Linus S. Geisler: Glaube
als wichtiger Faktor für die Arzt-Patient-Beziehung. Vortrag vom 30.
Oktober 2005. 39. Medizinische Woche Baden-Baden
Glaube als wichtiger Faktor für die
Arzt-Patient-Beziehung
Linus S. Geisler
Wer die Darstellung eines tibetischen
Medizin-Buddhas - beispielsweise auf einem der prächtigen Thangkas
- betrachtet, erkennt, ohne dass ihm die Details verständlich sein
müssen, unmittelbar die tiefe Spiritualität dieses Medizinsystems,
das zu den ältesten der Welt zählt.
Wendet sich der Betrachter
dann unserem jetzigen Gesundheitssystem zu, werden ihn rasch Zweifel befallen,
ob Glaube und Spiritualität in der modernen, naturwissenschaftlich
geprägten Medizin, angesichts von ökonomischen Zwängen,
knappen Zeitbudgets, hastigen Arzt-Patient-Begegnungen und evidenzbasierten
Handlungsanleitungen überhaupt Raum finden können.
Recherchiert er mit Google
im Internet unter dem Stichwort "Spiritualität", so wird er allerdings
auf über 700.000 Fundstellen stoßen, die mit Spiritualität
in Beziehung stehen. Im Grimmschen Wörterbuch war Spiritualität
als Stichwort hingegen überhaupt nicht zu finden [1], und der Große
Brockhaus vor rund einhundert Jahren (1906) gibt nur eine sehr allgemeine
Definition für diesen Begriff: "das geistige Wesen, innere Leben..."
Ist Spiritualität nur
eine der "neuen" Denkweisen, welche sich vor allem auf mystische Traditionen
und auf "östliche" Spiritualität bezieht, ein quasi Überschwappen
diffuser spiritueller Inhalte aus fernöstlichen Kulturen in die westliche
Welt? Oder ist Spiritualität eine - zeitlose - wesentliche Dimension
unseres Menschseins, die über das eigene Ich hinausgehende Fragen
nach einer transzendentalen Ebene und dem eigentlich Sinn des Daseins stellt?
[2]
Rückkehr der Religionen
Angesichts nahezu leerer
Kirchen - nur fünf bis sieben Prozent der Deutschen besuchen sonntags
den Gottesdienst - erscheint es dem ersten Anschein nach wenig wahrscheinlich,
Kräften des Glaubens, der Religiosität und Spiritualität
in unserem Land ein nennenswertes Gewicht beimessen zu können.
Schon 1967 konstatierte der
SPIEGEL - nicht ohne Schadenfreude - "Deutschland ist kein christliches
Land mehr", und die SPIEGEL-Ausgabe zum Besuch von Papst Benedikt XVI trug
den Titel: Gläubige, verzweifelt gesucht. [3]
Die Schwarzmalerei entspricht
allerdings nicht jüngsten Untersuchungsergebnissen, denn für
immer mehr Deutsche gewinnt Glaube wieder an Bedeutung: Nach einer Infratest-Umfrage
2005 bezeichneten 27 Prozent der Westdeutschen ihren Glauben als"sehr wichtig"
für ihr Leben. [4] Nach einer neuen Emnid-Befragung glauben bundesweit
knapp zwei Drittel aller Deutschen an Gott, allerdings meist an einen "Gott
ohne Gesicht".
In säkularisierten Gesellschaften
scheinen regelhaft Prozesse abzulaufen, die zunächst zur "Entchristlichung",
dann zur "Entkirchlichung" und schließlich durch die Rationalisierung
aller Lebensbereiche zur "Entzauberung der Welt" führen, wie Max Weber
es genannt hat. [5]
Aber die Frage ist, ob Menschen
dauerhaft diesen "Zauber" entbehren möchten, ja können? Die Möglichkeit
von Spiritualität ist strukturell im Menschen angelegt, sie erweist
sich als anthropologische Konstante. Religion ist offensichtlich ein Phänomen,
von dem eben jener gewisse "Zauber" ausgeht, der in säkularen Gesellschaften
vermisst wird.
