Start  <  Vorträge  <  Linus S. Geisler: STERBEN GLÄUBIGE MENSCHEN LEICHTER? – SPIRITUALITÄT IM STERBEPROZESS. Solingen, Februar 2009
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Linus S. Geisler: Sterben gläubige Menschen leichter? – Spiritualität im Sterbeprozess 
Vortrag vom 28. Februar 2009 anlässlich des 16. Solinger Hospiztages
Sterben gläubige Menschen leichter?

Spiritualität im Sterbeprozess

Linus S. Geisler

Ein junger Mann, der seinen Zivildienst auf der Tumorstation einer Universitätsklinik abgeleistet hatte, schrieb später über diese Zeit:
"Hier fiel mir vermehrt auf, dass Patienten, die auf mich ruhiger, gelassener und zufriedener wirkten, auch häufig über Glauben und Spiritualität sprachen. So stellte ich schon vor meinem Studium die Hypothese auf, dass Menschen, die auf irgendeine Art und Weise gläubig sind, weniger Angst vor Tod und Sterben haben."
Dieses Thema ließ Stefan Bauer, so heißt der junge Mann, nicht mehr los. Er studierte Medizin und schrieb 2005 seine Doktorarbeit über das Thema Spiritualität und Furcht vor Tod und Sterben. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind ein Versuch, Antworten auf die hier gestellte Frage zu geben. Ich werde später ausführlicher darauf eingehen.

Eine einfache Frage?

Die Frage, ob religiös oder spirituell ausgerichtete Menschen leichter sterben, stellt sich jedem, der mit der Begleitung und Betreuung Sterbender zu tun hat, früher oder später. Sie erscheint selbstverständlich und lässt daher auf klare Antworten hoffen.

In den vergangenen dreißig Jahren ist eine kaum überschaubare Forschung zu möglichen oder gesicherten Zusammenhängen zwischen Religiosität, Spiritualität und seelischem Befinden bei Sterbenden, geleistet worden. Eindeutige Antworten wären daher zu erwarten. Aber die eingehende Analyse enttäuscht. 

Dies ist umso erstaunlicher, als nahezu alle Religionen enge Bezüge zu Sterben und Tod und der damit verbundenen Sinnfrage erkennen lassen: 

  • Jede Religion versucht das Verhältnis zum Tod zu definieren, legt seine Bedeutung fest und prägt in Glaubenssätzen und Ritualen die Art und Weise wie Menschen sterben. 
  • Geburt, Sterben und Tod sind Ereignisse im menschlichen Leben, die eine primär spirituelle Dimension besitzen.
  • Alle Religionen dienen im weitesten Sinn der Lebens- und Todesbewältigung.
  • Für C. G. Jung waren die meisten Religionen komplizierte Systeme der Vorbereitung auf den Tod. In seiner Autobiografie nannte er als entscheidende Frage für den Menschen: "Bist Du auf Unendliches bezogen oder nicht?" 
  • Der Buddhismus gilt als eine Religion, die im Kern von der Auseinandersetzung mit dem Tod gekennzeichnet ist (Birgit Heller). Nach einem chinesischen Sprichwort soll, wer über das Leben Bescheid wissen möchte, Konfuzianismus studieren. Wer etwas über Tod und Sterben erfahren möchte, den Buddhismus. Viele Buddhisten unterziehen sich mehrfach am Tage einer intensiven Sterbemeditation.
  • Der Tod gilt dabei nicht als das Ende, sondern als Durchgang zu einer neuen Existenz. Dabei ist ganz entscheidend, dass das Bewusstsein in der Todesstunde frei von Anhaftungen und Angst ist, konzentriert und voll spiritueller Kraft, d. h. vor allem von Liebe, Mitgefühl und Ich-Freiheit erfüllt (Michael von Brück).
  • Eugen Drewermann definiert Religion als den Versuch, einer Antwort auf die radikale Zufälligkeit und Ungesichertheit menschlichen Daseins, also auf die Sinnfrage.
  • Die Wiener Professorin für katholische Theologie Birgit Heller bringt es m. E. auf die prägnanteste Formulierung: "Religionen sind Sinngebungssysteme".
Man könnte den Eindruck haben, dass Religionen letztlich sogar mehr in Beziehung zu Sterben und Tod stehen, als zum Leben. 

