religiöse, der
nicht
spirituell orientierte Mensch kann selbstverständlich leicht und versöhnt
sterben.
Religiosität, Gläubigkeit
und Spiritualität müssen differenziert betrachtet werden
Es ist bemerkenswert, dass
es an die einhundert verschiedene Definitionen für Religion
gibt, aber keine wissenschaftlich allgemein anerkannte. Dennoch es gibt
Gemeinsamkeiten.
Allen Religionen gemeinsam ist, ihre Funktion als
Sinngebungssystem.
Gemeinsam ist den Religionen
auch "die Anstrengung, den Tod in das Leben zu integrieren, sowohl die
geistige Auseinandersetzung zu fördern als auch praktische Umgangsformen
(rituelle Sterbebegleitung, Totenrituale, ritualisierte Verarbeitungsprozesse
des Verlustes) zu entwickeln." (Birgit und Andreas Heller).
Eine etwas andere Perspektive
betont die Definition des Religionswissenschaftlers Theo Sundermeier. Für
ihn ist Religion die gemeinschaftliche Antwort des Menschen auf Transzendenzerfahrung,
die sich in Ritus und Ethos Gestalt gibt. Hier liegt die Betonung auf dem
Übersinnlichen und Jenseitigen. Aber nicht alle Religionen sind auf
einen Gott bezogen.
Bei der Suche nach einer
Antwort, ob Religiosität die Qualität des Sterbens beeinflussen
kann, ist es entscheidend, zwischen unterschiedlichen Formen von
Religiosität zu differenzieren.
Die Qualität der Gottesbeziehung
entscheidet nämlich über ihre Auswirkungen. So unterscheidet
der amerikanische Religionspsychologe Kenneth Pargament zwischen den "bitteren
und süßen" Früchten von Religiosität: Während
eine verinnerlichte, überzeugungsgeleitete Religion, die auf einer
vertrauensvollen Gottesbeziehung beruht, sich positiv auf das seelische
Wohlbefinden auswirkten kann, beeinträchtigen eine rein anerzogene
und unreflektierte Religion sowie eine schwach ausgeprägte Gottesbeziehung
das Wohlbefinden.
Schon in den 60er Jahren
hat der Religionswissenschaftler Gordon Allport zwischen intrinsischer
und extrinsischer Religion unterschieden:
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|
|
|
Intrinsische Religion
-
Religionsausübung aus eigenem
Antrieb und innerem Bedürfnis
-
Verinnerlichte, überzeugungsgeleitete
Religion
-
Vertrauensvolle Gottesbeziehung
|
|
Extrinsische
Religion
-
Anerzogene, von außen
auferlegte oder sogar erzwungene religiöse Verhaltensmuster
-
Von Angst geprägt
-
An Nützlichkeit orientiert
-
Negatives Gottesbild ("strafender
Gott")
|
Nach Allport ist nur eine intrinsische
Religiosität geeignet hilfreich zu wirken.
Obwohl diesem Konzept eine
gewisse strukturelle Einfachheit vorgeworfen wurde, ist seine Kernaussage
immer wieder bestätigt worden. Dazu gibt es inzwischen weltweit über
200 Studien. Bernhard Grom und Jürgen Zwingmann konnten zeigen, dass
sich hinsichtlich Lebenszufriedenheit, psychischem Wohlbefinden und Religiosität
am ehesten Beziehungen finden lassen, wenn eine verinnerlichte, nicht aufgesetzte
religiöse Bindung vorliegt.
Inwieweit sich diese Ergebnisse
auf das seelische Befinden in der letzten Lebensphase auswirken, kann aber
nur mit Vorsicht eingeschätzt werden.
