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Linus S. Geisler: Glaube als wichtiger Faktor für die Arzt-Patient-Beziehung. Vortrag vom 30. Oktober 2005. 39. Medizinische Woche Baden-Baden 
Glaube als wichtiger Faktor für die Arzt-Patient-Beziehung 

Linus S. Geisler
Wer die Darstellung eines tibetischen Medizin-Buddhas - beispielsweise auf einem der prächtigen Thangkas - betrachtet, erkennt, ohne dass ihm die Details verständlich sein müssen, unmittelbar die tiefe Spiritualität dieses Medizinsystems, das zu den ältesten der Welt zählt. 

Wendet sich der Betrachter dann unserem jetzigen Gesundheitssystem zu, werden ihn rasch Zweifel befallen, ob Glaube und Spiritualität in der modernen, naturwissenschaftlich geprägten Medizin, angesichts von ökonomischen Zwängen, knappen Zeitbudgets, hastigen Arzt-Patient-Begegnungen und evidenzbasierten Handlungsanleitungen überhaupt Raum finden können.

Recherchiert er mit Google im Internet unter dem Stichwort "Spiritualität", so wird er allerdings auf über 700.000 Fundstellen stoßen, die mit Spiritualität in Beziehung stehen. Im Grimmschen Wörterbuch war Spiritualität als Stichwort hingegen überhaupt nicht zu finden [1], und der Große Brockhaus vor rund einhundert Jahren (1906) gibt nur eine sehr allgemeine Definition für diesen Begriff: "das geistige Wesen, innere Leben..."

Ist Spiritualität nur eine der "neuen" Denkweisen, welche sich vor allem auf mystische Traditionen und auf "östliche" Spiritualität bezieht, ein quasi Überschwappen diffuser spiritueller Inhalte aus fernöstlichen Kulturen in die westliche Welt? Oder ist Spiritualität eine - zeitlose - wesentliche Dimension unseres Menschseins, die über das eigene Ich hinausgehende Fragen nach einer transzendentalen Ebene und dem eigentlich Sinn des Daseins stellt? [2]

Rückkehr der Religionen

Angesichts nahezu leerer Kirchen - nur fünf bis sieben Prozent der Deutschen besuchen sonntags den Gottesdienst - erscheint es dem ersten Anschein nach wenig wahrscheinlich, Kräften des Glaubens, der Religiosität und Spiritualität in unserem Land ein nennenswertes Gewicht beimessen zu können.

Schon 1967 konstatierte der SPIEGEL - nicht ohne Schadenfreude - "Deutschland ist kein christliches Land mehr", und die SPIEGEL-Ausgabe zum Besuch von Papst Benedikt XVI trug den Titel: Gläubige, verzweifelt gesucht. [3]

Die Schwarzmalerei entspricht allerdings nicht jüngsten Untersuchungsergebnissen, denn für immer mehr Deutsche gewinnt Glaube wieder an Bedeutung: Nach einer Infratest-Umfrage 2005 bezeichneten 27 Prozent der Westdeutschen ihren Glauben als"sehr wichtig" für ihr Leben. [4] Nach einer neuen Emnid-Befragung glauben bundesweit knapp zwei Drittel aller Deutschen an Gott, allerdings meist an einen "Gott ohne Gesicht".

In säkularisierten Gesellschaften scheinen regelhaft Prozesse abzulaufen, die zunächst zur "Entchristlichung", dann zur "Entkirchlichung" und schließlich durch die Rationalisierung aller Lebensbereiche zur "Entzauberung der Welt" führen, wie Max Weber es genannt hat. [5]

Aber die Frage ist, ob Menschen dauerhaft diesen "Zauber" entbehren möchten, ja können? Die Möglichkeit von Spiritualität ist strukturell im Menschen angelegt, sie erweist sich als anthropologische Konstante. Religion ist offensichtlich ein Phänomen, von dem eben jener gewisse "Zauber" ausgeht, der in säkularen Gesellschaften vermisst wird. 