Warum also sind eindeutige Antworten auf den Einfluss von Religiosität auf menschliches Sterben so schwierig? 
Nach meinem Dafürhalten gibt es dafür drei wesentliche Gründe: 

1. Sterben ist ein hochindividuelles Geschehen. Jeder Mensch stirbt anders. Allgemeingültige Auslegungen und Handlungsanweisungen müssen daher im Kern fragwürdig bleiben.
2. Religiosität, Gläubigkeit und Spiritualität müssen differenziert betrachtet werden. Bestimmte Formen von Religion sind hilfreicher als andere.
Dies muss zu differenten Antworten führen, die letztlich sogar gegensätzlich ausfallen können.
3.  Schließlich: was ist unter "leichter sterben" zu verstehen? Wenn das Sterben eines jeden Menschen so einmalig ist, wie der Abdruck seiner Hand – Elisabeth Kübler-Ross hat dieses Bild gebraucht – sind normierte Aussagen über die Sterbequalität kaum zu erwarten.

Jeder stirbt anders

Wo einer herkommt, wie er gelebt hat und wohin er glaubt, hofft oder fürchtet gehen zu müssen, machen den individuellen Tod aus. Uniformität im Sterben ist darüber hinaus gerade im Zeitalter einer ausgeprägter Individualisierung für viele Menschen kaum erträglich. Es geht nicht um den Tod, sondern die Frage stellt sich "welcher Tod?". Und vielleicht noch mehr die Frage: welcher Tod auf keinen Fall

Der Tod erscheint als das vollkommen Andere und Fremde, das Unberechenbare schlechthin. Dies ist für den Menschen der Moderne schwer hinnehmbar. Er strebt nach Risikokalkül auch im Leiden und Sterben. Er will einen berechenbaren, einen programmierten Tod. Im Sterbeprozess darf möglichst nichts Ungeplantes auftauchen. Patientenverfügungen sind der fragwürdige Versuch der Vorausbestimmung von Sterbemodalitäten. Der selbst organisierte Tod wird zum Ziel. Die Soziologin Marianne Gronemeyer fragt provozierend: "Wie willst du gestorben werden?" 

Die Devise, der gute Tod könne "gelingen" täuscht eine Machbarkeit des Sterbens vor und setzt Sterbende wie Begleitende unter Druck. Sterben ist keine Leistung, die abgefordert werden kann. Sterben ereignet sich. Der Tod bleibt das große unvorhersehbare Ereignis, dem wir einsam ausgeliefert sind. 

Sehr klar hat Martin Luther in seiner Fastenpredigt 1522 die große Einsamkeit des Sterbens formuliert: "Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert und keiner wird für den andern sterben, sondern jeglicher in eigener Person für sich mit dem Tode kämpfen … ein jeglicher muss für sich selbst geschickt sein in die Zeit des Todes." 

Und der Philosoph Kierkegaard meint: "Der eigene Tod, das ist der Ernst, der Tod des anderen ist nur eine Stimmung." 

Eine 67jährige Patientin (E. C.), die ihre letzten Tage in einem Hamburger Hospiz verbrachte, sagte: "Der Tod ist doch eine Lebensreifeprüfung. Die muss jeder Mensch für sich alleine bestehen." 

Das Sterben des Anderen wird auch für den so genannten Erfahrenen jedes Mal neu sein, weil es jedes Mal anders ist. Denn die allgemeine Erkenntnis des Gesunden, dass Sterblichkeit zwar eine absolute Konstante des Menschseins ist, ist ein Wissen, das mit dem Bewusstsein des Sterbenskranken, sich bereits in jenem Prozess zu befinden, der unausweichlich in das Ende des Lebens einmündet, nicht gleichzusetzen ist. Diese Erkenntnis sollte bescheiden stimmen – aber nicht entmutigen. 

Mit anderen Worten: die "Innenseite" des Sterbens eines anderen bleibt bis zu einem gewissen Grad immer verborgen und kann bei noch so genauer Betrachtung und Beschäftigung mit der "Außenansicht" nur unzulänglich erkannt werden. 

