Linus S. Geisler: Das
Menschenbild der Transplantationsmedizin. Vortrag anlässlich der Veranstaltung:
Zehn Jahre Transplantationsgesetz. Ein öffentliches Podiumsgespräch.
Veranstaltet von KAO e.V.
am 1. Dezember 2007 im Haus der Evangelischen Kirche, Bonn.
Das Menschenbild der
Transplantationsmedizin
Linus S. Geisler
Menschenbilder sind nicht bloße
Beschreibungen des Menschen aus einer bestimmten Perspektive. Sie sind nicht
nur deskriptiv, sondern normativ und damit in hohem Maße imperativ,
also handlungsanleitend.
Menschenbilder sind keine
Abstraktionen, die am besten in klugen Köpfen aufgehoben sind. Menschenbilder
können nicht eingerahmt und in der guten Stube einer Ideologie als
stille Dekoration an die Wand gehängt werden.
Früher oder später
entfalten sie Wirkung im öffentlichen Raum. Ihr appellativer Charakter
macht ihre wahre Bedeutung aus. Menschenbilder bestimmen maßgeblich,
wie wir unsere Welt verstehen und wie wir mit ihr umgehen, aber auch wie
diese Welt mit uns umgeht. [1]
So taucht plötzlich
in der Biomedizin der Begriff des "technologischen Imperativs" auf. Offensichtlich
soll er den Kant'schen "kategorischen Imperativ" ablösen, wonach bekanntlich
der Mensch nach derjenigen Maxime handeln soll, von der er sich wünscht,
dass sie "ein allgemeines Gesetz" werde. Vom "technologischen Imperativ"
ist dies wahrlich nicht zu wünschen.
Die Risiken neuer Methoden
und Techniken des Fortschritts sind weniger an ihren faktischen Einflüssen
zu messen, sondern viel mehr an den Menschenbildern, die sie entwerfen.
Aus gutem Grund fragte Hans Jonas in seinen Überlegungen zu einer
Ethik der Verantwortung: "Wer werden die 'Bild'-Macher sein" und nach wessen
"Ebenbild" werden sie verfahren? [2] Und für den New Yorker Philosophen
Hartmut Rosa liegt das Bedrohliche der Biowissenschaften in der Veränderung
der Bilder, in deren Licht der Mensch, das "selbstinterpretierende Tier",
seine Welt deutet.
Technikfolgenabschätzung
ist wichtig, aber Anthropologiefolgenabschätzung ist überlebenswichtig.
Hierin liegt der Grund, sich mit Menschenbildern näher zu befassen.
Jahrmarkt der Menschenbilder
Der Wettlauf um die durchsetzungsfähigste
Auslegung des Homo sapiens spiegelt sich in einem Jahrmarkt von anthropologischen
Projektionen wider. Biomedizin, Gentechnologie, Hirnforschung, Reproduktionsmedizin,
Neurotheologie und Robotik sind bemüht, mit ihren fachbegrenzten Instrumenten
Teilaspekte des Menschen als das jeweils gültige Menschenbild zu präsentieren.
Doch das Bild vom Menschen,
das beispielsweise die Psychiatrie, die Palliativmedizin oder die Transplantationsmedizin
entwerfen, sind zum Teil so divergierend, dass man versucht ist, sich zu
fragen, ob es sich jeweils um das gleiche Geschöpf handelt, das sie
abzubilden versuchen.
Der Prozess der Aufsplitterung
der Menschenbilder begann schleichend schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts.
1928 schrieb Max Scheler: "Die immer wachsende Vielheit der Spezialwissenschaften,
die sich mit dem Menschen beschäftigen, verdeckt ... weit mehr das
Wesen des Menschen, als dass sie es erleuchtet." [3] Man ist geneigt, vom
Heraufziehen einer anthropologischen Blendung zu sprechen.
Da die moderne Medizin von
keinem einheitlichen Menschenbild mehr ausgehen kann, ist es nicht nur
vernünftig, sondern wegen der weit reichenden Folgen auch geboten,
sich mit dem Bild des Menschen jenes Medizinzweigs genauer auseinanderzusetzen,
der in bislang unerhörter Weise Macht über den Menschen als leibseelisches
Wesen ausübt, mit der Transplantationsmedizin.
