Linus S. Geisler: Ist die Hirntod-Definition aus biologisch-medizinischer Sicht plausibel? |
Vortrag am 19. Januar 2008 in Bonn anlässlich der Tagung der
Evangelischen Akademie im Rheinland zum Thema: Die Seele und der Tod.
Was sagt die Hirnforschung? II. Forum Neuroethik. |
Ist
die Hirntod-Definition aus biologisch-medizinischer Sicht plausibel?
Linus S. Geisler
"Sind
Hirntote wirklich tot? Diese Frage stellt sich unabhängig von der
Transplantationsmedizin, denn es scheint doch so zu sein, dass man, sobald der Mensch tot ist, viel weniger für ihn tun muss, aber sehr viel mehr mit ihm anstellen darf als zuvor." [1] |
Diagnose
Der
"Hirntod" als Kriterium weist erhebliche Unschärfen und Ungereimtheiten
auf. Handlungsoptionen, die auf diesem Begriff gründen, lassen
sich daher schwerlich verallgemeinern.
Die
Richtlinien der Harvardkommission zur Hirntoddiagnostik von 1968,
sozusagen der Ur-Kodex der Transplantationsmedizin, setzten - im
Gegensatz zu den heute bei uns gültigen Kriterien - völlige Reflexlosigkeit für den Nachweis des Hirntodes voraus [2]. Nach diesen
Kriterien wäre die Diagnose des Hirntodes in Deutschland heute in den
meisten Fällen gar nicht haltbar.
1978
waren bereits mehr als 30 verschiedene Kriteriengruppen für die
Feststellung des Hirntodes weltweit in Gebrauch [3]. Die jeweils neu
bekannt gegebenen Kriterien hatten die Tendenz, weniger strikt zu sein
als die früheren.
Einige
heute geltende Kriterien erfordern ein Elektroenzephalogramm, andere
nicht. Beispielsweise verlangen die Kriterien von Minnesota kein EEG,
wohingegen dies bei den Kriterien von Harvard und in Japan der Fall
ist. Auch in England wird zur Hirntoddiagnose kein EEG gefordert, in
Norwegen jedoch eine zerebrale Angiografie verlangt.
In Frankreich wird für die Hirntoddiagnose ein einzelner klinischer Test, nämlich das EEG oder die cerebrale Angiografie (Darstellung der blutversorgenden Gefäße des
Gehirns) gefordert. Aus Lyon wurde 2007 der Fall eines 58jährigen
Mannes publiziert, dessen Hirntod durch zwei EEGs entsprechend den
französischen Richtlinien bestätigt wurde. Eine schließlich doch noch
durchgeführte cerebrale Angiografie ergab einen Blutfluss in einem der
das Gehirn versorgenden Blutgefäße. Ein CT führte zum endgültigen
Ausschluss der Hirntod-Diagnose [4].
In
England reicht der endgültige Ausfall des Hirnstamms zur Todesdiagnose.
Dies bedeutet, dass das Vorliegen vereinzelter Teilfunktionen der
Großhirnrinde und damit Reste von Wahrnehmung nicht ausgeschlossen
werden können. Dies war auch der Grund, warum zwei englische
Anästhesisten 2000 in der Zeitschrift Anaesthesia vorschlugen, Organspendern Organe nur in Vollnarkose zu entnehmen
2002
wurden die Ergebnisse einer weltweiten Umfrage zur Diagnose des
Hirntodes in der Zeitschrift "Neurology" veröffentlicht [5].
Es zeigte sich, dass die Verwendung des Begriffs "Hirntod" zwar
weltweit akzeptiert wird, es aber keine weltweite Übereinstimmung bei
den diagnostischen Kriterien gibt. Eingeräumt wurde, es gäbe "weiterhin
ungelöste Fragen weltweit".
Eine
große, im Oktober 2007 veröffentlichte Studie, die 50 der Top
Neurologischen Kliniken in den USA umfasste und die angewandten
Hirntod-Richtlinien anhand von fünf Kriterien überprüfte, ergab
erhebliche Diskrepanzen in allen Kategorien zwischen den befragten
Institutionen [6]. Ähnlich ist die Situation in Großbritannien [7].
Theoretisch
könnte also ein Patient an einem bestimmten Ort kraft einer dort
gültigen Kriteriengruppe für tot befunden werden, nicht aber an einem
anderen Ort, wo eine andere Kriteriengruppe gilt.