Dieser natürlichen Grenzen sollte sich jeder Sterbebegleiter bewusst sein. Wie einer wirklich gestorben ist, wissen wir sozusagen immer nur aus "zweiter Hand". Alle Aussagen darüber, wie jemand gestorben ist, haben eine grundsätzliche Grenze. Das ist eine Erklärung dafür, warum Sterbeforschung über die Qualität des Sterbens und die Ursachen für das subjektive Erleben des individuellen Sterbens nur begrenzte Aussagen treffen kann. Das gilt auch und gerade für die Auswirkungen von Glauben, Religion und Spiritualität auf das Sterben.

Was heißt "leicht" sterben?

Was heißt "leicht" sterben? Vordergründig könnte es bedeuten, dass körperliche Symptome wie Schmerzen, Übelkeit, Atemnot u. ä. beherrscht sind. Die moderne Palliativmedizin kann hier nicht alles, aber sehr vieles leisten. Es könnte auch bedeuten, dass Betreuer und Begleiter stets zur Seite stehen. Dass die Ängste und Depressionen vielleicht durch Medikamente beseitigt oder wenigstens gemindert worden sind. Dass die Würde des Sterbenden gewahrt und der Wunsch nach einem bestimmten Sterbeort erfüllt wurde.

Der gute Tod

Fragt man Menschen, welchen Tod sie sich wünschen, erhält man oft die Antwort: einen "guten Tod". Genau genommen ist ein "gutes Sterben" gemeint. Was ein guter Tod ist, darum ist viel gerungen und darüber ist viel geschrieben worden. 

Die Literatur zeichnet nicht selten ein geschöntes Bild. So lesen wir bei Marcel Proust in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit:

"Das Leben ging und nahm die Enttäuschungen des Daseins gleichfalls mit sich fort. Ein Lächeln schien auf den Lippen meiner Großmutter zu liegen. Auf dieses letzte Lager hatte der Tod sie wie ein Bildhauer des Mittelalters mit den Zügen eines jungen Mädchens hingestreckt, das sie einst gewesen war."
Das British Medical Journal hat im Januar 2000 eine ganze Ausgabe dem Thema A good death gewidmet. In dem Editorial wendet sich der Herausgeber Richard Smith an die Leser des BMJ und empfiehlt ihnen, falls sie es bisher nicht getan hätten, mit den Vorbereitungen auf das Sterben zu beginnen. Immerhin würde jeder BMJ-Leser noch in diesem Jahrhundert sterben.

Das Editorial nennt zwölf Prinzipien eines "guten Todes":

Prinzipien eines "guten Todes"
  • Zu wissen, wann der Tod kommt und zu verstehen, was zu erwarten ist 
  • Die Kontrolle über das Geschehen zu behalten 
  • Würde und Privatsphäre zugestanden zu bekommen 
  • Eine gute Behandlung der Schmerzen und anderer Symptome 
  • Die Wahl zu haben, wo man sterben möchte (zu Hause oder anderswo) 
  • Alle nötigen Informationen zu bekommen 
  • Jede spirituelle und emotionale Unterstützung zu bekommen 
  • Hospizbetreuung überall, nicht nur im Krankenhaus 
  • Bestimmen zu können, wer beim Ende dabei sein soll 
  • Vorausbestimmen zu können, welche Wünsche respektiert werden sollen 
  • Zeit zu haben für den Abschied
  • Gehen zu können, wenn die Zeit gekommen ist und keine sinnlose Lebensverlängerung zu erleiden

Das alles kann weitgehend geleistet werden durch das große therapeutisches Potenzial von Medizin und Pflege. Man könnte versucht sein zu sagen: alle diese Hilfen wurzeln allerdings in diesseitigen Ressourcen. Diese Prinzipien scheinen vor allem darauf ausgerichtet zu sein, die Autonomie und Würde des Sterbenden zu bewahren. Der Wunsch nach spiritueller Unterstützung wird nur als einer unter vielen genannt.

Aber ist das wirklich alles? Ist damit auch schon jene Leichtigkeit im Sterben erreicht, die über das hinausgeht, was Palliativmedizin, z. B. durch Zuspruch, Beistand und Medikation erzielen kann? Ist es jene Leichtigkeit, die über die eigene begrenze Wirklichkeit hinausreicht und schon die Brücke schlägt in eine andere Wirklichkeit, in der andere, hier nicht zugängliche Qualitäten des Seins, bestimmend sind? Und vor allem: wie ist dieser Brückenschlag in das Transzendentale vollziehbar?