Daher ist das Phänomen
boomender Sehnsucht bei schrumpfenden Kirchen, wenn diese die spirituellen
Bedürfnisse von Menschen nicht mehr stillen können, kein paradoxes
Geschehen. Und so wächst aus "moderner Säkularität moderne
Spiritualität" [6]. Säkulare Philosophen wie Habermas anerkennen
die Wertebildung der Religion für eine harmonische Gesellschaft, auch
wenn sie persönlich nicht religiös sind. [7]
Alle philosophischen, psychologischen
und soziologischen Erkenntnisse und Erklärungen haben es daher bisher
nicht vermocht, das Phänomen Religion aus der Welt zu schaffen. Selbst
in einem erzkommunistischen und atheistischen Land wie Vietnam wird in
jüngster Zeit eine Neubelebung von Religionen wie Buddhismus und Christentum
beobachtet, ähnliches gilt für China.
Nach Forschungsergebnissen
von NRM (New Religious Movement), hat die Zahl der Religionen und der Gläubigen
im 20. Jahrhundert erheblich zugenommen. [8] Nicht nur das Erstarken des
Islam in seiner fundamentalistischen Ausprägung, sondern auch das
Gefühl einer universellen terroristischen Bedrohung nach dem 11. September
2001, Naturkatastrophen bisher ungeahnten Ausmaßes, das immer neue
Auftauchen bisher unbekannter ethischer Probleme (Embryonenforschung, Klonen,
genetische Manipulation) mögen weitere Triebfedern einer religiösen
Neubesinnung in der westlichen Welt bilden.
Sogar die Molekularbiologie
versucht sich mit dem Phänomen der Spiritualität auseinanderzusetzen.
So kommt der Verhaltensgenetiker Dean Hamer in seinem umstrittenen Buch
"Das Gottes-Gen" aufgrund so genannter "Spiritualitätstests" zu dem
Ergebnis, dass spirituelle Menschen auffallend oft eine gemeinsame "Spiritualitätsvariante"
des VMAT2-Gens besitzen und er folgert, diese Variante müsse auch
im Erbgut von Buddha, Jesus und Mohammed vorhanden gewesen sein [9].
Religionen werden zum Fluchtpunkt,
in dem sich Fragen an das Selbstverständnis des Menschen und an die
Spielregeln des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert bündeln. [10]
Insofern hatte André
Malraux vorausschauend recht, als er in seinen Werk So lebt der Mensch
1933 schrieb:"Das einundzwanzigste Jahrhundert wird religiös sein,
oder es wird nicht sein." [11]
Der Mensch sei "unheilbar
religiös" hat der russische Religionsphilosoph Nikolai A. Berdjajew
konstatiert, ein "Befund", der sich nur zeitweise verdecken läßt,
um dann, je nach den soziokulturellen Szenarien, immer wieder hervorzubrechen.
Spirituelle Sehnsucht gehört
zu Conditio humana. Das Bedürfnis des Menschen, sich in einem größeren
Sinnganzen zu verstehen, erfährt vor dem Hintergrund der Erkenntnis,
dass auch eine hochtechnisierte Medizin seine Sterblichkeit nicht überwinden
kann, neuen Auftrieb und könnte eine spirituelle Neubelebung der Medizin
einleiten.
Was ist Spiritualität?
Der Spiritualitätsbegriff
wird nicht selten unscharf und zu allgemein definiert. Soll er nicht als
"Container" für unterschiedlichste religiös, esoterisch oder
sonst wie gefärbte Empfindungen oder Erlebnisse missbraucht werden,
ist eine klare Begriffsbestimmung nötig.
Harald Walach, einer der
herausragenden deutschen Forscher auf dem Gebiet der Spiritualität
hat deutlich gemacht, dass Spiritualität im Wesentlichen eine bestimmte
Erfahrung
bedeutet, nämlich, die erfahrungsmäßige Erkenntnis einer
transzendenten, das individuelle Ich übersteigenden Wirklichkeit.
[12]
Religionen vermitteln
Regeln und Normen, welche die Interaktion zwischen Menschen und übermenschlichen
Mächten sowie den Diskurs über die Natur dieser Mächte strukturieren.