Die Mechanismen, auf denen
diese Wirkungen beruhen, dürften auf einem vielfältigen Zusammenspiel
unterschiedlichster Faktoren beruhen. Die wichtigsten sind:
-
Soziale Unterstützung durch
die Glaubensgemeinschaft
-
Sinngebung (Lebenssinn)
-
Stressreduktion (Gebet, Meditation)
-
Verbessertes Coping (Bewältigungsstrategien)
-
Transzendenz (Gefühl mit
einer höheren Macht verbunden zu sein)
-
Stärkung des Immunsystems
Eine differenzierte Betrachtung
zeigt, dass die globale Bewertung einer Religion als ein stabiles
System, das überwiegend gut oder überwiegend schlecht ist, nicht
taugt.
Der Versuch, möglichst
viele Aspekte von Religionen, die sich in der Literatur finden lassen,
einzubeziehen erlaubt folgende allgemeine Schlussfolgerungen (K. Pargament):
-
Bestimmte Formen von Religion
sind hilfreicher als andere.
-
Eine verinnerlichte, aus eigenem
Antrieb gelebte Religion mit einer festen Gottesbeziehung ist eine günstige
Basis für seelisches Wohlbefinden.
-
Religion ist vor allem für
Menschen hilfreich, deren Glaube möglichst vollständig in ihr
Leben eingebunden ist.
-
Glaube und Religionsausübung
scheinen besonders hilfreich in Situationen zu sein, in denen Menschen
sich am Rande ihrer Kräfte befinden, also in Grenzsituationen.
Vereinfachende oder stereotype
Schlussfolgerungen über Religionen sind also weder möglich noch
hilfreich.
Was ist Spiritualität?
Der Spiritualitätsbegriff
wird nicht selten unscharf und zu allgemein definiert. Nicht jede außergewöhnliche
Erfahrung ist spiritueller Natur, wie zum Beispiel ekstatische, visionäre
oder auditive Ereignisse, parapsychologische oder okkulte Phänomene.
Soll der Spiritualitätsbegriff nicht als "Container" für unterschiedlichste
religiös, esoterisch oder sonst wie gefärbte Empfindungen oder
Erlebnisse missbraucht werden, ist eine klare Begriffsbestimmung nötig.
Harald Walach, einer der
profilierten deutschen Forscher auf dem Gebiet der Spiritualität hat
deutlich gemacht, dass Spiritualität im Wesentlichen eine bestimmte
Erfahrung
bedeutet, nämlich, die erfahrungsmäßige Erkenntnis einer
transzendenten, das individuelle Ich übersteigenden Wirklichkeit.
Die Musik- und Psychotherapeutin
Monika Renz versteht unter Spiritualität Erfahrung im Zwischenbereich
von Mensch und einem Transzendenten, meistens von Mensch und Gott. Spiritualität
ist Erfahrung mit einem ewig Anderen. In einem weiteren Sinne, sagt Renz,
ist Spiritualität Berührung mit einer andersartigen Realität,
zu der der Mensch Ja sagen kann oder Nein.
Im spirituellen Erlebnis
wird jener Ort erreicht, so Monika Renz, "wo das nackte Ich sich von einem
Unfassbaren berührt bis überwältigt erfährt". Dieses
Ergriffensein kann aber auch als erschreckend und bedrohlich imponieren.
Renz beschreibt einen Patienten, der während eines spirituellen Erlebnisses
ausruft: "Da werde ich zerstört!", aber kurz danach sichtlich ergriffen
sagt: "Ach so faszinierend gefährlich!"
Schließlich spielen
kulturell-religiöse
Unterschiede in der Beschreibung spiritueller Erfahrungen eine deutliche
Rolle. Während zum Beispiel ein Buddhist von einer Erfahrung der Leerheit
spricht, wird ein Christ seine Erfahrung vielleicht als Vereinigung mit
Christus interpretieren, obwohl der phänomenologische Kerngehalt der
jeweiligen spirituellen Erfahrung sich ähneln dürfte (H. Walach).