Eine Antwort könnte lauten: In einem weiteren Sinn, jenseits von Glaube und Religion, ist es die spirituelle Sehnsucht, die Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit. Sie ist eine Grundverfasstheit des Menschen. Denn es gibt Situationen und Zustände, in denen wir erfahren, dass die Alltagswirklichkeit keine umfassende Antwort auf die Fragen gibt, die uns im Innersten und besonders im Sterben bewegen. Diese spirituelle Wirklichkeit ist transzendentaler Natur. Sie ist nicht weniger "wirklich" als die Alltagswirklichkeit. Alltägliche und spirituelle Wirklichkeit sind komplementär in einem konstituierenden Sinne. 

Vielleicht wird der Weg in diese Transzendenz vor allem dann eröffnet, wenn der Mensch endlich erlöst ist, wenn er versöhnt ist. 

Aber versöhnt womit?

Der bekannte buddhistische Lehrer Sogyal Rinpoche beschreibt in seinem Werk Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben eine junge Ärztin in einem großen Londoner Krankenhaus. Gleich an ihrem ersten Arbeitstag bedrängt ein sterbenskranker alter Mann sie mit der Frage: "Glauben Sie, dass Gott mir meine Sünden vergeben wird?" Sie kann nichts antworten, ist hilflos, wie gelähmt und unfähig dem Kranken bei seiner Sinnsuche zu helfen. Einen Geistlichen, an den sie die Frage weitergeben möchte, findet sie nicht. 

Später wendet sie sich an Sogyal Rinpoche und fragt ihn, wie er sich verhalten hätte. Er antwortet:

"Ich hätte mich zu ihm gesetzt, seine Hand genommen, ihn einfach sprechen lassen und ihm mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit und voll Mitgefühl zugehört. Vielleicht hätte ich ihm auf diese Weise helfen können, seine eigene innere Wahrheit zu entdecken." 
Möglicherweise hätte ich zu ihm gesagt: "Gott hat Ihnen längst vergeben, denn Gott ist die Vergebung selbst. Die eigentliche Frage ist: Können Sie sich selbst vergeben?
"Versöhnt" könnte also eine Form der friedlichen, allumfassenden Verständigung bedeuten. Versöhnt mit der Welt und der Umgebung, versöhnt mit sich selbst, versöhnt mit Gott. Es ist jenes Phänomen, das die Psychotherapeutin Monika Renz in ihrer Arbeit mit spirituell ausgerichteten Patienten als wesentlich beschrieben hat: eine versöhnte Beziehung zu Krankheit und Sterben

Die anfangs gestellte Frage nach dem "leichten Sterben" könnte also vielleicht treffender so formuliert werden: 

Sterben religiöse Menschen versöhnter?

Der Antwort sollte zunächst die Feststellung vorausgehen: auch der nicht religiöse, der nicht spirituell orientierte Mensch kann selbstverständlich leicht und versöhnt sterben.

Religiosität, Gläubigkeit und Spiritualität müssen differenziert betrachtet werden

Es ist bemerkenswert, dass es an die einhundert verschiedene Definitionen für Religion gibt, aber keine wissenschaftlich allgemein anerkannte. Dennoch es gibt Gemeinsamkeiten. Allen Religionen gemeinsam ist, ihre Funktion als Sinngebungssystem

Gemeinsam ist den Religionen auch "die Anstrengung, den Tod in das Leben zu integrieren, sowohl die geistige Auseinandersetzung zu fördern als auch praktische Umgangsformen (rituelle Sterbebegleitung, Totenrituale, ritualisierte Verarbeitungsprozesse des Verlustes) zu entwickeln." (Birgit und Andreas Heller). 

Eine etwas andere Perspektive betont die Definition des Religionswissenschaftlers Theo Sundermeier. Für ihn ist Religion die gemeinschaftliche Antwort des Menschen auf Transzendenzerfahrung, die sich in Ritus und Ethos Gestalt gibt. Hier liegt die Betonung auf dem Übersinnlichen und Jenseitigen. Aber nicht alle Religionen sind auf einen Gott bezogen.

Bei der Suche nach einer Antwort, ob Religiosität die Qualität des Sterbens beeinflussen kann, ist es entscheidend, zwischen unterschiedlichen Formen von Religiosität zu differenzieren. 