Transplantationsmedizin
ist Extremmedizin
Transplantationsmedizin ist
Extremmedizin, denn in ihr wird eine elementar neue Dimension eröffnet:
Heilung oder Linderung sind stets im Körper eines Anderen lokalisiert.
Ihr therapeutisches Instrument ist der Mensch selbst. Hier bestätigt
sich im Übrigen wieder, dass Ausübung von Macht, wie Canetti
schrieb, stets Macht über Fleisch ist.
Die Transplantationsmedizin
steht paradigmatisch für die Neuerfindung und -nutzung des Körpers.
Damit aber auch für neue Formen seines Gebrauchs, und letztlich seines
Missbrauchs. Denn ohne Änderung des Menschenbildes ist ein reibungsloser
Vollzug des Transplantationsystems nicht machbar. Neue Körperkonzepte
sind zu entwerfen, die das bisher Tabuisierte nunmehr zulassen.
Das körperliche Dasein
des Menschen muss umdefiniert werden in eine bloße Ansammlung von
Organen, in der das Ich für eine begrenzte Zeit seinen Platz findet.
Die Vorstellung von der Einmaligkeit und Unaustauschbarkeit des Körpers
und seiner Organe ist aufzugeben. Neue Verfügungsrechte sind auszuhandeln,
denn die körperlichen Grenzverletzungen zwischen Spender und Empfänger
bei der Verpflanzung von Organen bedürfen der Legalisierung.
Damit wird ein immer begehrlicher
werdender Blick auf die Körperlichkeit des Menschen geworfen. Diese
Begehrlichkeit engt den Blick tunnelartig so sehr ein, dass alles Nichtkörperliche
ausgeblendet wird.
Adorno und Horkheimer haben
das "Interesse am Körper" als "todbringend" bezeichnet. Der Umgang
des modernen Menschen mit seinem Körper erschien ihnen als gestört,
denn der Mensch gehe mit seinen Körperteilen um, als wären sie
bereits Prothesen. Sie schrieben: "In der Selbsterniedrigung des Menschen
zum corpus rächt sich die Natur dafür, dass der Mensch sie zum
Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial gemacht hat".
Der Mensch in seiner Ganzheit
aus Körper, Leib, Geist und Seele wird reduziert auf ein Ensemble
austauschbarer Organe, Organteile und Gewebe und auf deren Brauchbarkeit
und Funktionsfähigkeit.
Konkrete Folgen
Dies hat ganz konkrete Auswirkungen.
So gerät beispielsweise der auf eine Leber wartende Kranke bei der
Positionierung auf der Warteliste als leidendes Wesen selbst völlig
aus dem Blickfeld. Er wird im Wesentlichen reduziert auf drei rasch bestimmbare
Laborwerte. Am 16. Dezember 2006 hat Eurotransplant das neue sog. MELD-basierte
Leberallokationssystem eingeführt. Der MELD-Score steht für "Model
for Endstage Liver Disease". Er bestimmt sich aus den drei Laborwerten
Bilirubin, Serum-Kreatinin (Nierenfunktion) und INR (für die Blutgerinnung).
Drei Werte, die über das weitere Schicksal des Patienten bestimmen
können und die, nebenbei gesagt, durch die Qualität der präoperativen
Therapie - zumindest theoretisch - beeinflussbar sind. Um dem Patienten
eine bestimmte Position auf einer Warteliste zuzuweisen, braucht man ihn
selbst nicht mehr zu sehen.
Ware Organ
Dieses neue Körperverständnis,
dieser Versuch der Neuerfindung des Körpers hat nachhaltige Auswirkungen
zur Folge und beinhaltet Machterweiterungen für medizinisches Handeln
von unerhörter Reichweite. Diese Reichweite schließt ein, dass
Organe potenziell zur Ware werden und damit auch Gesundheit zur Ware wird.
Was unter dem Signum der freiwilligen, altruistisch motivierten Spende
angetreten ist, droht zum Handelsobjekt zu verkommen.
Der Ruf nach Kommerzialisierung
und Ökonomisierung der Organverpflanzung wird mit bemerkenswertem
und wachsendem Nachdruck vertreten. Die Trivialisierung und Profanisierung
des Transplantationssystems inszeniert gefährliche Gleichgültigkeiten.