Paradoxien
besonderer Art ergeben sich, wenn für die Diagnose des Hirntodes
weltanschauliche Überzeugungen ins Spiel kommen. Die
Hirntod-Gesetzgebung in New Jersey, die unter dem Druck orthodoxer
Juden, die den Hirntod nicht als Tod akzeptieren, zustande gekommen
ist, erlaubt zum Beispiel eine religiöse Ausnahmeregelung. Dies
bedeutet, dass Hirntote in New Jersey als tot gelten, falls nicht ihre
Angehörigen als Teil einer einflussreichen religiösen Lobby
widersprechen [8]. Einige Meilen weiter in New York wären sie Tote.
Schon
seit langem wurde die Fragwürdigkeit des Hirntod-Konzeptes deutlich und
es wurde nach anderen Kriterien gesucht, um mit einem befriedigenderen
Konzept Möglichkeiten für die Organentnahme bei Menschen im
irreversiblen Hirnversagen zu legitimieren.
Bereits
vor zehn Jahren stellte Truog, Medizinethiker und Anästhesist an der
Harvard Medical School in seinem berühmt gewordenen Artikel die Frage:
Is it time to abandon brain death? [9] Ist es Zeit, den Hirntod aufzugeben?
Von
der amerikanischen Ethikerin Linda Emanuel stammt der Vorschlag,
zwischen permanentem Bewusstseinsverlust einerseits und dem endgültigem
Sistieren der Atmung gesetzlich eine "Sterbezone" ("dying zone") zu
definieren [10]. Innerhalb dieser Zone soll es jedem Menschen gestattet sein, eigene Definitionen des Todes zu entwickeln, die einen Behandlungsabbruch und
eine Organentnahme erlauben. Oberhalb dieser Zone soll Euthanasie nicht
erlaubt sein, und niemand soll begraben oder eingeäschert werden
dürfen, bevor nicht seine Atmung unwiderruflich zum Stillstand gekommen
ist.
Medizinisch-biologische Fakten
Eine m. E. brauchbare biologische Definition des Todes (R. Taylor) lautet: "Tod ist jenes Ereignis, das
den Prozess des Sterbens vom Prozess der Desintegration abgrenzt. Das
zuverlässigste Kriterium des menschlichen Todes ist der endgültige
Stillstand der Blutzirkulation [11]."
Rein deskriptiv lässt sich das Ereignis des Todes demnach als der
irreversible Ausfall der von einem Organismus als Ganzem erbrachten
Integrationsleistungen beschreiben [12].
Eine Vielzahl biologischer Phänomene, die an Hirntoten zu beobachten sind, gibt es nur bei Lebenden, und keines davon ist bei Toten feststellbar. Es ist offensichtlich, dass beim
hirntoten Menschen von einem "Ende als Organismus in seiner
funktionellen Einheit" (Bundesärztekammer [13])
im Hinblick auf die Vielzahl erhaltener, zum Teil integrativer
Funktionen seines Körpers (Kreislauf, Immunsystem, hormonelle
Leistungen) nicht die Rede sein kann. Das Kennzeichen des Todes, der
irreversible Ausfall der von einem Organismus als Ganzem erbrachten
Integrationsleistung liegt offensichtlich nicht vor.
In manchen Fällen ist die Feststellung des Hirntodes nicht einmal mit dem Ausfall des ganzen Gehirns gleichzusetzen. Mit den allgemein anerkannten
Untersuchungsmethoden kann zwar beim Hirntod die Unumkehrbarkeit
(Irreversibilität) der Schädigung des Gehirns festgestellt werden,
nicht aber der "Ausfall der gesamten Hirnfunktion". Denn dies würde
voraussetzen, dass die gesamten Hirnfunktionen a) bekannt und b) messbar wären. Beides ist nicht der Fall [14, 15, 16, 17] und es
wäre illusorisch anzunehmen, dass es je der Fall sein wird.
Herz-Kreislauffunktion,
Nierenfunktion, Verdauung, Regulierung des Wasser- und
Mineralhaushaltes, immunologische Reaktionen und Atmung auf Zellebene
sind bei Hirntoten erhalten [18].
