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Linus S. Geisler: Ist die Hirntod-Definition aus biologisch-medizinischer Sicht plausibel?
Vortrag am 19. Januar 2008 in Bonn anlässlich der Tagung der Evangelischen Akademie im Rheinland zum Thema: Die Seele und der Tod. Was sagt die Hirnforschung? II. Forum Neuroethik.
Ist die Hirntod-Definition aus biologisch-medizinischer Sicht plausibel?

Linus S. Geisler

"Sind Hirntote wirklich tot? Diese Frage stellt sich unabhängig von der Transplantationsmedizin, denn es scheint doch so zu sein, dass man, sobald der Mensch tot ist, viel weniger für ihn tun muss, aber sehr viel mehr mit ihm anstellen darf als zuvor." [1]

 

Diagnose

Der "Hirntod" als Kriterium weist erhebliche Unschärfen und Ungereimtheiten auf. Handlungsoptionen, die auf diesem Begriff gründen, lassen sich daher schwerlich verallgemeinern.

Die Richtlinien der Harvardkommission zur Hirntoddiagnostik von 1968, sozusagen der Ur-Kodex der Transplantationsmedizin, setzten - im Gegensatz zu den heute bei uns gültigen Kriterien - völlige Reflexlosigkeit für den Nachweis des Hirntodes voraus [2]. Nach diesen Kriterien wäre die Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in den meisten Fällen gar nicht haltbar.

1978 waren bereits mehr als 30 verschiedene Kriteriengruppen für die Feststellung des Hirntodes weltweit in Gebrauch [3]. Die jeweils neu bekannt gegebenen Kriterien hatten die Tendenz, weniger strikt zu sein als die früheren.

Einige heute geltende Kriterien erfordern ein Elektroenzephalogramm, andere nicht. Beispielsweise verlangen die Kriterien von Minnesota kein EEG, wohingegen dies bei den Kriterien von Harvard und in Japan der Fall ist. Auch in England wird zur Hirntoddiagnose kein EEG gefordert, in Norwegen jedoch eine zerebrale Angiografie verlangt.

In Frankreich wird für die Hirntoddiagnose ein einzelner klinischer Test, nämlich das EEG oder die cerebrale Angiografie (Darstellung der blutversorgenden Gefäße des Gehirns) gefordert. Aus Lyon wurde 2007 der Fall eines 58jährigen Mannes publiziert, dessen Hirntod durch zwei EEGs entsprechend den französischen Richtlinien bestätigt wurde. Eine schließlich doch noch durchgeführte cerebrale Angiografie ergab einen Blutfluss in einem der das Gehirn versorgenden Blutgefäße. Ein CT führte zum endgültigen Ausschluss der Hirntod-Diagnose [4].

In England reicht der endgültige Ausfall des Hirnstamms zur Todesdiagnose. Dies bedeutet, dass das Vorliegen vereinzelter Teilfunktionen der Großhirnrinde und damit Reste von Wahrnehmung nicht ausgeschlossen werden können. Dies war auch der Grund, warum zwei englische Anästhesisten 2000 in der Zeitschrift Anaesthesia vorschlugen, Organspendern Organe nur in Vollnarkose zu entnehmen

2002 wurden die Ergebnisse einer weltweiten Umfrage zur Diagnose des Hirntodes in der Zeitschrift "Neurology" veröffentlicht [5]. Es zeigte sich, dass die Verwendung des Begriffs "Hirntod" zwar weltweit akzeptiert wird, es aber keine weltweite Übereinstimmung bei den diagnostischen Kriterien gibt. Eingeräumt wurde, es gäbe "weiterhin ungelöste Fragen weltweit".

Eine große, im Oktober 2007 veröffentlichte Studie, die 50 der Top Neurologischen Kliniken in den USA umfasste und die angewandten Hirntod-Richtlinien anhand von fünf Kriterien überprüfte, ergab erhebliche Diskrepanzen in allen Kategorien zwischen den befragten Institutionen [6]. Ähnlich ist die Situation in Großbritannien [7].

Theoretisch könnte also ein Patient an einem bestimmten Ort kraft einer dort gültigen Kriteriengruppe für tot befunden werden, nicht aber an einem anderen Ort, wo eine andere Kriteriengruppe gilt.