Diese beziehen sich auch auf die Herkunft der Organe. Das Diktat der Anspruchserfüllung
ebnet die Wege zur Ökonomisierung, in der nur noch Marktmechanismen
zählen.
Scheinbar folgerichtig propagieren
daher deutsche Wirtschaftswissenschaftler wie Peter Oberender monetäre
Anreize auf einem Markt für Organtransplantate als legale Lösung
des Problems "Organmangel" und behaupten, dass alle Beteiligten dabei gewinnen.
[4] Philosophen wie Hartmut Kliemt stellen die Frage: "Warum darf ich alles
verkaufen, nur meine Organe nicht?" [5] Eine unsaubere Fragestellung, denn
natürlich kann niemand "alles" verkaufen, z.B. nicht sein Wahlrecht.
Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Gary Becker macht sich
für einen regulierten Organhandel, auch in der westlichen Welt, stark.
Deutsche Gesundheitsökonomen wie Wulf Gaertner diskutieren ernsthaft
weltweite Spotmärkte für Organe.
Ethische Bedenken werden
mit bemerkenswert plumpen Argumenten beiseite geschoben. Bei einer Anhörung
zum Organhandel im Deutschen Bundestag argumentierte ein bekannter deutscher
Philosoph und Medizinökonom wörtlich folgendermaßen:
"Wir alle wissen, die Tabus
von gestern sind die Selbstverständlichkeiten von morgen. Das muss
man natürlich bedenken. Denken Sie an das Homosexualitätstabu
früher. Auf einmal ist es eine Selbstverständlichkeit, dass es
legal ist, so zusammen zu leben. Denken Sie an die Kommerzialisierung der
Organtransplantation. Im Moment ist das ein Tabu. Aber man muss natürlich
im Hinterkopf haben, wie schnell sich die Selbstverständlichkeiten
ändern."
Ein von Friedrich Breyer
2006 herausgegebenes Buch mit dem Titel "Organmangel. Ist der Tod auf der
Warteliste unvermeidbar?" ist im Kern und seiner Stoßrichtung ein
unverhohlenes Plädoyer für den (regulierten) Organhandel.
Angriff auf das Selbstbestimmungsrecht
Das Menschenbild der Transplantationsmedizin
ist der Versuch, das Transplantationsgesetz von 1997 an den verschiedensten
Stellen und mit den unterschiedlichsten Argumenten und Motiven zu erodieren.
Wesentliche Tendenz ist die Erweiterung der Zugriffsmöglichkeiten
und Zugriffsrechte auf den Körper des Anderen, der mit allen Mitteln
zum Organgeber gemacht werden soll.
Diese Tendenzen respektieren
auch immer weniger die Selbstbestimmung des Menschen. Der Vorstoß
in Richtung Widerspruchslösung, in verklausulierter Form auch vom
Nationalen Ethikrat propagiert, zählt zu diesen Bestrebungen. Diese
Form einer staatlich sanktionierten Organbeschaffungsmaßnahme spricht
dem Gedanken einer Spende Hohn.
Forcierte Lebendspende
Die Ausweitung der Lebendspende
als angeblich besonders erfolgreiche und ethisch unproblematische Form
der Organverpflanzung wird mit Nachdruck und gegen den Geist des Transplantationsgesetzes
betrieben.
Der deutsche Gesetzgeber
hat die Lebendspende jedoch - zu Recht - als subsidiär im Verhältnis
zur Organspende von Hirntoten bewertet. Er erlaubt sie bekanntlich nur,
wenn für den potenziellen Empfänger aktuell kein Organ eines
hirntoten Spenders zur Verfügung steht. Er verfolgt damit zwei Ziele.
Einmal den Schutz des Spenders, dessen Organentnahme gegen das Fundamentalgebot
der Schädigungsfreiheit medizinischen Handelns (primum nihil nocere)
verstößt. Zum anderen soll die Lebendspende die Bemühungen,
Organe von Hirntoten zu erhalten, nicht verringern.