Dass
einige dieser Organfunktionen intensivmedizinisch unterstützt werden,
spielt hinsichtlich der Beurteilung eines Menschen als lebend oder tot
keine Rolle. Der Leib lebt beim Hirntoten noch zu 97 Prozent und nicht immer
kann es als sicher gelten, dass sein Gehirn zur Gänze nicht mehr lebt.
Ersatz
oder Unterstützung von Blutdruck, Atmung, Entgiftung oder Ausscheidung,
sind klinischer Alltag, gleichsam die Daseinsberechtigung jeder
Intensivstation. Unzählige Menschen sind nur dauerhaft lebensfähig,
weil sie implantierte Schrittmachersysteme tragen oder regelmäßig
dialysiert werden, niemand käme auf den Gedanken, sie deshalb als Tote
zu betrachten.
Hirntote
reagieren auf äußerliche Einwirkungen, zum Beispiel bei der operativen
Organentnahme. Deshalb muss die Organexplantation unter Mitwirkung
eines Anästhesisten erfolgen und macht die Verabreichung von
muskelentspannenden Medikamenten erforderlich, manchmal werden auch
Narkotika gegeben. Massive Blutdruckanstiege sind bei der Entnahme
beschrieben worden [19, 20].
Bei
"Hirntoten" wurden immer wieder klinisch relevante hormonelle
Funktionen des Zwischenhirns [21, 22] und elektrische Aktivitäten des
Gehirns nachgewiesen [23, 24].
Japanische
Autoren haben zum Beispiel autoptisch bei 84 hirntoten Patienten in
mehr als der Hälfte der Fälle Vitalitätszeichen in Zellen des
Hypothalamus (Zwischenhirn) und im Bereich des Nucleus supraopticus
(Kerngebiet im Zwischenhirn) noch drei bis vier Tage nach der
Hirntoddiagnose festgestellt [25, 26].
Bei vier hirntoten Patienten konnte in jedem Fall das im Zwischenhirn
gebildete Hormon GRF (= Growth hormone releasing factor, stimuliert die
Freisetzung des Wachstumshormons) im Blut in normaler Höhe gemessen
werden, in einem Fall noch viele Tage nach der Hirntoddiagnose.
Bei
klinisch als hirntot diagnostizierten Kindern wurde vereinzelt noch
eine Durchblutung des Gehirns und ein aktiver Glukosestoffwechsel des
Gehirns festgestellt [27].
Ein so genannter Diabetes insipidus, also ein rapider Wasserverlust
durch Mangel des im Zwischenhirn produzierten Hormons Vasopressin (ADH =
antidiuretisches Hormon) wurde bei Hirntoten in vier Studien nur mit
einer Häufigkeit zwischen 22-88% gefunden [28],
obwohl theoretisch diese Störung in jedem Fall hätte auftreten müssen.
Viele Hirntote zeigten aber über Stunden und Tage eine normale
Regulation des Wasserhaushaltes, also eine der wichtigen integrativen
Leistungen des Gehirns.
Hirntote Schwangere sind in der Lage, gesunden Kindern Leben zu schenken [29].
Sie lediglich als eine Art "Retorte" zu bezeichnen spricht für einen
pervertierten Lebensbegriff. Die längste Schwangerschaft einer
Hirntoten betrug 107 Tage. Sie wurde durch Kaiserschnitt von einem
gesunden Jungen entbunden, der sich normal entwickelte [30].
Hirntote Schwangere wurden auf den Status eines "Brutkastens"
reduziert, der lediglich den Fetus mit Sauerstoff und Nährstoffen
versorgt [31].
Die
Bundesärztekammer weicht dem Problem nur vordergründig aus, indem sie
lakonisch feststellt: "Eine Schwangerschaft wird endokrinologisch von
der Plazenta und nicht vom Gehirn der Mutter aufrechterhalten". Nur die
entscheidende Tatsache bleibt unausgesprochen: Die Plazenta befindet
sich nicht in einem Vakuum oder einem künstlichen Uterus, sondern in
einer lebenden Frau und nur deshalb funktioniert sie.
Wer also auf der Festlegung beharrt, der hirntote Patient sei tot, muss einräumen, dass sein Gehirn aber unter Umständen noch nicht zur Gänze tot ist.
Das Gehirn ist nicht das Zentralorgan des Menschen
Auch
und gerade eine ausschließlich naturwissenschaftliche Betrachtungsweise
des Hirntodes muss Zweifel an der These vom Hirntod als Tod des
Menschen wecken.