Eine grundsätzliche
Schwierigkeit in der Vermittlung spiritueller Erfahrungen besteht darin,
dass sie nur begrenzt sprachlich ausgedrückt werden können. So
hatte Thomas von Aquin am 6. Dezember 1272, ein knappes halbes Jahr vor
seinem Tod, eine profunde spirituelle Erfahrung. Danach hat er nichts mehr
geschrieben. Nicht weil er zu krank war, sondern wie sein Biograf Wilhelm
von Tocco berichtet, weil er der Meinung war, alles, was er geschrieben
habe sei wie Stroh im Vergleich zu dem, was er geschaut hatte.
Es ist auch möglich,
worauf Walach hingewiesen hat, dass es zu negativen spirituellen
Erfahrungen kommt, die mit "Dekonstruktion und Ichauflösung" beschreibbar
sind ("mein Weltbild zerbröckelt"), ja sogar an psychopathologisch-psychiatrische
Erfahrungen grenzen.
Doppelte Gesichter?
Es scheint also so zu sein,
dass das Religiosität und Spiritualität eine vielschichtige,
sogar gegensätzliche Wirkung auf den Menschen ausüben können.
Hier liegt vielleicht die Erklärung des Phänomens negativer Effekte
von Spiritualität, auch im Sterben.
Dies spiegelt sich auch in
der Literatur wider. So haben vor kurzem englische Soziologen (Thuné-Boyle
IC, Stygall JA, Keshtgar MR, Newman SP) insgesamt siebzehn Studien der
Weltliteratur analysiert, die sich mit den hilfreichen oder schädlichen
Auswirkungen von Religiosität bei Krebspatienten beschäftigen.
Die Ergebnisse waren zwiespältig. Sieben Arbeiten beschrieben günstige
Auswirkungen religiöser Bewältigungsstrategien, sieben hatten
kein signifikantes Ergebnis und bei drei weiteren ergaben sich nachteilige
Effekte. Freilich betonen die Autoren, dass die großen methodischen
Unterschiede und der unterschiedliche Aufbau der Studien nur sehr bedingt
allgemeingültige Rückschlüsse erlauben.
Kehren wir auf den anfangs
erwähnten späteren Arzt Stephan Bauer zurück. Das Ergebnis
seiner Studie Spiritualität und Furcht vor Tod und Sterben
an 91 Patienten einer hämato-onkologischen Station zeigt, dass es
keine pauschalen Antworten gab:
-
Sowohl "gläubige" als auch
"nicht gläubige" onkologische Patienten, die sich mit der Todesthematik
erst im Sterben auseinandersetzen, zeigten große Furcht vor dem Totsein.
-
Geringere Furcht vor dem Totsein
und vor der Endlichkeit des Lebens fand sich hauptsächlich bei den
Patienten, die ihren Glauben im Alltagsleben praktizierten.
-
"Lediglich für diese
"aktiv Gläubigen" stellte ihr Glaube einen sehr guten Copingmechanismus
(Bewältigungsstrategie) dar, um ihre Furcht vor dem Totsein zu reduzieren."
Die spirituelle Anamnese
Ganz pragmatisch stellt sich
die Frage, wie die Spiritualität von Patienten erfasst werden kann.
Von Christina Puchalski stammt
ein differenzierteres, gut strukturiertes Fragenkonzept zur Erhebung einer
spirituellen Vorgeschichte. Folgende Fragen sind danach gut geeignet, die
spirituellen Ressourcen von Patienten zu erfassen:
Spiritualität
-
In wen oder in was setzen Sie
Ihre Hoffnung?
-
Woraus schöpfen Sie Kraft?
-
Gibt es etwas, das Ihrem Leben
einen Sinn verleiht?
-
Welche Glaubensüberzeugungen
sind für Sie wichtig?
-
Betrachten Sie sich als spirituellen
oder religiösen Menschen?
Diese Fragen sollen natürlich
nur den Rahmen für das spirituelle Gespräch abstecken und nicht
als "Fragenkorsett" gehandhabt werden. Sinn und Wirkung können Sie
nur entfalten, wenn es der Therapeut als entscheidendes komplementäres
Verhalten versteht, aktiv zuzuhören.