Paradoxien besonderer Art ergeben sich, wenn für die Diagnose des Hirntodes weltanschauliche Überzeugungen ins Spiel kommen. Die Hirntod-Gesetzgebung in New Jersey, die unter dem Druck orthodoxer Juden, die den Hirntod nicht als Tod akzeptieren, zustande gekommen ist, erlaubt zum Beispiel eine religiöse Ausnahmeregelung. Dies bedeutet, dass Hirntote in New Jersey als tot gelten, falls nicht ihre Angehörigen als Teil einer einflussreichen religiösen Lobby widersprechen [8]. Einige Meilen weiter in New York wären sie Tote.

Schon seit langem wurde die Fragwürdigkeit des Hirntod-Konzeptes deutlich und es wurde nach anderen Kriterien gesucht, um mit einem befriedigenderen Konzept Möglichkeiten für die Organentnahme bei Menschen im irreversiblen Hirnversagen zu legitimieren.

Bereits vor zehn Jahren stellte Truog, Medizinethiker und Anästhesist an der Harvard Medical School in seinem berühmt gewordenen Artikel die Frage: Is it time to abandon brain death? [9] Ist es Zeit, den Hirntod aufzugeben?

Von der amerikanischen Ethikerin Linda Emanuel stammt der Vorschlag, zwischen permanentem Bewusstseinsverlust einerseits und dem endgültigem Sistieren der Atmung gesetzlich eine "Sterbezone" ("dying zone") zu definieren [10]. Innerhalb dieser Zone soll es jedem Menschen gestattet sein, eigene Definitionen des Todes zu entwickeln, die einen Behandlungsabbruch und eine Organentnahme erlauben. Oberhalb dieser Zone soll Euthanasie nicht erlaubt sein, und niemand soll begraben oder eingeäschert werden dürfen, bevor nicht seine Atmung unwiderruflich zum Stillstand gekommen ist.

Medizinisch-biologische Fakten

Eine m. E. brauchbare biologische Definition des Todes (R. Taylor) lautet: "Tod ist jenes Ereignis, das den Prozess des Sterbens vom Prozess der Desintegration abgrenzt. Das zuverlässigste Kriterium des menschlichen Todes ist der endgültige Stillstand der Blutzirkulation [11]." Rein deskriptiv lässt sich das Ereignis des Todes demnach als der irreversible Ausfall der von einem Organismus als Ganzem erbrachten Integrationsleistungen beschreiben [12].

Eine Vielzahl biologischer Phänomene, die an Hirntoten zu beobachten sind, gibt es nur bei Lebenden, und keines davon ist bei Toten feststellbar. Es ist offensichtlich, dass beim hirntoten Menschen von einem "Ende als Organismus in seiner funktionellen Einheit" (Bundesärztekammer [13]) im Hinblick auf die Vielzahl erhaltener, zum Teil integrativer Funktionen seines Körpers (Kreislauf, Immunsystem, hormonelle Leistungen) nicht die Rede sein kann. Das Kennzeichen des Todes, der irreversible Ausfall der von einem Organismus als Ganzem erbrachten Integrationsleistung liegt offensichtlich nicht vor.

In manchen Fällen ist die Feststellung des Hirntodes nicht einmal mit dem Ausfall des ganzen Gehirns gleichzusetzen. Mit den allgemein anerkannten Untersuchungsmethoden kann zwar beim Hirntod die Unumkehrbarkeit (Irreversibilität) der Schädigung des Gehirns festgestellt werden, nicht aber der "Ausfall der gesamten Hirnfunktion". Denn dies würde voraussetzen, dass die gesamten Hirnfunktionen a) bekannt und b) messbar wären. Beides ist nicht der Fall [14, 15, 16, 17] und es wäre illusorisch anzunehmen, dass es je der Fall sein wird.

Herz-Kreislauffunktion, Nierenfunktion, Verdauung, Regulierung des Wasser- und Mineralhaushaltes, immunologische Reaktionen und Atmung auf Zellebene sind bei Hirntoten erhalten [18].