Die Qualität der Gottesbeziehung entscheidet nämlich über ihre Auswirkungen. So unterscheidet der amerikanische Religionspsychologe Kenneth Pargament zwischen den "bitteren und süßen" Früchten von Religiosität: Während eine verinnerlichte, überzeugungsgeleitete Religion, die auf einer vertrauensvollen Gottesbeziehung beruht, sich positiv auf das seelische Wohlbefinden auswirkten kann, beeinträchtigen eine rein anerzogene und unreflektierte Religion sowie eine schwach ausgeprägte Gottesbeziehung das Wohlbefinden.

Schon in den 60er Jahren hat der Religionswissenschaftler Gordon Allport zwischen intrinsischer und extrinsischer Religion unterschieden:
 
      Intrinsische Religion
  • Religionsausübung aus eigenem Antrieb und innerem Bedürfnis 
  • Verinnerlichte, überzeugungsgeleitete Religion
  • Vertrauensvolle Gottesbeziehung 
Extrinsische Religion
  • Anerzogene, von außen auferlegte oder sogar erzwungene religiöse Verhaltensmuster
  • Von Angst geprägt
  • An Nützlichkeit orientiert
  • Negatives Gottesbild ("strafender Gott")
Nach Allport ist nur eine intrinsische Religiosität geeignet hilfreich zu wirken. 

Obwohl diesem Konzept eine gewisse strukturelle Einfachheit vorgeworfen wurde, ist seine Kernaussage immer wieder bestätigt worden. Dazu gibt es inzwischen weltweit über 200 Studien. Bernhard Grom und Jürgen Zwingmann konnten zeigen, dass sich hinsichtlich Lebenszufriedenheit, psychischem Wohlbefinden und Religiosität am ehesten Beziehungen finden lassen, wenn eine verinnerlichte, nicht aufgesetzte religiöse Bindung vorliegt. 

Inwieweit sich diese Ergebnisse auf das seelische Befinden in der letzten Lebensphase auswirken, kann aber nur mit Vorsicht eingeschätzt werden. 

Die Mechanismen, auf denen diese Wirkungen beruhen, dürften auf einem vielfältigen Zusammenspiel unterschiedlichster Faktoren beruhen. Die wichtigsten sind:

  • Soziale Unterstützung durch die Glaubensgemeinschaft
  • Sinngebung (Lebenssinn)
  • Stressreduktion (Gebet, Meditation)
  • Verbessertes Coping (Bewältigungsstrategien)
  • Transzendenz (Gefühl mit einer höheren Macht verbunden zu sein)
  • Stärkung des Immunsystems
Eine differenzierte Betrachtung zeigt, dass die globale Bewertung einer Religion als ein stabiles System, das überwiegend gut oder überwiegend schlecht ist, nicht taugt. 

Der Versuch, möglichst viele Aspekte von Religionen, die sich in der Literatur finden lassen, einzubeziehen erlaubt folgende allgemeine Schlussfolgerungen (K. Pargament):

  • Bestimmte Formen von Religion sind hilfreicher als andere.
  • Eine verinnerlichte, aus eigenem Antrieb gelebte Religion mit einer festen Gottesbeziehung ist eine günstige Basis für seelisches Wohlbefinden. 
  • Religion ist vor allem für Menschen hilfreich, deren Glaube möglichst vollständig in ihr Leben eingebunden ist.
  • Glaube und Religionsausübung scheinen besonders hilfreich in Situationen zu sein, in denen Menschen sich am Rande ihrer Kräfte befinden, also in Grenzsituationen.
Vereinfachende oder stereotype Schlussfolgerungen über Religionen sind also weder möglich noch hilfreich.

Was ist Spiritualität?

Der Spiritualitätsbegriff wird nicht selten unscharf und zu allgemein definiert. Nicht jede außergewöhnliche Erfahrung ist spiritueller Natur, wie zum Beispiel ekstatische, visionäre oder auditive Ereignisse, parapsychologische oder okkulte Phänomene. Soll der Spiritualitätsbegriff nicht als "Container" für unterschiedlichste religiös, esoterisch oder sonst wie gefärbte Empfindungen oder Erlebnisse missbraucht werden, ist eine klare Begriffsbestimmung nötig. 

Harald Walach, einer der profilierten deutschen Forscher auf dem Gebiet der Spiritualität hat deutlich gemacht, dass Spiritualität im Wesentlichen eine bestimmte Erfahrung bedeutet, nämlich, die erfahrungsmäßige Erkenntnis einer transzendenten, das individuelle Ich übersteigenden Wirklichkeit.