[13]
Entscheidend ist: Spiritualität
kann sich als Ressource mit therapeutischem Effekt erweisen.
Spirituelle Begleitung zählt
zu den vordringlichen Bedürfnissen todkranker Menschen auf dem Weg
zu einem "guten Tod". [14] Für Palliativmedizin und Hospizarbeit gilt
Spiritualität als tragende Säule. So kann es als gesichert gelten,
dass spirituelles Wohlbefinden (spiritual well-being) der wichtigste Faktor
für die Lebensqualität von Patienten mit Krebs im Endstadium
ist. [15]
Vor allem in der angelsächsischen
Literatur findet sich eine Vielzahl von Belegen für die positive Bedeutung
von Spiritualität und Religiosität für Krankheitsbewältigung,
den Verlauf körperlicher und seelischer Krankheiten und die Lebensqualität
von Kranken.
Hier einige der neuen diesbezüglichen
Studien und Meta-Analysen:
Somatische Erkrankungen
Koenig und Mitarbeiter zitieren
im Handbuch für Religion und Gesundheit über 1200 amerikanische
Studien, die belegen, dass zwischen körperlicher Gesundheit und persönlichen
Glauben ein positiver statistischer Zusammenhang besteht, den man kausal
interpretieren kann. Wer glaubt, ist gesünder, verfügt über
mehr Bewältigungsstrategien, genießt eine höhere Lebenszufriedenheit
und sogar eine höhere Lebenserwartung. [16]
Psychische Störungen
2616 Zwillinge wurden zum
Ausmaß ihrer Religiosität und zu psychischen Störungen
befragt. Es wurden sieben Dimensionen der Religiosität identifiziert
(generelle und soziale Religiosität, Vatergott, Richtergott, Vergebung,
Dankbarkeit, Versöhnungsbereitschaft). Dabei zeigte sich, dass bestimmte
religiöse Faktoren mit einem geringeren Risiko für Angst- und
Panikstörungen sowie für Suchterkrankungen verbunden waren. [17]
Psychische Erkrankungen
In einer Meta-Analyse von
147 Studien mit insgesamt knapp 100.000 Personen (n= 98.975) zum Zusammenhang
zwischen Religiosität und Depressivität zeigte sich, dass stärker
ausgeprägte Religiosität mit weniger depressiven Symptomen einhergeht.
Dieser Befund trat unabhängig von Alter, Geschlecht oder ethnischer
Gruppe der untersuchten Personen ein. [18]
Religion und Lebenserwartung
In einer Meta-Analyse (29
unabhängige Untersuchungen an 126.000 Personen) wurde die Fragestellung
untersucht, ob Teilnahme an religiösen Aktivitäten mit verringerter
Sterblichkeit einhergeht. Das Resultat: Religiöses Engagement ist
mit einer deutlich längeren Lebensdauer verbunden. [19]
Die Schweizer Musik- und
Psychotherapeutin Monika Renz, Leiterin der Psychoonkologie am Kantonsspital
St Gallen, hat in ihren Untersuchungen zeigen können, dass bei Krebspatienten
und anderen Schwerkranken in etwa der Hälfte der Fälle spirituelle
Erlebnisse und Erfahrungen vorkommen, die zu einer Linderung körperlicher
Symptome und einer versöhnteren Beziehung zur Krankheit beitragen
können. Monika Renz hat diese Ergebnisse in ihrem beeindruckenden
Buch "Grenzerfahrung Gott" niedergelegt. [20]
Freilich bleibt kritisch
zu fragen, was solche Studien tatsächlich aussagen. Können selbst
methodisch einwandfreie Arbeiten nicht doch nur Zusammenhänge beschreiben,
die auf dem Hintergrund eines materialistischen Weltbildes erklärbar
sind? Werden nicht wesentliche Wirkprinzipien durch ein solches Vorgehen
vielleicht sogar eher verschleiert als enthüllt und Gott in doppelblinden,
kontrollierten Studien "zum Helfer des vordergründigen Körper-Reparaturbetriebs
gemacht"? [21]
Einen ganz neuen Aspekt in
dem Wirkgefüge von Glaube, Spiritualität und Gesundheit haben
Walach und Kohls mit ihren Forschungsergebnissen verdeutlicht. Sie konnten
zeigen, dass spirituelles Nichtpraktizieren einen bislang unterschätzten
Risikofaktor
für psychische Belastungssymptome darstellt. Dies bedeutet im Umkehrschluss,
dass spirituelle Erfahrung einen protektiven Einfluss gegenüber
psychischen Belastungen ausüben kann. Regelmäßiges spirituelles
Üben, so Walach, gehört damit eigentlich genauso in das Arsenal
gesundheitsbewusster Verhaltensweisen wie regelmäßige körperliche
Aktivität. [22]
Gods own country
US-amerikanische Verhältnisse
können, was Religiosität und Spiritualität angeht, freilich
nicht unkritisch auf europäische Gesellschaften übertragen werden.
