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Linus S. Geisler: Das Menschenbild der Transplantationsmedizin. Vortrag anlässlich der Veranstaltung: Zehn Jahre Transplantationsgesetz. Ein öffentliches Podiumsgespräch. 
Veranstaltet von KAO e.V. am 1. Dezember 2007 im Haus der Evangelischen Kirche, Bonn.
 
Das Menschenbild der Transplantationsmedizin

Linus S. Geisler

Menschenbilder sind nicht bloße Beschreibungen des Menschen aus einer bestimmten Perspektive. Sie sind nicht nur deskriptiv, sondern normativ und damit in hohem Maße imperativ, also handlungsanleitend.

Menschenbilder sind keine Abstraktionen, die am besten in klugen Köpfen aufgehoben sind. Menschenbilder können nicht eingerahmt und in der guten Stube einer Ideologie als stille Dekoration an die Wand gehängt werden.

Früher oder später entfalten sie Wirkung im öffentlichen Raum. Ihr appellativer Charakter macht ihre wahre Bedeutung aus. Menschenbilder bestimmen maßgeblich, wie wir unsere Welt verstehen und wie wir mit ihr umgehen, aber auch wie diese Welt mit uns umgeht. [1]

So taucht plötzlich in der Biomedizin der Begriff des "technologischen Imperativs" auf. Offensichtlich soll er den Kant'schen "kategorischen Imperativ" ablösen, wonach bekanntlich der Mensch nach derjenigen Maxime handeln soll, von der er sich wünscht, dass sie "ein allgemeines Gesetz" werde. Vom "technologischen Imperativ" ist dies wahrlich nicht zu wünschen.

Die Risiken neuer Methoden und Techniken des Fortschritts sind weniger an ihren faktischen Einflüssen zu messen, sondern viel mehr an den Menschenbildern, die sie entwerfen. Aus gutem Grund fragte Hans Jonas in seinen Überlegungen zu einer Ethik der Verantwortung: "Wer werden die 'Bild'-Macher sein" und nach wessen "Ebenbild" werden sie verfahren? [2] Und für den New Yorker Philosophen Hartmut Rosa liegt das Bedrohliche der Biowissenschaften in der Veränderung der Bilder, in deren Licht der Mensch, das "selbstinterpretierende Tier", seine Welt deutet.

Technikfolgenabschätzung ist wichtig, aber Anthropologiefolgenabschätzung ist überlebenswichtig. Hierin liegt der Grund, sich mit Menschenbildern näher zu befassen.

Jahrmarkt der Menschenbilder

Der Wettlauf um die durchsetzungsfähigste Auslegung des Homo sapiens spiegelt sich in einem Jahrmarkt von anthropologischen Projektionen wider. Biomedizin, Gentechnologie, Hirnforschung, Reproduktionsmedizin, Neurotheologie und Robotik sind bemüht, mit ihren fachbegrenzten Instrumenten Teilaspekte des Menschen als das jeweils gültige Menschenbild zu präsentieren.

Doch das Bild vom Menschen, das beispielsweise die Psychiatrie, die Palliativmedizin oder die Transplantationsmedizin entwerfen, sind zum Teil so divergierend, dass man versucht ist, sich zu fragen, ob es sich jeweils um das gleiche Geschöpf handelt, das sie abzubilden versuchen.

Der Prozess der Aufsplitterung der Menschenbilder begann schleichend schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. 1928 schrieb Max Scheler: "Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften, die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdeckt ... weit mehr das Wesen des Menschen, als dass sie es erleuchtet." [3] Man ist geneigt, vom Heraufziehen einer anthropologischen Blendung zu sprechen.

Da die moderne Medizin von keinem einheitlichen Menschenbild mehr ausgehen kann, ist es nicht nur vernünftig, sondern wegen der weit reichenden Folgen auch geboten, sich mit dem Bild des Menschen jenes Medizinzweigs genauer auseinanderzusetzen, der in bislang unerhörter Weise Macht über den Menschen als leibseelisches Wesen ausübt, mit der Transplantationsmedizin.