Daher ist das Phänomen boomender Sehnsucht bei schrumpfenden Kirchen, wenn diese die spirituellen Bedürfnisse von Menschen nicht mehr stillen können, kein paradoxes Geschehen. Und so wächst aus "moderner Säkularität moderne Spiritualität" [6]. Säkulare Philosophen wie Habermas anerkennen die Wertebildung der Religion für eine harmonische Gesellschaft, auch wenn sie persönlich nicht religiös sind. [7] 

Alle philosophischen, psychologischen und soziologischen Erkenntnisse und Erklärungen haben es daher bisher nicht vermocht, das Phänomen Religion aus der Welt zu schaffen. Selbst in einem erzkommunistischen und atheistischen Land wie Vietnam wird in jüngster Zeit eine Neubelebung von Religionen wie Buddhismus und Christentum beobachtet, ähnliches gilt für China.

Nach Forschungsergebnissen von NRM (New Religious Movement), hat die Zahl der Religionen und der Gläubigen im 20. Jahrhundert erheblich zugenommen. [8] Nicht nur das Erstarken des Islam in seiner fundamentalistischen Ausprägung, sondern auch das Gefühl einer universellen terroristischen Bedrohung nach dem 11. September 2001, Naturkatastrophen bisher ungeahnten Ausmaßes, das immer neue Auftauchen bisher unbekannter ethischer Probleme (Embryonenforschung, Klonen, genetische Manipulation) mögen weitere Triebfedern einer religiösen Neubesinnung in der westlichen Welt bilden. 

Sogar die Molekularbiologie versucht sich mit dem Phänomen der Spiritualität auseinanderzusetzen. So kommt der Verhaltensgenetiker Dean Hamer in seinem umstrittenen Buch "Das Gottes-Gen" aufgrund so genannter "Spiritualitätstests" zu dem Ergebnis, dass spirituelle Menschen auffallend oft eine gemeinsame "Spiritualitätsvariante" des VMAT2-Gens besitzen und er folgert, diese Variante müsse auch im Erbgut von Buddha, Jesus und Mohammed vorhanden gewesen sein [9].

Religionen werden zum Fluchtpunkt, in dem sich Fragen an das Selbstverständnis des Menschen und an die Spielregeln des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert bündeln. [10] 

Insofern hatte André Malraux vorausschauend recht, als er in seinen Werk So lebt der Mensch 1933 schrieb:"Das einundzwanzigste Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein." [11]

Der Mensch sei "unheilbar religiös" hat der russische Religionsphilosoph Nikolai A. Berdjajew konstatiert, ein "Befund", der sich nur zeitweise verdecken läßt, um dann, je nach den soziokulturellen Szenarien, immer wieder hervorzubrechen. 

Spirituelle Sehnsucht gehört zu Conditio humana. Das Bedürfnis des Menschen, sich in einem größeren Sinnganzen zu verstehen, erfährt vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass auch eine hochtechnisierte Medizin seine Sterblichkeit nicht überwinden kann, neuen Auftrieb und könnte eine spirituelle Neubelebung der Medizin einleiten.

Was ist Spiritualität?

Der Spiritualitätsbegriff wird nicht selten unscharf und zu allgemein definiert. Soll er nicht als "Container" für unterschiedlichste religiös, esoterisch oder sonst wie gefärbte Empfindungen oder Erlebnisse missbraucht werden, ist eine klare Begriffsbestimmung nötig.

Harald Walach, einer der herausragenden deutschen Forscher auf dem Gebiet der Spiritualität hat deutlich gemacht, dass Spiritualität im Wesentlichen eine bestimmte Erfahrung bedeutet, nämlich, die erfahrungsmäßige Erkenntnis einer transzendenten, das individuelle Ich übersteigenden Wirklichkeit. [12]

Religionen vermitteln Regeln und Normen, welche die Interaktion zwischen Menschen und übermenschlichen Mächten sowie den Diskurs über die Natur dieser Mächte strukturieren. [13]

Entscheidend ist: Spiritualität kann sich als Ressource mit therapeutischem Effekt erweisen.