Spirituelle Erfahrungen
von Kranken und Sterbenden
Kurz vor ihrem Tod machen
Sterbende oft noch spirituelle Erfahrungen, die ihnen eine Ahnung von Fülle,
Frieden mit sich selbst und eine Sensibilität von höchster Intensität
ermöglichen. Dies beobachtete die Musik- und Psychotherapeutin Monika
Renz, Leiterin der Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen, bei ihrer
Arbeit mit den Patienten. "Sterben ist mehr als ein körperliches Ableben.
Gerade im Sterben finden Menschen zu letzter Reifung und Wandlung", so
Renz.
In ihrer ersten Studie mit
80 Patienten berichtete mehr als die Hälfte von ihnen verbal oder
nonverbal über ein wunderbares spirituelles Geschehen oder eine Vision.
Beobachtet wurden Lichterlebnisse, das Gefühl, zu fliegen, zu schweben,
insgesamt "leicht" zu werden. Es gab auch Aussagen wie "Gott (Christus,
ein Engel) holt mich ab", "Gott siegt". Diese Begebenheiten wurden nonverbal
durch ein Strahlen, eine plötzliche Ruhe bei vorheriger Ruhelosigkeit
und einem friedlichen Gesichtsausdruck begleitet. Diese Glückszustände
dauerten oft Tage oder sogar Wochen an.
Von diesen Ergebnissen inspiriert,
führte sie eine zweite Studie – diesmal bei Schwerstkranken durch.
Sie wollte sich der Frage nähern, ob ähnliche spirituelle Erlebnisse
auch in Zuständen größter Not auftreten und ob es trotz
aller Individualität der Erlebnisse Übereinstimmungen und wiederkehrende
Inhalte gibt. Sie begleitete 251 Patienten innerhalb eines Jahres. Mehr
als die Hälfte (135) machte spirituelle Erfahrungen. Für alle
aus dieser Gruppe veränderte dies die Einschätzung der Gegenwart,
beziehungsweise wurde als positive körperliche Veränderung empfunden.
Berichtet wurde
-
über Schmerzlinderung,
-
verringertes Unwohlsein,
-
weniger Atemprobleme,
-
Angstreduktion und
-
über eine versöhntere
Beziehung zur Krankheit.
Spirituelle Erlebnisse wurden
von Christen und Nichtchristen, von Gläubigen und Nichtgläubigen
gleichermaßen gemacht.
Der Arzt Arnd Büssing
von der Universität Witten/Herdecke kommt auf Grund seiner umfangreichen
Erfahrungen mit den Auswirkungen von Spiritualität und Religiosität
bei Krebskranken zu der Erkenntnis, Religiosität habe zwar keinen
Einfluss auf die physische Gesundheit. "Allerdings gehen religiöse
Menschen mit ihrer Krankheit anders um." So erzählte ihm eine Patientin
mit nicht mehr heilbarem Lungenkrebs, dass sie sich einer Gebets- und Meditationsgruppe
angeschlossen habe. Obwohl der Krebs trotz aller Therapiebemühungen
weiter fortschritt, "fühlte sie sich dennoch erlöst."
Die Psychologin Colleen McClain-Jacobsen
fand bei ihren Untersuchungen an 271 Krebspatienten im Endstadium, dass
vor allem Spiritualität einen starken positiven Effekt auf seelische
Zustände hatte, während dies für den Glauben an ein Leben
nach dem Tode nicht sicher galt.
Die ursprünglich gestellte
Frage "Sterben gläubige Menschen leichter?" könnte vielleicht
in behutsamer Weise so beantwortet werden:
-
Menschen, deren Gläubigkeit
auf einer verinnerlichten, überzeugungsgeleiteten Religion und auf
einer vertrauensvollen Gottesbeziehung beruht
-
und die offen sind für
spirituelle Erfahrungen, können auf ein leichteres, versöhnteres
Sterben hoffen.