Transplantationsmedizin ist Extremmedizin

Transplantationsmedizin ist Extremmedizin, denn in ihr wird eine elementar neue Dimension eröffnet: Heilung oder Linderung sind stets im Körper eines Anderen lokalisiert. Ihr therapeutisches Instrument ist der Mensch selbst. Hier bestätigt sich im Übrigen wieder, dass Ausübung von Macht, wie Canetti schrieb, stets Macht über Fleisch ist.

Die Transplantationsmedizin steht paradigmatisch für die Neuerfindung und -nutzung des Körpers. Damit aber auch für neue Formen seines Gebrauchs, und letztlich seines Missbrauchs. Denn ohne Änderung des Menschenbildes ist ein reibungsloser Vollzug des Transplantationsystems nicht machbar. Neue Körperkonzepte sind zu entwerfen, die das bisher Tabuisierte nunmehr zulassen.

Das körperliche Dasein des Menschen muss umdefiniert werden in eine bloße Ansammlung von Organen, in der das Ich für eine begrenzte Zeit seinen Platz findet. Die Vorstellung von der Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit des Körpers und seiner Organe ist aufzugeben. Neue Verfügungsrechte sind auszuhandeln, denn die körperlichen Grenzverletzungen zwischen Spender und Empfänger bei der Verpflanzung von Organen bedürfen der Legalisierung.

Damit wird ein immer begehrlicher werdender Blick auf die Körperlichkeit des Menschen geworfen. Diese Begehrlichkeit engt den Blick tunnelartig so sehr ein, dass alles Nichtkörperliche ausgeblendet wird.

Adorno und Horkheimer haben das "Interesse am Körper" als "todbringend" bezeichnet. Der Umgang des modernen Menschen mit seinem Körper erschien ihnen als gestört, denn der Mensch gehe mit seinen Körperteilen um, als wären sie bereits Prothesen. Sie schrieben: "In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, dass der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial gemacht hat".

Der Mensch in seiner Ganzheit aus Körper, Leib, Geist und Seele wird reduziert auf ein Ensemble austauschbarer Organe, Organteile und Gewebe und auf deren Brauchbarkeit und Funktionsfähigkeit.

Konkrete Folgen

Dies hat ganz konkrete Auswirkungen. So gerät beispielsweise der auf eine Leber wartende Kranke bei der Positionierung auf der Warteliste als leidendes Wesen selbst völlig aus dem Blickfeld. Er wird im Wesentlichen reduziert auf drei rasch bestimmbare Laborwerte. Am 16. Dezember 2006 hat Eurotransplant das neue sog. MELD-basierte Leberallokationssystem eingeführt. Der MELD-Score steht für "Model for Endstage Liver Disease". Er bestimmt sich aus den drei Laborwerten Bilirubin, Serum-Kreatinin (Nierenfunktion) und INR (für die Blutgerinnung). Drei Werte, die über das weitere Schicksal des Patienten bestimmen können und die, nebenbei gesagt, durch die Qualität der präoperativen Therapie - zumindest theoretisch - beeinflussbar sind. Um dem Patienten eine bestimmte Position auf einer Warteliste zuzuweisen, braucht man ihn selbst nicht mehr zu sehen.

Ware Organ

Dieses neue Körperverständnis, dieser Versuch der Neuerfindung des Körpers hat nachhaltige Auswirkungen zur Folge und beinhaltet Machterweiterungen für medizinisches Handeln von unerhörter Reichweite. Diese Reichweite schließt ein, dass Organe potenziell zur Ware werden und damit auch Gesundheit zur Ware wird. Was unter dem Signum der freiwilligen, altruistisch motivierten Spende angetreten ist, droht zum Handelsobjekt zu verkommen.

Der Ruf nach Kommerzialisierung und Ökonomisierung der Organverpflanzung wird mit bemerkenswertem und wachsendem Nachdruck vertreten. Die Trivialisierung und Profanisierung des Transplantationssystems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten. Diese beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe. Das Diktat der Anspruchserfüllung ebnet die Wege zur Ökonomisierung, in der nur noch Marktmechanismen zählen.