Spirituelle Begleitung zählt zu den vordringlichen Bedürfnissen todkranker Menschen auf dem Weg zu einem "guten Tod". [14] Für Palliativmedizin und Hospizarbeit gilt Spiritualität als tragende Säule. So kann es als gesichert gelten, dass spirituelles Wohlbefinden (spiritual well-being) der wichtigste Faktor für die Lebensqualität von Patienten mit Krebs im Endstadium ist. [15]

Vor allem in der angelsächsischen Literatur findet sich eine Vielzahl von Belegen für die positive Bedeutung von Spiritualität und Religiosität für Krankheitsbewältigung, den Verlauf körperlicher und seelischer Krankheiten und die Lebensqualität von Kranken. 

Hier einige der neuen diesbezüglichen Studien und Meta-Analysen: 

Somatische Erkrankungen
Koenig und Mitarbeiter zitieren im Handbuch für Religion und Gesundheit über 1200 amerikanische Studien, die belegen, dass zwischen körperlicher Gesundheit und persönlichen Glauben ein positiver statistischer Zusammenhang besteht, den man kausal interpretieren kann. Wer glaubt, ist gesünder, verfügt über mehr Bewältigungsstrategien, genießt eine höhere Lebenszufriedenheit und sogar eine höhere Lebenserwartung. [16]

Psychische Störungen
2616 Zwillinge wurden zum Ausmaß ihrer Religiosität und zu psychischen Störungen befragt. Es wurden sieben Dimensionen der Religiosität identifiziert (generelle und soziale Religiosität, Vatergott, Richtergott, Vergebung, Dankbarkeit, Versöhnungsbereitschaft). Dabei zeigte sich, dass bestimmte religiöse Faktoren mit einem geringeren Risiko für Angst- und Panikstörungen sowie für Suchterkrankungen verbunden waren. [17]

Psychische Erkrankungen
In einer Meta-Analyse von 147 Studien mit insgesamt knapp 100.000 Personen (n= 98.975) zum Zusammenhang zwischen Religiosität und Depressivität zeigte sich, dass stärker ausgeprägte Religiosität mit weniger depressiven Symptomen einhergeht. Dieser Befund trat unabhängig von Alter, Geschlecht oder ethnischer Gruppe der untersuchten Personen ein. [18]

Religion und Lebenserwartung
In einer Meta-Analyse (29 unabhängige Untersuchungen an 126.000 Personen) wurde die Fragestellung untersucht, ob Teilnahme an religiösen Aktivitäten mit verringerter Sterblichkeit einhergeht. Das Resultat: Religiöses Engagement ist mit einer deutlich längeren Lebensdauer verbunden. [19]

Die Schweizer Musik- und Psychotherapeutin Monika Renz, Leiterin der Psychoonkologie am Kantonsspital St Gallen, hat in ihren Untersuchungen zeigen können, dass bei Krebspatienten und anderen Schwerkranken in etwa der Hälfte der Fälle spirituelle Erlebnisse und Erfahrungen vorkommen, die zu einer Linderung körperlicher Symptome und einer versöhnteren Beziehung zur Krankheit beitragen können. Monika Renz hat diese Ergebnisse in ihrem beeindruckenden Buch "Grenzerfahrung Gott" niedergelegt. [20]

Freilich bleibt kritisch zu fragen, was solche Studien tatsächlich aussagen. Können selbst methodisch einwandfreie Arbeiten nicht doch nur Zusammenhänge beschreiben, die auf dem Hintergrund eines materialistischen Weltbildes erklärbar sind? Werden nicht wesentliche Wirkprinzipien durch ein solches Vorgehen vielleicht sogar eher verschleiert als enthüllt und Gott in doppelblinden, kontrollierten Studien "zum Helfer des vordergründigen Körper-Reparaturbetriebs gemacht"? [21]