Dass einige dieser Organfunktionen intensivmedizinisch unterstützt werden, spielt hinsichtlich der Beurteilung eines Menschen als lebend oder tot keine Rolle. Der Leib lebt beim Hirntoten noch zu 97 Prozent und nicht immer kann es als sicher gelten, dass sein Gehirn zur Gänze nicht mehr lebt.

Ersatz oder Unterstützung von Blutdruck, Atmung, Entgiftung oder Ausscheidung, sind klinischer Alltag, gleichsam die Daseinsberechtigung jeder Intensivstation. Unzählige Menschen sind nur dauerhaft lebensfähig, weil sie implantierte Schrittmachersysteme tragen oder regelmäßig dialysiert werden, niemand käme auf den Gedanken, sie deshalb als Tote zu betrachten.

Hirntote reagieren auf äußerliche Einwirkungen, zum Beispiel bei der operativen Organentnahme. Deshalb muss die Organexplantation unter Mitwirkung eines Anästhesisten erfolgen und macht die Verabreichung von muskelentspannenden Medikamenten erforderlich, manchmal werden auch Narkotika gegeben. Massive Blutdruckanstiege sind bei der Entnahme beschrieben worden [19, 20].

Bei "Hirntoten" wurden immer wieder klinisch relevante hormonelle Funktionen des Zwischenhirns [21, 22] und elektrische Aktivitäten des Gehirns nachgewiesen [23, 24].

Japanische Autoren haben zum Beispiel autoptisch bei 84 hirntoten Patienten in mehr als der Hälfte der Fälle Vitalitätszeichen in Zellen des Hypothalamus (Zwischenhirn) und im Bereich des Nucleus supraopticus (Kerngebiet im Zwischenhirn) noch drei bis vier Tage nach der Hirntoddiagnose festgestellt [25, 26]. Bei vier hirntoten Patienten konnte in jedem Fall das im Zwischenhirn gebildete Hormon GRF (= Growth hormone releasing factor, stimuliert die Freisetzung des Wachstumshormons) im Blut in normaler Höhe gemessen werden, in einem Fall noch viele Tage nach der Hirntoddiagnose.

Bei klinisch als hirntot diagnostizierten Kindern wurde vereinzelt noch eine Durchblutung des Gehirns und ein aktiver Glukosestoffwechsel des Gehirns festgestellt [27]. Ein so genannter Diabetes insipidus, also ein rapider Wasserverlust durch Mangel des im Zwischenhirn produzierten Hormons Vasopressin (ADH = antidiuretisches Hormon) wurde bei Hirntoten in vier Studien nur mit einer Häufigkeit zwischen 22-88% gefunden [28], obwohl theoretisch diese Störung in jedem Fall hätte auftreten müssen. Viele Hirntote zeigten aber über Stunden und Tage eine normale Regulation des Wasserhaushaltes, also eine der wichtigen integrativen Leistungen des Gehirns.

Hirntote Schwangere sind in der Lage, gesunden Kindern Leben zu schenken [29]. Sie lediglich als eine Art "Retorte" zu bezeichnen spricht für einen pervertierten Lebensbegriff. Die längste Schwangerschaft einer Hirntoten betrug 107 Tage. Sie wurde durch Kaiserschnitt von einem gesunden Jungen entbunden, der sich normal entwickelte [30]. Hirntote Schwangere wurden auf den Status eines "Brutkastens" reduziert, der lediglich den Fetus mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt [31].

Die Bundesärztekammer weicht dem Problem nur vordergründig aus, indem sie lakonisch feststellt: "Eine Schwangerschaft wird endokrinologisch von der Plazenta und nicht vom Gehirn der Mutter aufrechterhalten". Nur die entscheidende Tatsache bleibt unausgesprochen: Die Plazenta befindet sich nicht in einem Vakuum oder einem künstlichen Uterus, sondern in einer lebenden Frau und nur deshalb funktioniert sie.

Wer also auf der Festlegung beharrt, der hirntote Patient sei tot, muss einräumen, dass sein Gehirn aber unter Umständen noch nicht zur Gänze tot ist.

Das Gehirn ist nicht das Zentralorgan des Menschen

Auch und gerade eine ausschließlich naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des Hirntodes muss Zweifel an der These vom Hirntod als Tod des Menschen wecken.