Die US-Amerikaner erscheinen häufig als ein besonders religiöses
Volk. Sie leben schließlich in gods own country. Je nach Untersuchung
glauben bis zu 95% an Gott. Der überwiegende Teil gibt an, täglich
bis wöchentlich zu beten. 85% besuchen sonntags einen Gottesdienst.
Es gilt der Slogan: Smart people pray.
An die siebzig universitäre
Einrichtungen, die sich mit Fragen der Spiritualität beschäftigen,
existieren in den Vereinigten Staaten. Dementsprechend ist die Medizin
trotz der Hochtechnisierung wesentlich stärker spirituell geprägt
als bei uns. Dass Ärzte ihren Patienten anbieten, mit ihnen
gemeinsam zu beten, ist in den USA keine Seltenheit, in Deutschland jedoch
kaum denkbar. Immerhin beten, so eine deutsche Studie, 20% der befragten
deutschen Psychoanalytiker für ihre Patienten. [23]
Religiosität und
negative gesundheitliche Effekte
Können Religiosität
und Spiritualität aber auch unerwünschte gesundheitliche Effekte
entfalten?
Tönung und Qualität
der Gottesbeziehung entscheidet über die Auswirkungen. Der amerikanische
Religionspsychologe Pargament unterscheidet zwischen den "bitteren und
süßen" Auswirkungen von Religiosität. Er schrieb vor kurzem:
"Während eine verinnerlichte, überzeugungsgeleitete Religion,
die auf einer vertrauensvollen Gottesbeziehung beruht, sich positiv auf
das seelische Wohlbefinden auswirkt, beeinträchtigt eine rein anerzogene
und unreflektierte Religion sowie eine schwach ausgeprägte Gottesbeziehung
das Wohlbefinden." [24]
Ein negatives Gottesbild
und eine von Angst ("Gottes Zorn") geprägte Religiosität, ein
strafender Gott und sozialer Druck wirken sich nachteilig auf die Lebensqualität
aus, wie dies zahlreiche Studien belegen. [25]
Allport hat schon 1950 zwischen
extrinsischer
und intrinsischer Religion unterschieden. [26] Extrinsische Religion
ist durch von außen auferlegte oder erzwungene Verhaltensmuster gekennzeichnet,
während intrinsische Religion das Ausüben von Religion aus eigenem
Antrieb und Bedürfnis meint. Günstige gesundheitliche Auswirkungen
sind nur von intrinsischer Religiosität zu erwarten, während
extrinsisch religiös orientierte Menschen zum Beispiel verstärkt
zu Depressionen neigen. [27]
Im spirituellen Erlebnis
wird jener Ort erreicht, so Monika Renz, "wo das nackte Ich sich von einem
Unfassbaren berührt bis überwältigt erfährt". Dieses
Ergriffensein kann natürlich auch erschreckend und bedrohlich imponieren.
Es ist möglich, worauf Walach hingewiesen hat, dass es dann zu Erfahrungen
kommt, die mit "Dekonstruktion und Ichauflösung" beschreibbar sind
("mein Weltbild zerbröckelt"), ja sogar an psychopathologisch-psychiatrische
Erfahrungen grenzen.