Die Musik- und Psychotherapeutin Monika Renz versteht unter Spiritualität Erfahrung im Zwischenbereich von Mensch und einem Transzendenten, meistens von Mensch und Gott. Spiritualität ist Erfahrung mit einem ewig Anderen. In einem weiteren Sinne, sagt Renz, ist Spiritualität Berührung mit einer andersartigen Realität, zu der der Mensch Ja sagen kann oder Nein.

Im spirituellen Erlebnis wird jener Ort erreicht, so Monika Renz, "wo das nackte Ich sich von einem Unfassbaren berührt bis überwältigt erfährt". Dieses Ergriffensein kann aber auch als erschreckend und bedrohlich imponieren. Renz beschreibt einen Patienten, der während eines spirituellen Erlebnisses ausruft: "Da werde ich zerstört!", aber kurz danach sichtlich ergriffen sagt: "Ach so faszinierend gefährlich!"

Schließlich spielen kulturell-religiöse Unterschiede in der Beschreibung spiritueller Erfahrungen eine deutliche Rolle. Während zum Beispiel ein Buddhist von einer Erfahrung der Leerheit spricht, wird ein Christ seine Erfahrung vielleicht als Vereinigung mit Christus interpretieren, obwohl der phänomenologische Kerngehalt der jeweiligen spirituellen Erfahrung sich ähneln dürfte (H. Walach).

Eine grundsätzliche Schwierigkeit in der Vermittlung spiritueller Erfahrungen besteht darin, dass sie nur begrenzt sprachlich ausgedrückt werden können. So hatte Thomas von Aquin am 6. Dezember 1272, ein knappes halbes Jahr vor seinem Tod, eine profunde spirituelle Erfahrung. Danach hat er nichts mehr geschrieben. Nicht weil er zu krank war, sondern wie sein Biograf Wilhelm von Tocco berichtet, weil er der Meinung war, alles, was er geschrieben habe sei wie Stroh im Vergleich zu dem, was er geschaut hatte.

Es ist auch möglich, worauf Walach hingewiesen hat, dass es zu negativen spirituellen Erfahrungen kommt, die mit "Dekonstruktion und Ichauflösung" beschreibbar sind ("mein Weltbild zerbröckelt"), ja sogar an psychopathologisch-psychiatrische Erfahrungen grenzen. 

Doppelte Gesichter?

Es scheint also so zu sein, dass das Religiosität und Spiritualität eine vielschichtige, sogar gegensätzliche Wirkung auf den Menschen ausüben können. Hier liegt vielleicht die Erklärung des Phänomens negativer Effekte von Spiritualität, auch im Sterben.

Dies spiegelt sich auch in der Literatur wider. So haben vor kurzem englische Soziologen (Thuné-Boyle IC, Stygall JA, Keshtgar MR, Newman SP) insgesamt siebzehn Studien der Weltliteratur analysiert, die sich mit den hilfreichen oder schädlichen Auswirkungen von Religiosität bei Krebspatienten beschäftigen. Die Ergebnisse waren zwiespältig. Sieben Arbeiten beschrieben günstige Auswirkungen religiöser Bewältigungsstrategien, sieben hatten kein signifikantes Ergebnis und bei drei weiteren ergaben sich nachteilige Effekte. Freilich betonen die Autoren, dass die großen methodischen Unterschiede und der unterschiedliche Aufbau der Studien nur sehr bedingt allgemeingültige Rückschlüsse erlauben. 

Kehren wir auf den anfangs erwähnten späteren Arzt Stephan Bauer zurück. Das Ergebnis seiner Studie Spiritualität und Furcht vor Tod und Sterben an 91 Patienten einer hämato-onkologischen Station zeigt, dass es keine pauschalen Antworten gab:

  • Sowohl "gläubige" als auch "nicht gläubige" onkologische Patienten, die sich mit der Todesthematik erst im Sterben auseinandersetzen, zeigten große Furcht vor dem Totsein.
  • Geringere Furcht vor dem Totsein und vor der Endlichkeit des Lebens fand sich hauptsächlich bei den Patienten, die ihren Glauben im Alltagsleben praktizierten.
  • "Lediglich für diese "aktiv Gläubigen" stellte ihr Glaube einen sehr guten Copingmechanismus (Bewältigungsstrategie) dar, um ihre Furcht vor dem Totsein zu reduzieren."
Die spirituelle Anamnese 

Ganz pragmatisch stellt sich die Frage, wie die Spiritualität von Patienten erfasst werden kann. 