Einen ganz neuen Aspekt in dem Wirkgefüge von Glaube, Spiritualität und Gesundheit haben Walach und Kohls mit ihren Forschungsergebnissen verdeutlicht. Sie konnten zeigen, dass spirituelles Nichtpraktizieren einen bislang unterschätzten Risikofaktor für psychische Belastungssymptome darstellt. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass spirituelle Erfahrung einen protektiven Einfluss gegenüber psychischen Belastungen ausüben kann. Regelmäßiges spirituelles Üben, so Walach, gehört damit eigentlich genauso in das Arsenal gesundheitsbewusster Verhaltensweisen wie regelmäßige körperliche Aktivität. [22]

Gods own country

US-amerikanische Verhältnisse können, was Religiosität und Spiritualität angeht, freilich nicht unkritisch auf europäische Gesellschaften übertragen werden. Die US-Amerikaner erscheinen häufig als ein besonders religiöses Volk. Sie leben schließlich in gods own country. Je nach Untersuchung glauben bis zu 95% an Gott. Der überwiegende Teil gibt an, täglich bis wöchentlich zu beten. 85% besuchen sonntags einen Gottesdienst. Es gilt der Slogan: Smart people pray.

An die siebzig universitäre Einrichtungen, die sich mit Fragen der Spiritualität beschäftigen, existieren in den Vereinigten Staaten. Dementsprechend ist die Medizin trotz der Hochtechnisierung wesentlich stärker spirituell geprägt als bei uns. Dass Ärzte ihren Patienten anbieten, mit ihnen gemeinsam zu beten, ist in den USA keine Seltenheit, in Deutschland jedoch kaum denkbar. Immerhin beten, so eine deutsche Studie, 20% der befragten deutschen Psychoanalytiker für ihre Patienten. [23]

Religiosität und negative gesundheitliche Effekte

Können Religiosität und Spiritualität aber auch unerwünschte gesundheitliche Effekte entfalten?

Tönung und Qualität der Gottesbeziehung entscheidet über die Auswirkungen. Der amerikanische Religionspsychologe Pargament unterscheidet zwischen den "bitteren und süßen" Auswirkungen von Religiosität. Er schrieb vor kurzem: "Während eine verinnerlichte, überzeugungsgeleitete Religion, die auf einer vertrauensvollen Gottesbeziehung beruht, sich positiv auf das seelische Wohlbefinden auswirkt, beeinträchtigt eine rein anerzogene und unreflektierte Religion sowie eine schwach ausgeprägte Gottesbeziehung das Wohlbefinden." [24]

Ein negatives Gottesbild und eine von Angst ("Gottes Zorn") geprägte Religiosität, ein strafender Gott und sozialer Druck wirken sich nachteilig auf die Lebensqualität aus, wie dies zahlreiche Studien belegen. [25]

Allport hat schon 1950 zwischen extrinsischer und intrinsischer Religion unterschieden. [26] Extrinsische Religion ist durch von außen auferlegte oder erzwungene Verhaltensmuster gekennzeichnet, während intrinsische Religion das Ausüben von Religion aus eigenem Antrieb und Bedürfnis meint. Günstige gesundheitliche Auswirkungen sind nur von intrinsischer Religiosität zu erwarten, während extrinsisch religiös orientierte Menschen zum Beispiel verstärkt zu Depressionen neigen. [27]

Im spirituellen Erlebnis wird jener Ort erreicht, so Monika Renz, "wo das nackte Ich sich von einem Unfassbaren berührt bis überwältigt erfährt". Dieses Ergriffensein kann natürlich auch erschreckend und bedrohlich imponieren. Es ist möglich, worauf Walach hingewiesen hat, dass es dann zu Erfahrungen kommt, die mit "Dekonstruktion und Ichauflösung" beschreibbar sind ("mein Weltbild zerbröckelt"), ja sogar an psychopathologisch-psychiatrische Erfahrungen grenzen. 

Arzt - Patient - Spiritualität

Es ist sicher, dass auch in Deutschland die spirituellen Bedürfnisse, Erfahrungen und Nöte schwerkranker Patienten größer sind, als der klinische Routinebetrieb dies vermuten läßt. 