Scheinbar folgerichtig propagieren daher deutsche Wirtschaftswissenschaftler wie Peter Oberender monetäre Anreize auf einem Markt für Organtransplantate als legale Lösung des Problems "Organmangel" und behaupten, dass alle Beteiligten dabei gewinnen. [4] Philosophen wie Hartmut Kliemt stellen die Frage: "Warum darf ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" [5] Eine unsaubere Fragestellung, denn natürlich kann niemand "alles" verkaufen, z.B. nicht sein Wahlrecht. Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker macht sich für einen regulierten Organhandel, auch in der westlichen Welt, stark. Deutsche Gesundheitsökonomen wie Wulf Gaertner diskutieren ernsthaft weltweite Spotmärkte für Organe.

Ethische Bedenken werden mit bemerkenswert plumpen Argumenten beiseite geschoben. Bei einer Anhörung zum Organhandel im Deutschen Bundestag argumentierte ein bekannter deutscher Philosoph und Medizinökonom wörtlich folgendermaßen:

"Wir alle wissen, die Tabus von gestern sind die Selbstverständlichkeiten von morgen. Das muss man natürlich bedenken. Denken Sie an das Homosexualitätstabu früher. Auf einmal ist es eine Selbstverständlichkeit, dass es legal ist, so zusammen zu leben. Denken Sie an die Kommerzialisierung der Organtransplantation. Im Moment ist das ein Tabu. Aber man muss natürlich im Hinterkopf haben, wie schnell sich die Selbstverständlichkeiten ändern."

Ein von Friedrich Breyer 2006 herausgegebenes Buch mit dem Titel "Organmangel. Ist der Tod auf der Warteliste unvermeidbar?" ist im Kern und seiner Stoßrichtung ein unverhohlenes Plädoyer für den (regulierten) Organhandel.

Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht

Das Menschenbild der Transplantationsmedizin ist der Versuch, das Transplantationsgesetz von 1997 an den verschiedensten Stellen und mit den unterschiedlichsten Argumenten und Motiven zu erodieren. Wesentliche Tendenz ist die Erweiterung der Zugriffsmöglichkeiten und Zugriffsrechte auf den Körper des Anderen, der mit allen Mitteln zum Organgeber gemacht werden soll.

Diese Tendenzen respektieren auch immer weniger die Selbstbestimmung des Menschen. Der Vorstoß in Richtung Widerspruchslösung, in verklausulierter Form auch vom Nationalen Ethikrat propagiert, zählt zu diesen Bestrebungen. Diese Form einer staatlich sanktionierten Organbeschaffungsmaßnahme spricht dem Gedanken einer Spende Hohn.

Forcierte Lebendspende

Die Ausweitung der Lebendspende als angeblich besonders erfolgreiche und ethisch unproblematische Form der Organverpflanzung wird mit Nachdruck und gegen den Geist des Transplantationsgesetzes betrieben.

Der deutsche Gesetzgeber hat die Lebendspende jedoch - zu Recht - als subsidiär im Verhältnis zur Organspende von Hirntoten bewertet. Er erlaubt sie bekanntlich nur, wenn für den potenziellen Empfänger aktuell kein Organ eines hirntoten Spenders zur Verfügung steht. Er verfolgt damit zwei Ziele. Einmal den Schutz des Spenders, dessen Organentnahme gegen das Fundamentalgebot der Schädigungsfreiheit medizinischen Handelns (primum nihil nocere) verstößt. Zum anderen soll die Lebendspende die Bemühungen, Organe von Hirntoten zu erhalten, nicht verringern.