Religiosität und Spiritualität
im Sterben – Ausblick
Leichter, versöhnter
zu sterben, das ist wahrscheinlich der Wunsch jedes Menschen. Religionen
als Sinnfindungssysteme und Vorbereitungsangebote auf Sterben und Tod erscheinen
als die natürlichen Wege zu diesem Ziel, ebenso Spiritualität,
auch wenn sie an keine Religion gebunden ist.
Aber diese Wege sind nicht
eindeutig vorgezeichnet und nicht auf Anhieb zu finden.
Vereinfachende oder stereotype
Schlussfolgerungen über Religionen und Spiritualität sind also
nicht hilfreich.
Für Spiritualität
gilt:
-
sie ist eine Erfahrung, die
sich ereignet oder nicht
-
Spiritualität lässt
sich nicht an Absichten binden
-
Spiritualität lässt
sich nicht therapeutisch instrumentalisieren
-
Spiritualität kann nicht
verordnet werden wie ein Medikament
Auf
Religiosität und Spiritualität lässt sich also nicht setzen
wie auf eine Karte mit besonders guten Erfolgsaussichten. Ob und wie sich
Religiosität auf unser Sterben auswirkt liegt nur zum Teil in unserer
Hand und hat eher zu tun mit Zuversicht, Hoffnung, Vertrauen – und wohl
auch mit Gnade.
Leichtes, versöhntes
Sterben kann sich auch jenseits von Glaube und Spiritualität vollziehen.
Dies wird umso leichter geschehen, wenn der Sterbende begleitet wird von
Menschen, die einfach da sind. Die mit "leeren Händen" kommen. Diese
Hände haben sich von Vorurteilen und Deutungen gelöst, sie bringen
keine Ratschläge mit, sie halten keine Instrumente mehr. Instrumentenlosigkeit
ist die Voraussetzung für Begleiten im Sterben.
Christine Longaker, die bekannte
Gründerin des Spiritual Care Program, hat es so ausgedrückt:
"Der oberste Grundsatz, um
jemanden friedvoll sterben zu lassen – insbesondere, wenn ihm jeglicher
Glaube und jegliche spirituelle Praxis fehlt – ist, ihn zu unterstützen,
mit einem befriedeten Geist zu sterben, ohne Zorn, ohne Festhalten, aber
in dem Gefühl, geliebt zu werden." (Christine Longaker 1995, S. 248)
Literaturhinweise
Geisler, Linus S.: Spiritualität
in der Medizin. Arznei – Placebo – Droge? Universitas, 61. Jahrgang, Nr.
716, Februar 2006, S. 132-143
URL: http://www.linus-geisler.de/art2006/200602universitas-spiritualitaet_medizin.html
Renz, M.: Grenzerfahrung
Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Freiburg – Basel –
Wien. 2006.
Heller, B.: Aller Einkehr
ist der Tod. Interreligiöse Zugänge zu Sterben, Tod und Trauer.
Lambertusverlag. Freiburg. 2003.
Büssing, A.; Ostermann,
Th.; Glöckler, M.; Matthiessen, P.F. (Hrsg): Spiritualität, Krankheit
und Heilung – Bedeutung und Ausdrucksformen
der Spiritualität in der Medizin. Frankfurt/Main. 2006.
Pargament, K.: The Bitter
and the Sweet: An Evaluation of the Costs and Benefits of Religiousness.
Psychological Inquiry 13 (3) 168-181. 2002.
Walach, H.: Spiritualität
als Ressource – Ein neues Forschungsfeld und seine Chancen und Probleme.
Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2005;37:4-12
|
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Linus S. Geisler: Sterben
gläubige Menschen leichter? –- Spiritualität im Sterbeprozess |
Vortrag vom 28. Februar
2009 anlässlich des 16. Solinger Hospiztages |
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0902phos_spiritualitaet-sterbeprozess.html |
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