In einer neuen Untersuchung haben Büssing und Ostermann vom Institut für Medizintheorie und Komplementärmedizin der Universität Witten/Herdecke an Krebspatienten (n=126) zeigen können, dass die meisten (86%) von ihnen sich mit der Sinnfrage auseinandersetzen und rund die Hälfte (52%) sich mit spirituellen Fragen beschäftigt. [28]

Patienten artikulieren ihre spirituellen Bedürfnisse allerdings selten spontan und so gut wie gar nicht im Beisein anderer. [29]

Murray hat bei sterbenskranken Krebs- und Herzpatienten diesen Widerstand gegen eine Thematisierung spiritueller Inhalte beschrieben, aber auch, wie die Ablehnung im Verlauf einer vertieften Beziehung abnahm und die Kranken fähig wurden, auch über diese Bedürfnisse zu sprechen. [30]

Die Wahrnehmung von Spiritualität setzt von Seiten des Arztes/Therapeuten eine gewisse Sensibilität voraus. Diese bildet quasi das Nadelöhr für den Zugang zur spirituellen Welt des Patienten. 

Das Ernstnehmen spiritueller Nöte setzt allerdings eine Beziehung zwischen Arzt und Patient voraus, die mehr ist, als das so genannte "technische oder Konsumentenmodell", wonach Ärzte als technische Experten fungieren, die ihren Patienten fachliche Informationen als Entscheidungsgrundlage bieten, mehr aber auch nicht. [31]

Die spirituelle Anamnese

Ganz pragmatisch stellt sich die Frage, wie die Spiritualität von Patienten erfasst werden kann. 

Weber und Frick haben ein mnemotechnisch gestütztes Fragenkonzept ("Spir") zur Erfassung spirituelle Bedürfnisse entwickelt das auch versucht, das auch die Rolle des Arztes mit einbezieht [32]:

  • Spirituelle und Glaubens-Überzeugungen des Patienten?
  • Platz und Einfluss, den diese Überzeugungen im Leben des Patienten einnehmen?
  • Integration in eine spirituelle, religiöse, kirchliche Gemeinschaft/Gruppe?
  • Rolle des Arztes: Wie soll der Arzt mit spirituellen Erwartungen und Problemen des Patienten umgehen?
Von Christina Puchalski [33] stammt ein differenzierteres, gut strukturiertes Fragenkonzept zur Erhebung einer spirituellen Anamnese. Folgende Fragen sind danach gut geeignet, die spirituellen Ressourcen von Patienten zu erfassen:
Spiritualität
  • In wen oder in was setzen Sie Ihre Hoffnung? Woraus schöpfen Sie Kraft
  • Gibt es etwas, das Ihrem Leben einen Sinn verleiht? 
  • Welche Glaubensüberzeugungen sind für Sie wichtig? 
  • Betrachten Sie sich als spirituellen oder religiösen Menschen?
Diese Fragen sollen natürlich nur den Rahmen für das spirituelle Gespräch abstecken und nicht als "Fragenkorsett" gehandhabt werden. Sinn und Wirkung können Sie nur entfalten, wenn es der Therapeut als entscheidendes komplementäres Verhalten versteht, aktiv zuzuhören. [34]

Die Annäherung

Ärzten mit geringer oder fehlender spiritueller Ausrichtung kann dieses Neuland Angst machen. Aber zunächst genügt es schon, sich mit der Einsicht auseinanderzusetzen, dass es zur ärztlichen Grundhaltung gehört, spirituelle Nöte von Patienten genau so ernst zunehmen wie körperliche, seelische oder soziale Probleme. 

Manchmal ist diese Aufgabenstellung weniger komplex als befürchtet. Es zeigt sich immer wieder, dass es zunächst schon genügen kann, die spirituelle Anamnese aufzunehmen. Das Sprechen über eine spirituelle Krise ist möglicherweise bereits der erste Schritt zur Krisenbewältigung. 