Den Hirntod als Tod des Menschen zu definieren, basiert auf der Grundannahme, das Gehirn sei das zentrale Steuerungsorgan des Körpers. Zweifel sind jedoch angebracht. Zunächst ist der Hirntod nach heutigem Forschungsstand das irreversible Versagen eines Organs, nicht mehr und nicht weniger.

Die Vorstellung vom Gehirn als dem obersten Steuerungsorgan, dem weitere Subsysteme untergeordnet sind, gilt aus Sicht namhafter Hirnforscher wie Gerhard Roth als widerlegt [32].

Aus biologisch-systemtheoretischer Sicht entsteht Leben durch die Fähigkeit zur Selbstherstellung (Autopoiese) und Selbsterhaltung. Sie sind das Resultat der Interaktion physikalisch-chemischer Komponenten in einem autopoietischen Netzwerk ohne ein lokalisierbares zentrales Steuerungsorgan. Das Leben hört auf, wenn dieses Netzwerk der gegenseitigen Herstellung und Erhaltung zusammenbricht. Dies ist der Fall, wenn konstitutive Organe wie das Gehirn, aber auch das Herz, die Nieren, Leber oder das Immunsystem dauerhaft ersatzlos ausfallen.

Die Selbststeuerung als wesentliches Merkmal des Lebens erfolgt unter Nutzung externer Ressourcen. Diese Ressourcen sind beim irreversiblen Hirnversagen die Ressourcen der Intensivmedizin. Für den in einer hirntoten Mutter heranwachsenden Fetus ist seine Mutter die sein Leben ermöglichende Ressource [33].

Alan Shewmon, Neurologe und Hirntodspezialist an der UCLA, hat bereits 1998 in einer sorgfältigen Metaanalyse 56 Patienten mit "chronischem Hirntod" beschrieben. Chronischer Hirntod bedeutet, dass die Hirntodkriterien noch mindestens eine Woche nach der Hirntoddiagnose nachweisbar waren. Manche dieser Patienten lebten noch Wochen oder viele Monate, einige sogar Jahre ohne Kreislaufunterstützung, lediglich mit künstlicher Beatmung [34]. Er beobachtete, dass die Tendenz zum Kreislaufzusammenbruch im Zustand des Hirntodes manchmal nur anfänglich und nur vorübergehend besteht. Dies spricht gegen die Auffassung, dass das Gehirn das Zentralorgan zur Aufrechterhaltung systemischer Körperfunktionen ist. Shewmons logische Folgerung: Wenn der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird, müsste dies auf einer plausibleren Grundlage geschehen als der Annahme, das Gehirn sei die übergeordnete integrative somatische Einheit.

Sterben, Hirntod, Tod

Bis nach dem Zweiten Weltkrieg hatte noch niemand einen "Hirntoten" gesehen. Erst durch die Intensivmedizin wurde der Hirntod, der bis dahin in Minuten durchlaufen wurde, bis der Tod endgültig eingetreten war, beobachtbar.

Heute erscheint der Hirntod als ein durch Intensivmedizin zeitlupenhaft auf Stunden und Tage, gelegentlich sogar auf Monate ("chronic brain death"), zerdehnter Ablauf im Sterbeprozess. Die Technik hat diese Grauzone nicht erschaffen, sondern sie nur so weit überdehnt, dass sie unserer Wahrnehmung besser zugänglich wurde.

Dabei zeigte sich, dass Leben und Tod nicht einander ausschließende, sondern sich gewissermaßen überlappende Zustände darstellen. Der Tod war schon immer ein Prozess und Leben und Tod keine binären Zustände.

Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Es besteht die konkrete Gefahr, dass der Prozess des Sterbens bereits mit dessen Endpunkt gleichgesetzt oder als solcher umgedeutet wird. Ferner, dass die Ausweitung der Grauzone dazu führt, Zustände, die noch nicht dem Prozess des Sterbens zuzurechnen sind, bereits als Sterbeprozess zu definieren oder sogar schon als den Tod des Menschen auszugeben.

Die Gleichsetzung von Hirntod mit dem Tod des Menschen ist letztlich nichts anderes als die Umdeutung einer Prognose zur Diagnose. Die Feststellung "Hirntod" bedeutet, dass der Mensch sich auf dem unumkehrbaren Weg zu seinen Tod befindet, ist also eine prognostische Feststellung, aber nicht die Diagnose seines Todes.