Neuere Untersuchungen haben im Übrigen gezeigt, dass die gesundheitlichen Folgen für Organlebendspender keineswegs so zu verharmlosen sind, wie bisher propagiert. Die Daten der BQS (Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung) beispielsweise für die Nierenfunktion nach Nierenlebendspende 2006 ergab, dass von 487 Nierenlebendspendern 31,01 Prozent eine deutliche (Kreatininclearance < 60 bis > 40 ml/min) und 3,49 Prozent eine schwere Einschränkung ihrer Nierenfunktion (< 40 ml/min) aufwiesen. [6]

Die Lebendspende ist nur zulässig, wenn das Organ auf Verwandte ersten oder zweiten Grades, Ehegatten, Verlobte oder andere Personen übertragen wird, die dem Spender in "besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe stehen".

Mit dieser Einschränkung des Empfängerkreises soll die Freiwilligkeit der Organspende gesichert und der Gefahr des Organhandels begegnet werden. Was aber bedeutet Freiwilligkeit innerhalb der Komplexität von Beziehungen und Familiendynamiken konkret? Bedeutet sie, dass Handlungen in völliger Freiheit von äußeren Zwängen erfolgen? Ganz zu schweigen von einem Freiwilligkeitsbegriff vor dem Hintergrund der Debatte um den neuronalen Determinismus des Menschen.

Alle heftig betriebenen Bemühungen um eine Ausweitung des Spenderkreises müssen sich dieser Frage stellen. Dies gilt insbesondere für die Favorisierung der so genannten anonymen Lebendspende, bei der Spender für einen ihnen unbekannten Empfänger aus "altruistischen" Gründen in einen so genannten "Organpool" spenden, aus dem der Empfänger sein Organ erhält. Kanadische Transplantationsmediziner haben beim Versuch der psychologischen Charakterisierung solcher Spender wegen der sehr heterogenen Motive die Frage aufgeworfen, ob diese als "lunatic or saint", als geisteskrank oder heilig, anzusehen seien. [7]

Schwarze Schafe

Das Organ als Ware übt seinen Reiz nicht nur auf Spender und Empfänger aus. Auch transplantierende Ärzte sind nicht frei von den Verführungen der Ökonomie wie die Vorfälle in Kiel und die Vorwürfe in Essen zeigen. Dass die Präferenz ausländischer, vor allem arabischer Patienten bei der Leberlebendtransplantation deutlich über der empfohlenen 5%-Quote liegt ist sozialethisch gesehen ein Skandal und zugleich ein fundamentaler Verstoß gegen die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit lebensnotwendiger "Güter".

Die hastige Aufforderung der BÄK an alle Transplantationszentren die Selbstverpflichtung "konsequent zu beachten" spricht für sich, ebenso der Appell an den Gesetzgeber, verbindlich zu regeln, wie mit Patienten außerhalb des europäischen Raums umzugehen sei. Hier werden, wie Wolfram Höfling in der Juristenzeitung (Heft 10/2007) anprangert die "unzulänglichen Entscheidungskriterien", die "Intransparenz" und die "Kontrolldefizite" des Transplantationssystems, exemplarisch deutlich. Höfling geht so weit zu sagen, dass "alles Wesentliche" nicht im Gesetz steht.

Hirntod

Das Menschenbild der Transplantationsmedizin ist rein naturwissenschaftlich bestimmt und blendet damit auch die soziokulturellen Bezüge zu Sterben und Tod aus. Aus dieser Sicht hat dann zwangsläufig nicht die Frage den Vorrang "Was können wir für Tote tun?", sondern es wird nur gefragt: "Was können wir mit Toten machen?"

Aber auch eine ausschließlich naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des Hirntodes muss Zweifel an der These vom Hirntod als Tod des Menschen wecken. Den Hirntod als Tod des Menschen zu definieren, basiert auf der Grundannahme, das Gehirn sei das zentrale Steuerungsorgan des Körpers. Zweifel sind jedoch angebracht. Zunächst ist der Hirntod das nach heutigem Forschungsstand irreversible Versagen eines Organs, nicht mehr und nicht weniger.