Von Christina Puchalski stammt ein differenzierteres, gut strukturiertes Fragenkonzept zur Erhebung einer spirituellen Vorgeschichte. Folgende Fragen sind danach gut geeignet, die spirituellen Ressourcen von Patienten zu erfassen: 

Spiritualität

  • In wen oder in was setzen Sie Ihre Hoffnung
  • Woraus schöpfen Sie Kraft
  • Gibt es etwas, das Ihrem Leben einen Sinn verleiht? 
  • Welche Glaubensüberzeugungen sind für Sie wichtig? 
  • Betrachten Sie sich als spirituellen oder religiösen Menschen?
Diese Fragen sollen natürlich nur den Rahmen für das spirituelle Gespräch abstecken und nicht als "Fragenkorsett" gehandhabt werden. Sinn und Wirkung können Sie nur entfalten, wenn es der Therapeut als entscheidendes komplementäres Verhalten versteht, aktiv zuzuhören.

Spirituelle Erfahrungen von Kranken und Sterbenden

Kurz vor ihrem Tod machen Sterbende oft noch spirituelle Erfahrungen, die ihnen eine Ahnung von Fülle, Frieden mit sich selbst und eine Sensibilität von höchster Intensität  ermöglichen. Dies beobachtete die Musik- und Psychotherapeutin Monika Renz, Leiterin der Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen, bei ihrer Arbeit mit den Patienten. "Sterben ist mehr als ein körperliches Ableben. Gerade im Sterben finden Menschen zu letzter Reifung und Wandlung", so Renz. 

In ihrer ersten Studie mit 80 Patienten berichtete mehr als die Hälfte von ihnen verbal oder nonverbal über ein wunderbares spirituelles Geschehen oder eine Vision. Beobachtet wurden Lichterlebnisse, das Gefühl, zu fliegen, zu schweben, insgesamt "leicht" zu werden. Es gab auch Aussagen wie "Gott (Christus, ein Engel) holt mich ab", "Gott siegt". Diese Begebenheiten wurden nonverbal durch ein Strahlen, eine plötzliche Ruhe bei vorheriger Ruhelosigkeit und einem friedlichen Gesichtsausdruck begleitet. Diese Glückszustände dauerten oft Tage oder sogar Wochen an. 

Von diesen Ergebnissen inspiriert, führte sie eine zweite Studie – diesmal bei Schwerstkranken durch. Sie wollte sich der Frage nähern, ob ähnliche spirituelle Erlebnisse auch in Zuständen größter Not auftreten und ob es trotz aller Individualität der Erlebnisse Übereinstimmungen und wiederkehrende Inhalte gibt. Sie begleitete 251 Patienten innerhalb eines Jahres. Mehr als die Hälfte (135) machte spirituelle Erfahrungen. Für alle aus dieser Gruppe veränderte dies die Einschätzung der Gegenwart, beziehungsweise wurde als positive körperliche Veränderung empfunden. Berichtet wurde

  • über Schmerzlinderung, 
  • verringertes Unwohlsein, 
  • weniger Atemprobleme, 
  • Angstreduktion und 
  • über eine versöhntere Beziehung zur Krankheit
Spirituelle Erlebnisse wurden von Christen und Nichtchristen, von Gläubigen und Nichtgläubigen gleichermaßen gemacht.

Der Arzt Arnd Büssing von der Universität Witten/Herdecke kommt auf Grund seiner umfangreichen Erfahrungen mit den Auswirkungen von Spiritualität und Religiosität bei Krebskranken zu der Erkenntnis, Religiosität habe zwar keinen Einfluss auf die physische Gesundheit. "Allerdings gehen religiöse Menschen mit ihrer Krankheit anders um." So erzählte ihm eine Patientin mit nicht mehr heilbarem Lungenkrebs, dass sie sich einer Gebets- und Meditationsgruppe angeschlossen habe. Obwohl der Krebs trotz aller Therapiebemühungen weiter fortschritt, "fühlte sie sich dennoch erlöst."