Arzt - Patient - Spiritualität
Es ist sicher, dass auch
in Deutschland die spirituellen Bedürfnisse, Erfahrungen und Nöte
schwerkranker Patienten größer sind, als der klinische Routinebetrieb
dies vermuten läßt.
In einer neuen Untersuchung
haben Büssing und Ostermann vom Institut für Medizintheorie und
Komplementärmedizin der Universität Witten/Herdecke an Krebspatienten
(n=126) zeigen können, dass die meisten (86%) von ihnen sich mit der
Sinnfrage auseinandersetzen und rund die Hälfte (52%) sich mit spirituellen
Fragen beschäftigt. [28]
Patienten artikulieren ihre
spirituellen Bedürfnisse allerdings selten spontan und so gut wie
gar nicht im Beisein anderer. [29]
Murray hat bei sterbenskranken
Krebs- und Herzpatienten diesen Widerstand gegen eine Thematisierung spiritueller
Inhalte beschrieben, aber auch, wie die Ablehnung im Verlauf einer vertieften
Beziehung abnahm und die Kranken fähig wurden, auch über diese
Bedürfnisse zu sprechen. [30]
Die Wahrnehmung von Spiritualität
setzt von Seiten des Arztes/Therapeuten eine gewisse Sensibilität
voraus. Diese bildet quasi das Nadelöhr für den Zugang zur spirituellen
Welt des Patienten.
Das Ernstnehmen spiritueller
Nöte setzt allerdings eine Beziehung zwischen Arzt und Patient voraus,
die mehr ist, als das so genannte "technische oder Konsumentenmodell",
wonach Ärzte als technische Experten fungieren, die ihren Patienten
fachliche Informationen als Entscheidungsgrundlage bieten, mehr aber auch
nicht. [31]
Die spirituelle Anamnese
Ganz pragmatisch stellt sich
die Frage, wie die Spiritualität von Patienten erfasst werden kann.
Weber und Frick haben ein
mnemotechnisch gestütztes Fragenkonzept ("Spir") zur Erfassung spirituelle
Bedürfnisse entwickelt das auch versucht, das auch die Rolle des Arztes
mit einbezieht [32]:
-
Spirituelle und Glaubens-Überzeugungen
des Patienten?
-
Platz und Einfluss, den
diese Überzeugungen im Leben des Patienten einnehmen?
-
Integration in eine spirituelle,
religiöse, kirchliche Gemeinschaft/Gruppe?
-
Rolle des Arztes: Wie
soll der Arzt mit spirituellen Erwartungen und Problemen des Patienten
umgehen?
Von Christina Puchalski [33]
stammt ein differenzierteres, gut strukturiertes Fragenkonzept zur Erhebung
einer spirituellen Anamnese. Folgende Fragen sind danach gut geeignet,
die spirituellen Ressourcen von Patienten zu erfassen:
Spiritualität
-
In wen oder in was setzen Sie
Ihre Hoffnung? Woraus schöpfen Sie Kraft?
-
Gibt es etwas, das Ihrem Leben
einen Sinn verleiht?
-
Welche Glaubensüberzeugungen
sind für Sie wichtig?
-
Betrachten Sie sich als spirituellen
oder religiösen Menschen?
Diese Fragen sollen natürlich
nur den Rahmen für das spirituelle Gespräch abstecken und nicht
als "Fragenkorsett" gehandhabt werden. Sinn und Wirkung können Sie
nur entfalten, wenn es der Therapeut als entscheidendes komplementäres
Verhalten versteht, aktiv zuzuhören. [34]
Die Annäherung
Ärzten mit geringer
oder fehlender spiritueller Ausrichtung kann dieses Neuland Angst machen.
Aber zunächst genügt es schon, sich mit der Einsicht auseinanderzusetzen,
dass es zur ärztlichen Grundhaltung gehört, spirituelle
Nöte von Patienten genau so ernst zunehmen wie körperliche, seelische
oder soziale Probleme.
Manchmal ist diese Aufgabenstellung
weniger komplex als befürchtet. Es zeigt sich immer wieder, dass es
zunächst schon genügen kann, die spirituelle Anamnese aufzunehmen.