Neuere Untersuchungen haben
im Übrigen gezeigt, dass die gesundheitlichen Folgen für Organlebendspender
keineswegs so zu verharmlosen sind, wie bisher propagiert. Die Daten der
BQS (Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung) beispielsweise
für die Nierenfunktion nach Nierenlebendspende 2006 ergab, dass von
487 Nierenlebendspendern 31,01 Prozent eine deutliche (Kreatininclearance
< 60 bis > 40 ml/min) und 3,49 Prozent eine schwere Einschränkung
ihrer Nierenfunktion (< 40 ml/min) aufwiesen. [6]
Die Lebendspende ist nur
zulässig, wenn das Organ auf Verwandte ersten oder zweiten Grades,
Ehegatten, Verlobte oder andere Personen übertragen wird, die dem
Spender in "besonderer persönlicher Verbundenheit offenkundig nahe
stehen".
Mit dieser Einschränkung
des Empfängerkreises soll die Freiwilligkeit der Organspende gesichert
und der Gefahr des Organhandels begegnet werden. Was aber bedeutet Freiwilligkeit
innerhalb der Komplexität von Beziehungen und Familiendynamiken konkret?
Bedeutet sie, dass Handlungen in völliger Freiheit von äußeren
Zwängen erfolgen? Ganz zu schweigen von einem Freiwilligkeitsbegriff
vor dem Hintergrund der Debatte um den neuronalen Determinismus des Menschen.
Alle heftig betriebenen Bemühungen
um eine Ausweitung des Spenderkreises müssen sich dieser Frage stellen.
Dies gilt insbesondere für die Favorisierung der so genannten anonymen
Lebendspende, bei der Spender für einen ihnen unbekannten Empfänger
aus "altruistischen" Gründen in einen so genannten "Organpool" spenden,
aus dem der Empfänger sein Organ erhält. Kanadische Transplantationsmediziner
haben beim Versuch der psychologischen Charakterisierung solcher Spender
wegen der sehr heterogenen Motive die Frage aufgeworfen, ob diese als "lunatic
or saint", als geisteskrank oder heilig, anzusehen seien. [7]
Schwarze Schafe
Das Organ als Ware übt
seinen Reiz nicht nur auf Spender und Empfänger aus. Auch transplantierende
Ärzte sind nicht frei von den Verführungen der Ökonomie
wie die Vorfälle in Kiel und die Vorwürfe in Essen zeigen. Dass
die Präferenz ausländischer, vor allem arabischer Patienten bei
der Leberlebendtransplantation deutlich über der empfohlenen 5%-Quote
liegt ist sozialethisch gesehen ein Skandal und zugleich ein fundamentaler
Verstoß gegen die Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit lebensnotwendiger
"Güter".
Die hastige Aufforderung
der BÄK an alle Transplantationszentren die Selbstverpflichtung "konsequent
zu beachten" spricht für sich, ebenso der Appell an den Gesetzgeber,
verbindlich zu regeln, wie mit Patienten außerhalb des europäischen
Raums umzugehen sei. Hier werden, wie Wolfram Höfling in der Juristenzeitung
(Heft 10/2007) anprangert die "unzulänglichen Entscheidungskriterien",
die "Intransparenz" und die "Kontrolldefizite" des Transplantationssystems,
exemplarisch deutlich. Höfling geht so weit zu sagen, dass "alles
Wesentliche" nicht im Gesetz steht.
Hirntod
Das Menschenbild der Transplantationsmedizin
ist rein naturwissenschaftlich bestimmt und blendet damit auch die soziokulturellen
Bezüge zu Sterben und Tod aus. Aus dieser Sicht hat dann zwangsläufig
nicht die Frage den Vorrang "Was können wir für Tote tun?",
sondern es wird nur gefragt: "Was können wir mit Toten machen?"
Aber auch eine ausschließlich
naturwissenschaftliche Betrachtungsweise des Hirntodes muss Zweifel an
der These vom Hirntod als Tod des Menschen wecken. Den Hirntod als Tod
des Menschen zu definieren, basiert auf der Grundannahme, das Gehirn sei
das zentrale Steuerungsorgan des Körpers. Zweifel sind jedoch
angebracht. Zunächst ist der Hirntod das nach heutigem Forschungsstand
irreversible Versagen eines Organs, nicht mehr und nicht weniger.