Alan Shewmon, angesehener Neurologe und Hirntodspezialist an der UCLA, hat bereits 1998 in einer Metaanalyse 56 Patienten mit "chronischem Hirntod" beschrieben. Chronischer Hirntod bedeutet, dass die Hirntodkriterien noch mindestens eine Woche nach der Hirntoddiagnose nachweisbar waren. Manche dieser Patienten lebten noch einige Jahre ohne Kreislaufunterstützung, lediglich mit künstlicher Beatmung. Er beobachtete, dass die Tendenz zum Kreislaufzusammenbruch im Zustand des Hirntodes manchmal nur anfänglich und nur vorübergehend besteht. Dies spricht gegen die Auffassung, dass das Gehirn das Zentralorgan zur Aufrechterhaltung systemischer Körperfunktionen ist. Shewmons logische Folgerung: Wenn der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird, müsste dies auf einer plausibleren Grundlage geschehen als der Annahme, das Gehirn sei die übergeordnete integrative somatische Einheit. [8]

Die Vorstellung vom Gehirn als dem obersten Steuerungsorgan, dem weitere Subsysteme untergeordnet sind, gilt aus Sicht namhafter Hirnforscher wie Gerhard Roth als widerlegt. Aus biologisch-systemtheoretischer Sicht entsteht Leben durch die Fähigkeit zur Selbstherstellung (Autopoiese) und Selbsterhaltung. Sie sind das Resultat der Interaktion physikalisch-chemischer Komponenten in einem autopoietischen Netzwerk ohne ein lokalisierbares zentrales Steuerungsorgan. Das Leben hört auf, wenn dieses Netzwerk der gegenseitigen Herstellung und Erhaltung zusammenbricht. Dies ist der Fall, wenn konstitutive Organe wie das Gehirn, aber auch das Herz, die Nieren oder die Leber ersatzlos ausfallen.

Systemtragik

Über der Transplantationsmedizin liegt das Odium der Systemtragik. Was immer sie verspricht, kann sie nicht umfassend halten. Die Illusion der "leeren Warteliste" wird immer eine Illusion bleiben. Das Wachstum des Systems verstärkt seine Wachstumskrise.

Solange der Mensch sterblich ist, wird es immer ein endgültig versagendes Organ geben, dessen Ersatz nicht mehr möglich ist. Mit einer imperativen Rhetorik ("Tod auf der Warteliste") schadet sich das System selbst.

Transplantationsmedizin verleugnet die Endlichkeit des Menschen, doch sie kann nicht leugnen, dass Endlichkeit eine anthropologische Konstante ist. In der medizinischen Ethik liefert aber gerade die Einsicht in die existenziale Endlichkeit des Menschen ein hilfreiches Korrektiv zur bisweilen absolut gesetzten ärztlichen Pflicht, zu helfen und zu heilen.

Letztlich wird immer wieder deutlich, dass alle Probleme und Krisen der Transplantationsmedizin ihre Wurzeln in einem Menschenbild haben, das den Menschen reduziert auf seine Nützlichkeit als Ensemble verwertbarer Organe.

Überwindung der Krise?

Der Versuch einer Überwindung der Systemkrise käme jedoch allen Beteiligten zugute, in erster Linie den Kranken, aber auch den um sie bemühten Ärzten und Wissenschaftlern. Sie setzt Bewusstseinsveränderungen voraus und den Mut, normativ gebrauchte Metaphern ("Organmangel") außer Kraft zu setzen. Die Frage von Thomas Schlich: "Vielleicht dürfen nur so viele Organe in einer Gesellschaft transplantiert werden, wie es freiwillige Organspenden gibt?" [9] führt zu gänzlich neuen Antworten, die geeignet sind, das System von seinem heillosen Druck zu entlasten.

Das Bewusstsein, dass Heilung oder Rettung durch das Organ eines Anderen glückliche Fügung und nicht einklagbare Anspruchserfüllung ist, würde verständliche Ansprüche und ihre mögliche Erfüllung in einem anderen Lichte erscheinen lassen. Missionarischer Organbeschaffungseifer und hybrides, aber letztlich ineffektives Aufschaukeln des Systems könnten dann einer Empfindung von großer Ruhe weichen, deren Merkmal gelassene Dankbarkeit wäre.

