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Linus S. Geisler: Kommunikation mit Sterbenden. Workshop anlässlich der Tagung "Das Sterben in die Mitte holen". Gemeinsame Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung NRW, IMEW Berlin, Deutscher Behindertenrat. Köln, 11. November 2005.
Kommunikation mit Sterbenden

Zwölf Leitgedanken

Linus S. Geisler

Zwölf Leitgedanken
 1. Worte können das Leben verkürzen.
 2. Einfühlung hat im Sterben eine grundsätzliche Grenze.
 3. Sprechen und Schweigen haben je ihre Zeit.
 4. Tod ist der unwiderrufbarste Beziehungsverlust.
 5. Gespräche mit Sterbenden sind Gespräche gegen die Angst.
 6. Fantasie ist schlimmer als die Wirklichkeit.
 7. Verdrängung tritt regelhaft auf.
 8. Wirklichkeiten changieren.
 9. Ein Klagelied ist ein Lied zum zuhören, nicht zum kommentieren.
10. Helfen Leid zu be-stehen, nicht nur zu ver-stehen.
11. Sterbende brauchen Begleiter zum Leben.
12. Mit leeren Händen kommen.
1. Worte können das Leben verkürzen

"Das Leben eines Kranken kann nicht nur durch die Handlungen eines Arztes verkürzt werden, sondern auch durch seine Worte und sein Verhalten." So steht es in der Gründungsschrift der American Medical Association aus dem Jahre 1847 [1]. Aber Worte und Verhalten können auch das Leben verlängern.
 

2. Einfühlung in das Sterben hat eine grundsätzliche Grenze

Am Anfang sollte die Erkenntnis stehen, dass die Einfühlung des Therapeuten/Begleiters in einen Sterbenden eine grundsätzliche Grenze nicht überwinden kann. Denn die allgemeine Erkenntnis des Gesunden, dass Sterblichkeit eine anthropologische Konstante darstellt, ist ein Wissen, das mit dem Bewusstsein des Sterbenskranken, sich bereits in jenem Prozess zu befinden, der unausweichlich in das Ende des Lebens einmündet, nicht gleichzusetzen ist. Diese Erkenntnis macht bescheiden.
 

3. Sprechen und Schweigen haben je ihre Zeit

Die Zeit des Schweigens und die Zeit des Sprechens haben jeweils ihre eigene Stunde. Dies zu verkennen, kann verhängnisvoll sein. Im Zweifel hat zuhörendes Schweigen den Vorrang.
 

4. Tod ist der unwiderurbarste Beziehungsverlust

Angst bildet das Grundrauschen vor dem in todesbedrohter Krankheit alles geschieht. Die tiefste Angst ist im Kern die Angst vor dem endgültigen Beziehungsverlust in einer Welt, die sich am Ende nicht mehr als jene behütende Behausung erweist, als die wir sie ein Leben lang wahrgenommen haben. Der Tod erscheint dann als der radikalste und unwiderrufbarste Beziehungsverlust (M. Volkenandt) [2].
 

5. Gespräche mit Sterbenden sind Gespräche gegen die Angst

Gespräche mit Sterbenskranken, sollen sie wirklich helfen, sind immer Gespräche gegen die Angst. Wichtig ist es, die Richtung der Ängste zu eruieren. Sind sie auf das Diesseits oder das Jenseits gerichtet?
 

6. Die Fantasie ist schlimmer als die Wirklichkeit

Fantasien erweisen sich meist schlimmer als die Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit hat Grenzen, die Fantasie nicht. Werden solche Fantasien angesprochen und zur realen Bedrohung ins Verhältnis gesetzt, kann dies zum Angstabbau beitragen.
 

7. Verdrängung tritt regelmäßig auf

Verdrängungen als Abwehrmechanismen gegen die Angst treten in lebensbedrohlicher Krankheit fast regelhaft in verschiedensten Formen auf. Als Mechanismen der Angstabwehr sollten sie nicht durchbrochen werden.
 

8. Wirklichkeiten changieren

Meistens sind Verdrängungsmechanismen die Ursache für changierende Wahrnehmungen der Wirklichkeit des Kranken, die für Außenstehende schwer verständlich sein können. Sie helfen, beim Bestehen einer sonst kaum erträglichen Realität. Niemand kann dem Tod ständig ins Auge sehen.
 

9. Ein Klagelied ist ein Lied zum Zuhören, nicht zum Kommentieren

Dieser Satz stammt von dem dänischen Dichter Benny Anderson [3]. Es kann nicht darum gehen, Sinndeutungen des Patienten zu korrigieren und ihn mit Interpretationen von Leid zu konfrontieren, die den illusorischen Anspruch der Allgemeingültigkeit erheben.
 

10. Helfen Leid zu be-stehen, nicht nur zu ver-stehen

Aktives Zuhören ist die hilfreichste Form der Zuwendung. Im Kern "versteht" keiner sein Leiden besser als der Leidende.
 

11. Sterbende brauchen Begleiter zum Leben

Braucht der Sterbende einen tüchtigen oder einen guten Arzt? Die Antwort ist klar. Aber was ist ein guter Arzt für Sterbende? Die Antwort lautet: Ein Arzt, der nicht nur gut für das Sterben ist, sondern auch für das Leben. Denn Sterbende sind Lebende. Cicily Saunders hat immer wieder betont, wir wollen "alles tun, dass du lebst, wirklich lebst, bis du stirbst."
 

12. Mit leeren Händen kommen

Der gute Arzt/Begleiter kommt zum Sterbenden mit leeren Händen: Sie halten keine Instrumente mehr, sie haben sich von Vorurteilen gelöst, sie bringen keine Ratschläge. So ist er frei, einfach da zu sein für seinen Kranken.

Literatur:

[1] AMA, Code of Medical Ethics of the American Medical Association (1847)

[2] Volkenandt M: Leid Tragen. Vortrag auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Aachen, April 2005

[3] zit. n. Bucka-Lassen E: Das schwere Gespräch. Einschneidende Diagnosen menschlich vermitteln. Deutscher Ärzteverlag, Köln. 2005
 


Linus S. Geisler: Kommunikation mit Sterbenden
Workshop anlässlich der Tagung "Das Sterben in die Mitte holen". Gemeinsame Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung NRW, IMEW Berlin, Deutscher Behindertenrat. Köln, 11. November 2005.
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0511kommunikation_sterbende.html

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