Das unumkehrbare Versagen des Gehirns ist die zum Tode führende Erkrankung, aber nicht bereits der Tod selbst. Das gilt für den Spender wie den Nicht-Spender. Die unmittelbare Todesursache ist im Falle des Nichtspenders das Abschalten der Apparate auf der Intensivstation, im Falle des Spenders die Entnahme seiner Organe [35].

Plausibel für wen?

Wie viel Plausibilität kann all diesen prekären Diskrepanzen, Ungereimtheiten und auch Absurditäten zu gesprochen werden?

Was wollen wir unter Plausibilität verstehen? Das, was dem lateinischen Wortursprung (plaudere = klatschen, Beifallspenden) entspricht? Oder das, was darunter noch im Grimmschen Wörterbuch als "wohl gefällig" verstanden wird? Heißt plausibel "einleuchtend" - aber für wen?

Auf wessen "Beifall" kann die These vom Hirntod als Tod des Menschen zählen? Für rund 40% der Deutschen Bevölkerung ist der Hirntod nicht der Tod des Menschen [36]. Und der Beifall der Mediziner, ist er einhellig? Wer Gespräche mit nachgeordneten Ärzten geführt hat, die in der Transplantationsmedizin tätig waren oder sein mussten, weiß, dass unter ihnen keineswegs ein ungeteilter Beifall festzustellen ist.

Wie plausibel ist das Hirntodkonzept für Pflegende? Die Spenderkonditionierung, wie die Pflege genannt wird, sobald der Hirntod diagnostiziert wurde, ist eine Pflege, welche rein auf den Organerhalt ausgerichtet ist, die aber genauso aufwendig, oft noch aufwendiger ist als die Pflege Bewusstloser. Ein und derselbe Mensch wird unter völlig verschiedenen Perspektiven gepflegt. Hier Plausibilität einzufordern, heißt Menschen maßlos zu überfordern.

Die Perspektive der Familie, insbesondere der Eltern angesichts ihrer sog. hirntoten Kinder oder Jugendlichen ist geprägt von Fassungslosigkeit [37]. Ihnen wird versucht einzureden, dass es sich bei ihrem Angehörigen quasi nur um einen Scheinlebenden handelt. Ihre Überzeugung, dass er lebt und nur sein Gehirn endgültig versagt hat, trägt ihnen den Vorwurf ein, in eine individuelle "Plausibilitätsfalle" geraten zu sein.

Thanatokraten?

Ein System, wie die Transplantationsmedizin, in der die Akteure und auch Profiteure die Regeln, nach denen das System sich vollzieht, selbst entwerfen, kann keinen Anspruch auf Plausibilität im Sinne der Allgemeingültigkeit beanspruchen. Allenfalls Plausibilität im Sinne von Wohlgefälligkeit und einseitigem Beifall.

Jean Ziegler, Schweizer Soziologe, schreibt in seinem Buch über "Die Lebenden und der Tod", nach der Erklärung von Harvard 1968 gelte: "Eine Klasse der Thanatokraten entsteht, die den Tod nach den technischen Normen behandelt, die sie selbst definiert und kontrolliert" [38].

Sehr viel ehrlicher aber auch dekuvrierend ist die Feststellung eines namhaften Protagonisten des Systems (Gundolf Gubernatis), wenn er in seinem Artikel "Tod als Verabredung" fordert: "Wir brauchen eine vernünftige, gesellschaftliche und verbindliche Vereinbarung über den Tod - im wesentlichen, um handlungsfähig zu bleiben, darüber hinaus, um die Frage nach der weiteren Existenz der Transplantationsmedizin zu entscheiden." [39]

Anthropologische Betrachtungen

Die Ausblendung kultureller und religiöser Deutungsmuster des Todes zugunsten einer rein naturwissenschaftlich begründeten Definition muss zwangsläufig zu unlösbaren Konflikten im Todesdiskurs führen. Es ist das Verdienst von Thomas Schlich deutlich gemacht zu haben, dass es nicht sinnvoll ist, in der Auseinandersetzung um den Tod des Menschen eine scheinbar eindeutige Zäsur zwischen Natur und Kultur ziehen zu wollen [40].