Schwarze Sonne

Ein Unbehagen, eine verstörende Beklemmung befällt den Beobachter des Feldes der Biomedizin, dessen Grenzen kaum mehr auszumachen sind. Dies gilt in besonderem Maße für die Transplantationsmedizin. Erwin Chargaff beschreibt dieses Gefühl in seinem Buch Die Aussicht vom 13. Stock als eine einzige Wolke des Missbehagens. [10] Die Welt ruhe wie unter einer schwarzen Sonne.

Dieses Unbehagen und nicht eine fundamentalistische Kritiksucht ist es, das uns heute hier zusammenführt. Kritische Aufmerksamkeit ist keine nervtötende Eigenschaft, sondern angesichts immer rasanterer sogenannter Fortschrittsentwicklungen eine Bürgerpflicht. Denn Fortschritt ist nur Fortschritt vor dem Hintergrund einer Freiheit, die die Alternativen offen hält, Ja, aber auch Nein zu einer Medizin der Hochleistungen sagen zu können.

In ihrem Buch "Was ist Biomacht?" [11] schreibt die Philosophin Petra Gehring: "Nicht in den Zwängen, sondern in den Angeboten des Biomacht-Zeitalters liegt die eigentliche politische Herausforderung."

Es ist nicht nur eine politische Herausforderung, sondern eine gesellschaftliche und damit vor allem eine persönliche Herausforderung. Um nichts anderes geht es als darum, die Angebote der Biomacht in verantwortbaren Grenzen zu halten.

Literatur:

[1] Geisler L. Zwischen Tun und Lassen. Frankfurt am Main. Erscheinungsjahr 2008. S. 183

[2] Jonas H. Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt am Main, 1989, S. 52-53

[3] Scheler M. Die Stellung des Menschen im Kosmos. Darmstadt, 1928, S. 9

[4] Oberender P. Das belohnte Geschenk - Monetäre Anreize auf dem Markt für Organtransplantate. Bayreuth. 2003. 
"Jeder Mensch soll aus freien Erwägungen entscheiden, ob die Vorteile eines Organkaufs oder -verkaufs für ihn in einem opportunen Verhältnis zu den möglichen Nachteilen stehen". (Interview mit "Focus Money")

[5] Kliemt H. "Warum darf ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" In: Ethik der Lebendorganspende - Beiträge des Symposiums in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, vom 11. September 2004 (Medizinische Forschung Band 14). Basel, 2005, S. 167-194

[6] Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung GmbH. BQS Bundesauswertung 2006 Nierenlebendspende. BQS Bundesgeschäftsstelle 2007.

[7] Henderson AJ, Landolt MA, McDonald MF, Barrable WM, Soos JG, Gourlay W, Allison CJ, Landsberg DN. The living anonymous kidney donor: lunatic or saint? Am J Transplant. 2003 Feb;3(2):203-13.

[8] Shewmon DA. Chronic brain death: meta-analysis and conceptual consequences. Neurology 51:1538-1545. 1998.

[9] Schlich T. Scheintote und Wiedergänger. Eine unsichtbare Grenze: Die Todesfeststellung zwischen Biologie und kulturellen Deutungsmustern. Frankfurter Rundschau, 27.03.2001

[10] Chargaff E. Die Aussicht vom 13. Stock. Neue Essays. Stuttgart 1998.

[11] Gehring, P. Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt, New York 2006.
 

Weiterführender Link:

KAO e.V. - Kritische Aufklärung über Organtransplantation
URL: http://www.initiative-kao.de/  - Externer Externer Link


Linus S. Geisler: Das Menschenbild der Transplantationsmedizin
Vortrag anlässlich der Veranstaltung: Zehn Jahre Transplantationsgesetz. Ein öffentliches Podiumsgespräch. Veranstaltet von KAO e.V. am 1. Dezember 2007 im Haus der Evangelischen Kirche, Bonn.
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0712kao_menschenbild-transplantationsmedizin.html

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