Den Hirntod als Tod des Menschen zu definieren, basiert auf der Grundannahme, das Gehirn sei das zentrale Steuerungsorgan des Körpers. Zweifel sind jedoch angebracht. Zunächst
ist der Hirntod nach heutigem Forschungsstand das irreversible Versagen
eines Organs, nicht mehr und nicht weniger.
Die
Vorstellung vom Gehirn als dem obersten Steuerungsorgan, dem weitere
Subsysteme untergeordnet sind, gilt aus Sicht namhafter Hirnforscher
wie Gerhard Roth als widerlegt [32].
Aus
biologisch-systemtheoretischer Sicht entsteht Leben durch die Fähigkeit
zur Selbstherstellung (Autopoiese) und Selbsterhaltung. Sie sind das
Resultat der Interaktion physikalisch-chemischer Komponenten in einem
autopoietischen Netzwerk ohne ein lokalisierbares zentrales
Steuerungsorgan. Das Leben hört auf, wenn dieses Netzwerk der
gegenseitigen Herstellung und Erhaltung zusammenbricht. Dies ist der
Fall, wenn konstitutive Organe wie das Gehirn, aber auch das Herz, die
Nieren, Leber oder das Immunsystem dauerhaft ersatzlos ausfallen.
Die
Selbststeuerung als wesentliches Merkmal des Lebens erfolgt unter
Nutzung externer Ressourcen. Diese Ressourcen sind beim irreversiblen
Hirnversagen die Ressourcen der Intensivmedizin. Für den in einer
hirntoten Mutter heranwachsenden Fetus ist seine Mutter die sein Leben
ermöglichende Ressource [33].
Alan
Shewmon, Neurologe und Hirntodspezialist an der UCLA, hat bereits 1998
in einer sorgfältigen Metaanalyse 56 Patienten mit "chronischem
Hirntod" beschrieben. Chronischer Hirntod bedeutet, dass die
Hirntodkriterien noch mindestens eine Woche nach der Hirntoddiagnose
nachweisbar waren. Manche dieser Patienten lebten noch Wochen oder
viele Monate, einige sogar Jahre ohne Kreislaufunterstützung, lediglich
mit künstlicher Beatmung [34].
Er beobachtete, dass die Tendenz zum Kreislaufzusammenbruch im Zustand
des Hirntodes manchmal nur anfänglich und nur vorübergehend besteht.
Dies spricht gegen die Auffassung, dass das Gehirn das Zentralorgan zur
Aufrechterhaltung systemischer Körperfunktionen ist. Shewmons logische
Folgerung: Wenn der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt
wird, müsste dies auf einer plausibleren Grundlage geschehen als der
Annahme, das Gehirn sei die übergeordnete integrative somatische
Einheit.
Sterben, Hirntod, Tod
Bis
nach dem Zweiten Weltkrieg hatte noch niemand einen "Hirntoten"
gesehen. Erst durch die Intensivmedizin wurde der Hirntod, der bis
dahin in Minuten durchlaufen wurde, bis der Tod endgültig eingetreten
war, beobachtbar.
Heute
erscheint der Hirntod als ein durch Intensivmedizin zeitlupenhaft auf
Stunden und Tage, gelegentlich sogar auf Monate ("chronic brain
death"), zerdehnter Ablauf im Sterbeprozess. Die Technik hat diese
Grauzone nicht erschaffen, sondern sie nur so weit überdehnt, dass sie
unserer Wahrnehmung besser zugänglich wurde.
Dabei
zeigte sich, dass Leben und Tod nicht einander ausschließende, sondern
sich gewissermaßen überlappende Zustände darstellen. Der Tod war schon
immer ein Prozess und Leben und Tod keine binären Zustände.
Die Konsequenzen liegen auf der Hand: Es besteht die konkrete Gefahr, dass der Prozess des Sterbens bereits mit dessen Endpunkt gleichgesetzt oder als solcher umgedeutet wird. Ferner, dass die
Ausweitung der Grauzone dazu führt, Zustände, die noch nicht dem
Prozess des Sterbens zuzurechnen sind, bereits als Sterbeprozess zu
definieren oder sogar schon als den Tod des Menschen auszugeben.