Das endgültige Hirnversagen als Tod des Menschen ist eine medizinische, z. T. auch gesellschaftlich akzeptierte Vereinbarung mit utilitaristischer Zielsetzung. Der Hirntod ist aus medizinisch-biologischer Sicht ein unumkehrbarer Sterbeprozess, unabwendbar ausgerichtet auf den Tod des Organismus. Er ist aber nicht der Tod des Menschen und kann daher als Todeskriterium keine Plausibilität beanspruchen.

Literatur:

[1] Geisler LS: Behütetes Sterben und Organspende - vereinbar oder nicht? Vortrag. 30. Deutscher Evangelischer Kirchentag. Hannover, 26. Mai 2005. URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0505dekt_hirntod.html

[2] Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death (1968) A definition of irreversible coma. JAMA 205:337-342

[3] Black PM (1978) Brain death (Teil 1 von 2 Teilen). N Engl J Med 299: 338-344

[4] Rimmelé Th et al: L’électroencéphalogramme n’est pas un examen légitime pour la confirmation du diagnostic de mort cérébrale. Un examen légitime pour la confirmation du diagnostic de mort cérébrale. Canadian Journal of Anesthesia 54:652-656 (2007)

[5] Eelco F.M. Wijdicks, MD: Brain death worldwide. Neurology 2002;58:20-25

[6] Jeffrey S: Brain Death Guidelines Vary Widely at Top US Neurological Hospitals 32nd Annual Meeting of the American Neurological Association: Abstract T-125. Presented October 9, 2007.

[7] Bell MDD, E. Moss, P. G. Murphy: Brainstem death testing in the UK - time for reappraisal?

[8] Hughes JJ (2001) The future of death. Cryonics and the Telos of liberal individualism. J Evol Technol 6: July

[9] Truog RD: Is It Time To Abandon Brain Death? 1997. Hastings Center Report 27 (1): 29-37. British Journal of Anaesthesia, 2004, Vol. 92, No. 5 633-640

[10] Emanuel L (1995) Reexamining death: the asymptomatic model and a bounded zone definition. Hastings Center Report 25:27-35

[11] Taylor RM: Reexamining the definition and criteria of death. Semin Neurol. 1997;17(3):265-70.
"The best definition of death is 'the event that separates the process of dying from the process of disintegration' and the proper criterion of death in human beings is 'the permanent cessation of the circulation of blood.'"

[12] Quante M: "Hirntod" und Organverpflanzung. In: J.S. Ach, M. Quante (Hrsg): Hirntod und Organverpflanzung. 2. Aufl. Stuttgart. 1999. S 33-34

[13] Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer: Der endgültige Ausfall der gesamten Hirnfunktion ("Hirntod") als sicheres Todeszeichen, Deutsches Ärzteblatt 90 (1993), S. 1975ff.

[14] Klein, M: Hirntod: Vollständiger und irreversibler Verlust aller Hirnfunktionen? Ethik in der Medizin 7 (1995), S. 6-15

[15] Pallis, C.: ABC of brain stem death, London 1993. ("The cessation of all functions of the entiere brain is - quite simply - something, that is impossible to determine"). 

[16] Veatch, R.M.: The Impending Collapse of the Whole-Brain Definition of Death, Hastings Center Report 23/4 (1993), S. 18-24

[17] Roth, G. u. U. Dicke: Falsches Weltbild, DIE ZEIT Nr. 30 v. 22.07.1994, S. 24

[18] Geisler, L: Anhörung vor dem Gesundheitsausschuß des Deutschen Bundestages am 28. Juni 1995 zum Thema "Bewertung des Hirntodes sowie der engen und der erweiterten Zustimmungslösung in einem Transplantationsgesetz".

[19] Gramm, H.-J., J. Zimmermann, J. Meinhold, R. Dennhardt, K. Voigt: Hemodynamic responses to noxious stimuli in brain-dead organ donors. Intensive Care Med (United States), 1992, 18(8) p493-5.

[20] Chen CL; Chen TL; Sun WZ; Fan SZ; Susetio L; Lin SY: Hemodynamic responses to surgical stimuli in brain-death organ donors. Ma Tsui Hsueh Tsa Chi (Taiwan) 1993 Jun;31(2):135-8.