Alan Shewmon, angesehener
Neurologe und Hirntodspezialist an der UCLA, hat bereits 1998 in einer
Metaanalyse 56 Patienten mit "chronischem Hirntod" beschrieben. Chronischer
Hirntod bedeutet, dass die Hirntodkriterien noch mindestens eine Woche
nach der Hirntoddiagnose nachweisbar waren. Manche dieser Patienten lebten
noch einige Jahre ohne Kreislaufunterstützung, lediglich mit künstlicher
Beatmung. Er beobachtete, dass die Tendenz zum Kreislaufzusammenbruch im
Zustand des Hirntodes manchmal nur anfänglich und nur vorübergehend
besteht. Dies spricht gegen die Auffassung, dass das Gehirn das Zentralorgan
zur Aufrechterhaltung systemischer Körperfunktionen ist. Shewmons
logische Folgerung: Wenn der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt
wird, müsste dies auf einer plausibleren Grundlage geschehen als der
Annahme, das Gehirn sei die übergeordnete integrative somatische Einheit.
[8]
Die Vorstellung vom Gehirn
als dem obersten Steuerungsorgan, dem weitere Subsysteme untergeordnet
sind, gilt aus Sicht namhafter Hirnforscher wie Gerhard Roth als widerlegt.
Aus biologisch-systemtheoretischer Sicht entsteht Leben durch die Fähigkeit
zur Selbstherstellung (Autopoiese) und Selbsterhaltung. Sie sind das Resultat
der Interaktion physikalisch-chemischer Komponenten in einem autopoietischen
Netzwerk ohne ein lokalisierbares zentrales Steuerungsorgan. Das Leben
hört auf, wenn dieses Netzwerk der gegenseitigen Herstellung und Erhaltung
zusammenbricht. Dies ist der Fall, wenn konstitutive Organe wie das Gehirn,
aber auch das Herz, die Nieren oder die Leber ersatzlos ausfallen.
Systemtragik
Über der Transplantationsmedizin
liegt das Odium der Systemtragik. Was immer sie verspricht, kann sie nicht
umfassend halten. Die Illusion der "leeren Warteliste" wird immer eine
Illusion bleiben. Das Wachstum des Systems verstärkt seine Wachstumskrise.
Solange der Mensch sterblich
ist, wird es immer ein endgültig versagendes Organ geben, dessen Ersatz
nicht mehr möglich ist. Mit einer imperativen Rhetorik ("Tod auf der
Warteliste") schadet sich das System selbst.
Transplantationsmedizin verleugnet
die Endlichkeit des Menschen, doch sie kann nicht leugnen, dass Endlichkeit
eine anthropologische Konstante ist. In der medizinischen Ethik liefert
aber gerade die Einsicht in die existenziale Endlichkeit des Menschen ein
hilfreiches Korrektiv zur bisweilen absolut gesetzten ärztlichen Pflicht,
zu helfen und zu heilen.
Letztlich wird immer wieder
deutlich, dass alle Probleme und Krisen der Transplantationsmedizin ihre
Wurzeln in einem Menschenbild haben, das den Menschen reduziert auf seine
Nützlichkeit als Ensemble verwertbarer Organe.
Überwindung der Krise?
Der Versuch einer Überwindung
der Systemkrise käme jedoch allen Beteiligten zugute, in erster Linie
den Kranken, aber auch den um sie bemühten Ärzten und Wissenschaftlern.
Sie setzt Bewusstseinsveränderungen voraus und den Mut, normativ gebrauchte
Metaphern ("Organmangel") außer Kraft zu setzen. Die Frage von Thomas
Schlich: "Vielleicht dürfen nur so viele Organe in einer Gesellschaft
transplantiert werden, wie es freiwillige Organspenden gibt?" [9] führt
zu gänzlich neuen Antworten, die geeignet sind, das System von seinem
heillosen Druck zu entlasten.
Das Bewusstsein, dass Heilung
oder Rettung durch das Organ eines Anderen glückliche Fügung
und nicht einklagbare Anspruchserfüllung ist, würde verständliche
Ansprüche und ihre mögliche Erfüllung in einem anderen Lichte
erscheinen lassen. Missionarischer Organbeschaffungseifer und hybrides,
aber letztlich ineffektives Aufschaukeln des Systems könnten dann
einer Empfindung von großer Ruhe weichen, deren Merkmal gelassene
Dankbarkeit wäre.