Die Psychologin Colleen McClain-Jacobsen fand bei ihren Untersuchungen an 271 Krebspatienten im Endstadium, dass vor allem Spiritualität einen starken positiven Effekt auf seelische Zustände hatte, während dies für den Glauben an ein Leben nach dem Tode nicht sicher galt.

Die ursprünglich gestellte Frage "Sterben gläubige Menschen leichter?" könnte vielleicht in behutsamer Weise so beantwortet werden: 

  • Menschen, deren Gläubigkeit auf einer verinnerlichten, überzeugungsgeleiteten Religion und auf einer vertrauensvollen Gottesbeziehung beruht 
  • und die offen sind für spirituelle Erfahrungen, können auf ein leichteres, versöhnteres Sterben hoffen. 
Religiosität und Spiritualität im Sterben – Ausblick

Leichter, versöhnter zu sterben, das ist wahrscheinlich der Wunsch jedes Menschen. Religionen als Sinnfindungssysteme und Vorbereitungsangebote auf Sterben und Tod erscheinen als die natürlichen Wege zu diesem Ziel, ebenso Spiritualität, auch wenn sie an keine Religion gebunden ist.

Aber diese Wege sind nicht eindeutig vorgezeichnet und nicht auf Anhieb zu finden. 

Vereinfachende oder stereotype Schlussfolgerungen über Religionen und Spiritualität sind also nicht hilfreich.

Für Spiritualität gilt:

  • sie ist eine Erfahrung, die sich ereignet oder nicht 
  • Spiritualität lässt sich nicht an Absichten binden
  • Spiritualität lässt sich nicht therapeutisch instrumentalisieren 
  • Spiritualität kann nicht verordnet werden wie ein Medikament
FolieAuf Religiosität und Spiritualität lässt sich also nicht setzen wie auf eine Karte mit besonders guten Erfolgsaussichten. Ob und wie sich Religiosität auf unser Sterben auswirkt liegt nur zum Teil in unserer Hand und hat eher zu tun mit Zuversicht, Hoffnung, Vertrauen – und wohl auch mit Gnade. 

Leichtes, versöhntes Sterben kann sich auch jenseits von Glaube und Spiritualität vollziehen. Dies wird umso leichter geschehen, wenn der Sterbende begleitet wird von Menschen, die einfach da sind. Die mit "leeren Händen" kommen. Diese Hände haben sich von Vorurteilen und Deutungen gelöst, sie bringen keine Ratschläge mit, sie halten keine Instrumente mehr. Instrumentenlosigkeit ist die Voraussetzung für Begleiten im Sterben.

Christine Longaker, die bekannte Gründerin des Spiritual Care Program, hat es so ausgedrückt:

"Der oberste Grundsatz, um jemanden friedvoll sterben zu lassen – insbesondere, wenn ihm jeglicher Glaube und jegliche spirituelle Praxis fehlt – ist, ihn zu unterstützen, mit einem befriedeten Geist zu sterben, ohne Zorn, ohne Festhalten, aber in dem Gefühl, geliebt zu werden." (Christine Longaker 1995, S. 248)

Literaturhinweise

Geisler, Linus S.: Spiritualität in der Medizin. Arznei – Placebo – Droge? Universitas, 61. Jahrgang, Nr. 716, Februar 2006, S. 132-143 
URL: http://www.linus-geisler.de/art2006/200602universitas-spiritualitaet_medizin.html Interner Link

Renz, M.: Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Freiburg – Basel – Wien. 2006. 

Heller, B.: Aller Einkehr ist der Tod. Interreligiöse Zugänge zu Sterben, Tod und Trauer. Lambertusverlag. Freiburg. 2003. 

Büssing, A.; Ostermann, Th.; Glöckler, M.; Matthiessen, P.F. (Hrsg): Spiritualität, Krankheit und Heilung – Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin. Frankfurt/Main. 2006. 

Pargament, K.: The Bitter and the Sweet: An Evaluation of the Costs and Benefits of Religiousness. Psychological Inquiry 13 (3) 168-181. 2002. 

Walach, H.: Spiritualität als Ressource – Ein neues Forschungsfeld und seine Chancen und Probleme. Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2005;37:4-12 
 


Linus S. Geisler: Sterben gläubige Menschen leichter? –- Spiritualität im Sterbeprozess 
Vortrag vom 28. Februar 2009 anlässlich des 16. Solinger Hospiztages
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0902phos_spiritualitaet-sterbeprozess.html

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