Das Sprechen über eine spirituelle Krise ist möglicherweise bereits
der erste Schritt zur Krisenbewältigung.
Wahrscheinlich ist es nicht
einmal erforderlich, dass spirituelle Begriffe oder der Name "Gott" auftauchen.
So heißt es schon in der Bhagavadgita, einem altindischen religiösen
Lehrgedicht: Gleich, mit welchem Namen du mich rufen magst, immer bin
ich es, der antworten wird."
Unbegreifliche Heilung
Jede Heilung, auch wenn wir
glauben, sie in einem linearen Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang zu verstehen,
bleibt bei genauer Betrachtung immer etwas Unbegreifliches. [35] Welcher
Anteil daran im Einzelfall spirituellen Phänomenen zuzurechnen ist,
wird sich kaum exakt bestimmen lassen.
Spirituelle Erfahrungen sind
nicht zu erzwingen. Religion und Spiritualität lassen sich therapeutisch
nicht instrumentalisieren oder gar "verordnen". "Spiritualität und
Absicht vertragen sich nicht" schreibt Monika Renz. "Spiritualität
ist Berührung mit einer andersartigen Realität, zu der man Ja
oder Nein sagen kann." Spirituelle Erfahrungen sind letztlich ein Geschenk.
[36]
Am Anfang steht die Offenheit
des Begleiters oder Therapeuten für die möglichen Wirkungen spiritueller
Erfahrungen. Der Prozess, der dann in Gang kommen kann, bezieht schließlich
beide,
Patient und Therapeut, ein.
Harold Koenig, einer der
besten Kenner der Beziehungen von Spiritualität und Medizin in den
USA, beschreibt diesen Prozess folgendermaßen:
"Ärzte, die
beginnen, sich den spirituellen Aspekten in der Krankheit ihrer Patienten
zuzuwenden, erleben manchmal das Auftauchen jenes verschütteten Gefühls
von Idealismus, dass sie seinerzeit an erster Stelle dazu bewogen
hat, Ärzte zu werden. Sie sind nicht mehr länger Techniker, die
einen physischen Körper behandeln wie ein gebrochenes Rad. So wie
Ärzte beginnen, ihre Patienten als ganze Person zu behandeln, so finden
sie sich schließlich selbst als ganze Ärzte wieder." [37]
Literatur:
[1] Grimm J, Grimm W: Deutsches
Wörterbuch. Leipzig. 1854.
Im Grimmschen Wörterbuch
heißt es: ... wir nennen die zustände eines öden predigtwesens
metaphysischer Gedanken geistlich, spirituell ...“
[2] Walach H: Spiritualität
als Ressource. Chancen und Probleme eines neuen Forschungsfeldes. EZW-Texte
181/2005. S. 17
[3] DER SPIEGEL Nr. 33 vom
15.8.05: "Eine Kirche hatte ich nie betreten“.
[4] WDR: Lebenszeichen vom
3.10.2005
[5] Weber M: Wirtschaft und
Gesellschaft. Frankfurt/Main. 2005. S. 396
[6] Zulehner PM: Globalisierung
der Weltanschauungen. EZW Materialdienst 9/2005. S. 323
[7] Habermas J: Glauben und
Wissen. Dankesrede des Friedenspreisträgers. 10.10.2001. Habermas
spricht dort von einer postsäkularen Gesellschaft, die sich auf das
"Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend
säkularisierenden Umgebung einstellt."
[8] Im Namen Gottes. Süddeutsche
Zeitung, 04.04.2002 (Feuilleton). Der Artikel nimmt Bezug auf die 2. Auflage
der World Christian Encyclopedia der amerikanischen Theologen David Barrett,
George Kurian und Todd Johnson.
[9] Gottesgenetiker. FAZ
vom 09.12.2004, Nr. 288, S. 46
[10] Nolte P: Die Rückkehr
der Religion. Ursachen, Chancen Probleme. UNIVERSITAS. 59. Jahrgang. Dezember
2004. Nummer 702. S. 1232
[11] Malraux A.: La condition
humaine. Paris 1933
[12] Walach H: aaO [2]
[13] Riesebrodt M: Die Rückkehr
der Religionen. Frankfurt/Main. 2001.