Schwarze Sonne
Ein Unbehagen, eine verstörende
Beklemmung befällt den Beobachter des Feldes der Biomedizin, dessen
Grenzen kaum mehr auszumachen sind. Dies gilt in besonderem Maße für
die Transplantationsmedizin. Erwin Chargaff beschreibt dieses Gefühl
in seinem Buch Die Aussicht vom 13. Stock als eine einzige Wolke
des Missbehagens. [10] Die Welt ruhe wie unter einer schwarzen Sonne.
Dieses Unbehagen und nicht
eine fundamentalistische Kritiksucht ist es, das uns heute hier zusammenführt.
Kritische Aufmerksamkeit ist keine nervtötende Eigenschaft, sondern
angesichts immer rasanterer sogenannter Fortschrittsentwicklungen eine
Bürgerpflicht. Denn Fortschritt ist nur Fortschritt vor dem Hintergrund
einer Freiheit, die die Alternativen offen hält, Ja, aber auch Nein
zu einer Medizin der Hochleistungen sagen zu können.
In ihrem Buch "Was ist Biomacht?"
[11] schreibt die Philosophin Petra Gehring: "Nicht in den Zwängen,
sondern in den Angeboten des Biomacht-Zeitalters liegt die eigentliche
politische Herausforderung."
Es ist nicht nur eine politische
Herausforderung, sondern eine gesellschaftliche und damit vor allem eine
persönliche Herausforderung. Um nichts anderes geht es als darum,
die Angebote der Biomacht in verantwortbaren Grenzen zu halten.
Literatur:
[1] Geisler L. Zwischen Tun
und Lassen. Frankfurt am Main. Erscheinungsjahr 2008. S. 183
[2] Jonas H. Das Prinzip
Verantwortung. Frankfurt am Main, 1989, S. 52-53
[3] Scheler M. Die Stellung
des Menschen im Kosmos. Darmstadt, 1928, S. 9
[4] Oberender P. Das belohnte
Geschenk - Monetäre Anreize auf dem Markt für Organtransplantate.
Bayreuth. 2003.
"Jeder Mensch soll aus freien
Erwägungen entscheiden, ob die Vorteile eines Organkaufs oder -verkaufs
für ihn in einem opportunen Verhältnis zu den möglichen
Nachteilen stehen". (Interview mit "Focus Money")
[5] Kliemt H. "Warum darf
ich alles verkaufen, nur meine Organe nicht?" In: Ethik der Lebendorganspende
- Beiträge des Symposiums in der Akademie der Wissenschaften und der
Literatur Mainz, vom 11. September 2004 (Medizinische Forschung Band 14).
Basel, 2005, S. 167-194
[6] Bundesgeschäftsstelle
Qualitätssicherung GmbH. BQS Bundesauswertung 2006 Nierenlebendspende.
BQS Bundesgeschäftsstelle 2007.
[7] Henderson AJ, Landolt
MA, McDonald MF, Barrable WM, Soos JG, Gourlay W, Allison CJ, Landsberg
DN. The living anonymous kidney donor: lunatic or saint? Am J Transplant.
2003 Feb;3(2):203-13.
[8] Shewmon DA. Chronic brain
death: meta-analysis and conceptual consequences. Neurology 51:1538-1545.
1998.
[9] Schlich T. Scheintote
und Wiedergänger. Eine unsichtbare Grenze: Die Todesfeststellung zwischen
Biologie und kulturellen Deutungsmustern. Frankfurter Rundschau, 27.03.2001
[10] Chargaff E. Die Aussicht
vom 13. Stock. Neue Essays. Stuttgart 1998.
[11] Gehring, P. Was ist
Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens. Frankfurt, New York 2006.
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Weiterführender Link:
KAO e.V. - Kritische
Aufklärung
über Organtransplantation
URL: http://www.initiative-kao.de/
- Externer
Linus S. Geisler: Das Menschenbild
der Transplantationsmedizin |
Vortrag anlässlich
der Veranstaltung: Zehn Jahre Transplantationsgesetz. Ein öffentliches
Podiumsgespräch. Veranstaltet von KAO e.V. am 1. Dezember 2007 im
Haus der Evangelischen Kirche, Bonn. |
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0712kao_menschenbild-transplantationsmedizin.html |
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