[21] Arita, K; Uozumi, T; Oki, S; Ohtani, M; Taguchi, H; Morio, M: Hypothalamic pituitary function in brain death patients. No Shinkei Geka (Japan), Sep 1988, 16(10) p1163-71.

[22] Yokota, H; Nakazawa, S; Shimura, T; Kimura, A; Yamamoto, Y; Otsuka, T.: Hypothalamic and pituitary function in brain death. Neurol Med Chir (Tokyo) (Japan), Dec 1991, 31(13) p 881-6.

[23] Grigg MM; Kelly MA; Celesia GG; Ghobrial MW; Ross ER: Electroencephalographic activity after brain death. Arch Neurol 1987 Sep;44(9),pp.948-54.

[24] Okii, Y; Kawamoto, K; Hashimoto, M; Saito, M; Ueda, M; Ishida, N: Clinical study on judgement of brain death by the nasopharyngeal lead with the aid of an automatic EEG analysis system. Nippon Hoigaku Zasshi (Japan), Apr 1993, 47(2) p119-28.

[25] Ikuta F; Takeda S.: Neuropathology required from "brain death". Rinsho Shinkeigaku 1993 Dec;33(12):1334-6

[26] Ashwal, S.: Brain death in early infancy. J Heart Lung Transplant 1993 Nov-Dec;12(6 Pt 2):S176-8

[27] Medlock MD; Hanigan WC; Cruse RP: Dissociation of cerebral blood flow, glucose metabolism, and electrical activity in pediatric brain death. Case report. J Neurosurg 1993 Nov;79(5):752-5.

[28] Schrader, H., Krogness, K., Aakvaag A. et al: Changes of pituitary hormones in brain death. Acta Neurochir (Wien) 1980, 52, 239-248

[29] Field, DR; Gates EA; Creasy RK; Jonsen AR; Laros RK Jr: Maternal brain death during pregnancy. Medical and ethical issues [see comments]. JAMA (United States), Aug 12 1988, 260(6) p816-22.

[30] Bernstein, I.M., Watson, M., Simmons, G.M., Catalano, P.M., Davis, G., Collins, R.: Maternal brain death and prolonged fetal survival. Obstet Gynecol 1989, 74(3 Pt 2) p434-7.

[31] Bernstein IM, Watson M, Simmons GM, et al (1989) Maternal brain death and prolonged fetal survival. Obstet. Gynecol 74:3 part 2,434-43

[32] Roth G, Dicke U (1994) Das Hirntodproblem aus der Sicht der Hirnforschung. In: Hoff J, in der Schmitten J (Hrsg) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium. Rowohlt, Reinbek, S 51

[33] Quante M: Personales Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der biomedizinischen Ethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 2002

[34] Shewmon DA (1998) Chronic brain death: meta-analysis and conceptual consequences. Neurology 51:1538-1545

[35] In der Schmitten J: (2002) Organtransplantation ohne "Hirntod"-Konzept. Anmerkungen zu R.D. Truogs Aufsatz: Is it time to abandon brain death? Ethik Med 14: 60-70).

[36] Fassbender J: Einstellung zur Organspende und Xenotransplantation in Deutschland. Dissertation. Köln. 2002

[37] Greinert R: Organspende - Nie wieder. In: Greinert R, G Wuttke (Hg.): Organspende. Kritische Ansichten zur Transplantationsmedizin. Göttingen 1993.

[38] Ziegler J: Die Lebenden und der Tod. Goldmann München. 2000. S. 89

[39] Gubernatis G: Tod als Verabredung - eine Provokation oder ein möglicher Weg zum gesellschaftlichen Konsens in der Hirntoddiskussion? Medizinische Klinik 91 (1996), S. 47f (Nr. 1)

[40] Schlich Th: Scheintote und Wiedergänger. Eine unsichtbare Grenze: Die Todesfeststellung zwischen Biologie und kulturellen Deutungsmustern. Frankfurter Rundschau 27.03.2001.


Linus S. Geisler: Ist die Hirntod-Definition aus biologisch-medizinischer Sicht plausibel?
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