[14] Smith, R: A good death.
BMJ Volume 320, 15. Januar 2000. S. 129-130. - URL: http://bmj.com/cgi/content/full/320/7228/129
- Externer
[15] McClain, C; Rosenfeld,
B; Breitbart, W: Effect of spiritual well-being on end-of-life despair
in terminally-ill Cancer patients, Lancet 361 (2003), 1603-1607
[16] Koenig, H; M McCullough,
D Larson: Handbook of Religion and Health, New York 2001.
[17] Kendler, KS et al.:
Dimensions of religiosity and their relationship to lifetime psychiatric
and substance use disorders, American Journal of Psychiatry 1 60 (2003),
No.3, 496-503.
[18] Smith, TB; ME McCullough,
J Poll: Religiousness und Depression, Psychological Bulletin 129 (2003),
No.4, 614-636.
[19] McCullough, M.; Hoyt,
WT; Larson, DB; Koenig, HG; Thoresen, C: Religious involvement and mortality:
A meta-analytic review, Health Psychology 19 (2000), 211-222
[20] Renz M: Grenzerfahrung
Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Herder Spektrum 2003.
[21] Bösch J: Spirituelles
Heilen und Schulmedizin. Eine Wissenschaft am Neuanfang, Bern 2002, S.
137.
[22] Walach H: aaO [2]
[23] Demling JH, Wörthmüller
M, O’Connolly: Psychotherapie und Religion. Psychother Psychosom med Psychol
2001; 51:76-82
[24] Pargament K: The Bitter
and the Sweet: An Evaluation of the Costs and Benefits of Reliousness.
Psychological Inquiry 13 (3) 168-181. 2002.
[25] Pargament, KI; Brant,
CR: Religion and coping, in: HG Koenig (Ed.), Handbook of Religion and
Mental Health, San Diego 1998, 111-128
[26] Allport GW: The individual
and his religion: a psychologic interpreation. New York Macmillan. 1950.
[27] McCullough, ME; Larson,
D.: Religion and depression: a review of the literature, Twin Research
2 (1999) 126-136
[28] Büssing A, Ostermann
Th, Matthiessen PF: Spiritualität und Krankheitsumgang. Befragungsergebnisse
zu Patientenbedürfnissen. EZW-Texte Nr. 181/2005 Berlin
[29] Geisler LS: Gott im
ärztlichen Gespräch. Dialog der Gottlosen? Medizinische Klinik
90 (1995), 256-258 (Nr. 4)
[30] Murray Sa, Kendall M,
Boyd K, Woth A, Benton TF: Exploring the spiritual needs of people dying
of lung cancer or heart failure: a prospective qualitative interview study
of patients and their carers. Palliative Medicine 18 (2004), 39-45
[31] Emanuel, EJ; Emanuel,
LL: Four Models of the Physician-Patient Relationship. JAMA 267:2221-6,
1992 Übersicht z.B. unter URL: http://www.msu.edu/course/hm/546/ft1-4.htm
- Externer
[32] Weber S, Frick E: Zur
Bedeutung der Spiritualität von Patienten und Betreuern in der Onkologie.
Manual Psychoonkologie. München 2002. S. 106-109
[33] Puchalski C, Romer AL
(2000) Taking a spiritual history allows clinicians to understand patients
more fully. J Palliative Med 3: 129–137
[34] Geisler LS: Arzt und
Patient - Begegnung im Gespräch. Frankfurt/Main. 4. erweiterte Auflage.
2002 - URL: http://www.linus-geisler.de/monografien/monograf.html
- Interner
[35] Kerényi K: Der
göttliche Arzt. Hermann Gentner Verlag Darmstadt. 1956
[36] Renz M: Grenzerfahrung
Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Herder, Freiburg.
2003.
[37] Koenig HG: Spirituality
in Patient Care. Why, How, When and What. Philadelphia & London. 2002
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Linus S. Geisler: Glaube
als wichtiger Faktor für die Arzt-Patient-Beziehung |
Vortrag vom 30. Oktober
2005. 39. Medizinische Woche Baden-Baden |
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0510mw_glaube.html |
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