Die
Gleichsetzung von Hirntod mit dem Tod des Menschen ist letztlich nichts
anderes als die Umdeutung einer Prognose zur Diagnose. Die
Feststellung "Hirntod" bedeutet, dass der Mensch sich auf dem
unumkehrbaren Weg zu seinen Tod befindet, ist also eine prognostische
Feststellung, aber nicht die Diagnose seines Todes.
Das
unumkehrbare Versagen des Gehirns ist die zum Tode führende Erkrankung,
aber nicht bereits der Tod selbst. Das gilt für den Spender wie den
Nicht-Spender. Die unmittelbare Todesursache ist im Falle des
Nichtspenders das Abschalten der Apparate auf der Intensivstation, im
Falle des Spenders die Entnahme seiner Organe [35].
Plausibel für wen?
Wie viel Plausibilität kann all diesen prekären Diskrepanzen, Ungereimtheiten und auch Absurditäten zu gesprochen werden?
Was
wollen wir unter Plausibilität verstehen? Das, was dem lateinischen
Wortursprung (plaudere = klatschen, Beifallspenden) entspricht? Oder
das, was darunter noch im Grimmschen Wörterbuch als "wohl gefällig"
verstanden wird? Heißt plausibel "einleuchtend" - aber für wen?
Auf
wessen "Beifall" kann die These vom Hirntod als Tod des Menschen
zählen? Für rund 40% der Deutschen Bevölkerung ist der Hirntod nicht
der Tod des Menschen [36].
Und der Beifall der Mediziner, ist er einhellig? Wer Gespräche mit
nachgeordneten Ärzten geführt hat, die in der Transplantationsmedizin
tätig waren oder sein mussten, weiß, dass unter ihnen keineswegs ein
ungeteilter Beifall festzustellen ist.
Wie plausibel ist das Hirntodkonzept für Pflegende? Die Spenderkonditionierung, wie die Pflege genannt wird, sobald der Hirntod diagnostiziert wurde,
ist eine Pflege, welche rein auf den Organerhalt ausgerichtet ist, die
aber genauso aufwendig, oft noch aufwendiger ist als die Pflege
Bewusstloser. Ein und derselbe Mensch wird unter völlig verschiedenen
Perspektiven gepflegt. Hier Plausibilität einzufordern, heißt Menschen
maßlos zu überfordern.
Die
Perspektive der Familie, insbesondere der Eltern angesichts ihrer sog.
hirntoten Kinder oder Jugendlichen ist geprägt von Fassungslosigkeit [37].
Ihnen wird versucht einzureden, dass es sich bei ihrem Angehörigen
quasi nur um einen Scheinlebenden handelt. Ihre Überzeugung, dass er
lebt und nur sein Gehirn endgültig versagt hat, trägt ihnen den Vorwurf
ein, in eine individuelle "Plausibilitätsfalle" geraten zu sein.
Thanatokraten?
Ein
System, wie die Transplantationsmedizin, in der die Akteure und auch
Profiteure die Regeln, nach denen das System sich vollzieht, selbst
entwerfen, kann keinen Anspruch auf Plausibilität im Sinne der
Allgemeingültigkeit beanspruchen. Allenfalls Plausibilität im Sinne von
Wohlgefälligkeit und einseitigem Beifall.
Jean
Ziegler, Schweizer Soziologe, schreibt in seinem Buch über "Die
Lebenden und der Tod", nach der Erklärung von Harvard 1968 gelte: "Eine Klasse der Thanatokraten entsteht, die den Tod nach den technischen Normen behandelt, die sie selbst definiert und kontrolliert" [38].
Sehr
viel ehrlicher aber auch dekuvrierend ist die Feststellung eines
namhaften Protagonisten des Systems (Gundolf Gubernatis), wenn er in
seinem Artikel "Tod als Verabredung" fordert: "Wir brauchen eine
vernünftige, gesellschaftliche und verbindliche Vereinbarung über den
Tod - im wesentlichen, um handlungsfähig zu bleiben, darüber hinaus, um
die Frage nach der weiteren Existenz der Transplantationsmedizin zu
entscheiden." [39]
Anthropologische Betrachtungen
Die
Ausblendung kultureller und religiöser Deutungsmuster des Todes
zugunsten einer rein naturwissenschaftlich begründeten Definition muss
zwangsläufig zu unlösbaren Konflikten im Todesdiskurs führen. Es ist
das Verdienst von Thomas Schlich deutlich gemacht zu haben, dass es
nicht sinnvoll ist, in der Auseinandersetzung um den Tod des Menschen
eine scheinbar eindeutige Zäsur zwischen Natur und Kultur ziehen zu
wollen [40].
Das
endgültige Hirnversagen als Tod des Menschen ist eine medizinische, z. T.
auch gesellschaftlich akzeptierte Vereinbarung mit utilitaristischer
Zielsetzung. Der Hirntod ist aus medizinisch-biologischer Sicht ein
unumkehrbarer Sterbeprozess, unabwendbar ausgerichtet auf den Tod des
Organismus. Er ist aber nicht der Tod des Menschen und kann daher als
Todeskriterium keine Plausibilität beanspruchen.
Literatur:
[1] Geisler
LS: Behütetes Sterben und Organspende - vereinbar oder nicht? Vortrag. 30. Deutscher Evangelischer Kirchentag. Hannover, 26. Mai
2005. URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0505dekt_hirntod.html
[2] Ad Hoc Committee of the
Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death (1968)
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[3] Black PM (1978) Brain death (Teil 1 von 2 Teilen). N Engl J Med 299: 338-344
[4] Rimmelé Th et al:
L’électroencéphalogramme n’est pas un examen légitime pour la
confirmation du diagnostic de mort cérébrale. Un examen légitime pour
la confirmation du diagnostic de mort cérébrale. Canadian Journal of
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[5] Eelco F.M. Wijdicks, MD: Brain death worldwide. Neurology 2002;58:20-25
[6] Jeffrey S: Brain Death
Guidelines Vary Widely at Top US Neurological Hospitals 32nd Annual
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Presented October 9, 2007.
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[11] Taylor RM: Reexamining the definition and criteria of death. Semin Neurol. 1997;17(3):265-70.
"The best definition of death is 'the event that separates the process
of dying from the process of disintegration' and the proper criterion
of death in human beings is 'the permanent cessation of the circulation
of blood.'"
[12] Quante M: "Hirntod"
und Organverpflanzung. In: J.S. Ach, M. Quante (Hrsg): Hirntod und
Organverpflanzung. 2. Aufl. Stuttgart. 1999. S 33-34
[13] Wissenschaftlicher
Beirat der Bundesärztekammer: Der endgültige Ausfall der gesamten
Hirnfunktion ("Hirntod") als sicheres Todeszeichen, Deutsches
Ärzteblatt 90 (1993), S. 1975ff.
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[15] Pallis, C.: ABC of
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[18] Geisler,
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28. Juni 1995 zum Thema "Bewertung des Hirntodes sowie der engen und
der erweiterten Zustimmungslösung in einem Transplantationsgesetz".
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[32] Roth G, Dicke U (1994)
Das Hirntodproblem aus der Sicht der Hirnforschung. In: Hoff J, in der
Schmitten J (Hrsg) Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und
Hirntodkriterium. Rowohlt, Reinbek, S 51
[33] Quante M: Personales
Leben und menschlicher Tod. Personale Identität als Prinzip der
biomedizinischen Ethik. Suhrkamp, Frankfurt am Main. 2002
[34] Shewmon DA (1998) Chronic brain death: meta-analysis and conceptual consequences. Neurology 51:1538-1545
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(2002) Organtransplantation ohne "Hirntod"-Konzept. Anmerkungen zu R.D.
Truogs Aufsatz: Is it time to abandon brain death? Ethik Med 14: 60-70).
[36] Fassbender J: Einstellung zur Organspende und Xenotransplantation in Deutschland. Dissertation. Köln. 2002
[37] Greinert R:
Organspende - Nie wieder. In: Greinert R, G Wuttke (Hg.): Organspende.
Kritische Ansichten zur Transplantationsmedizin. Göttingen 1993.
[38] Ziegler J: Die Lebenden und der Tod. Goldmann München. 2000. S. 89
[39] Gubernatis G: Tod als
Verabredung - eine Provokation oder ein möglicher Weg zum
gesellschaftlichen Konsens in der Hirntoddiskussion? Medizinische
Klinik 91 (1996), S. 47f (Nr. 1)
[40] Schlich Th: Scheintote
und Wiedergänger. Eine unsichtbare Grenze: Die Todesfeststellung
zwischen Biologie und kulturellen Deutungsmustern. Frankfurter
Rundschau 27.03.2001.
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