Wahrscheinlich ist es nicht einmal erforderlich, dass spirituelle Begriffe oder der Name "Gott" auftauchen. So heißt es schon in der Bhagavadgita, einem altindischen religiösen Lehrgedicht: Gleich, mit welchem Namen du mich rufen magst, immer bin ich es, der antworten wird." 

Unbegreifliche Heilung

Jede Heilung, auch wenn wir glauben, sie in einem linearen Ursachen-Wirkungs-Zusammenhang zu verstehen, bleibt bei genauer Betrachtung immer etwas Unbegreifliches. [35] Welcher Anteil daran im Einzelfall spirituellen Phänomenen zuzurechnen ist, wird sich kaum exakt bestimmen lassen. 

Spirituelle Erfahrungen sind nicht zu erzwingen. Religion und Spiritualität lassen sich therapeutisch nicht instrumentalisieren oder gar "verordnen". "Spiritualität und Absicht vertragen sich nicht" schreibt Monika Renz. "Spiritualität ist Berührung mit einer andersartigen Realität, zu der man Ja oder Nein sagen kann." Spirituelle Erfahrungen sind letztlich ein Geschenk. [36]

Am Anfang steht die Offenheit des Begleiters oder Therapeuten für die möglichen Wirkungen spiritueller Erfahrungen. Der Prozess, der dann in Gang kommen kann, bezieht schließlich beide, Patient und Therapeut, ein. 

Harold Koenig, einer der besten Kenner der Beziehungen von Spiritualität und Medizin in den USA, beschreibt diesen Prozess folgendermaßen:

"Ärzte, die beginnen, sich den spirituellen Aspekten in der Krankheit ihrer Patienten zuzuwenden, erleben manchmal das Auftauchen jenes verschütteten Gefühls von Idealismus, dass sie seinerzeit an erster Stelle dazu bewogen hat, Ärzte zu werden. Sie sind nicht mehr länger Techniker, die einen physischen Körper behandeln wie ein gebrochenes Rad. So wie Ärzte beginnen, ihre Patienten als ganze Person zu behandeln, so finden sie sich schließlich selbst als ganze Ärzte wieder." [37]

Literatur:

[1] Grimm J, Grimm W: Deutsches Wörterbuch. Leipzig. 1854. 
Im Grimmschen Wörterbuch heißt es: ... wir nennen die zustände eines öden predigtwesens metaphysischer Gedanken geistlich, spirituell ...“ 

[2] Walach H: Spiritualität als Ressource. Chancen und Probleme eines neuen Forschungsfeldes. EZW-Texte 181/2005. S. 17

[3] DER SPIEGEL Nr. 33 vom 15.8.05: "Eine Kirche hatte ich nie betreten“.

[4] WDR: Lebenszeichen vom 3.10.2005

[5] Weber M: Wirtschaft und Gesellschaft. Frankfurt/Main. 2005. S. 396

[6] Zulehner PM: Globalisierung der Weltanschauungen. EZW Materialdienst 9/2005. S. 323

[7] Habermas J: Glauben und Wissen. Dankesrede des Friedenspreisträgers. 10.10.2001. Habermas spricht dort von einer postsäkularen Gesellschaft, die sich auf das "Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt." 

[8] Im Namen Gottes. Süddeutsche Zeitung, 04.04.2002 (Feuilleton). Der Artikel nimmt Bezug auf die 2. Auflage der World Christian Encyclopedia der amerikanischen Theologen David Barrett, George Kurian und Todd Johnson.

[9] Gottesgenetiker. FAZ vom 09.12.2004, Nr. 288, S. 46

[10] Nolte P: Die Rückkehr der Religion. Ursachen, Chancen Probleme. UNIVERSITAS. 59. Jahrgang. Dezember 2004. Nummer 702. S. 1232

[11] Malraux A.: La condition humaine. Paris 1933

[12] Walach H: aaO [2]

[13] Riesebrodt M: Die Rückkehr der Religionen. Frankfurt/Main. 2001.

[14] Smith, R: A good death. BMJ Volume 320, 15. Januar 2000. S. 129-130. -  URL: http://bmj.com/cgi/content/full/320/7228/129   - Externer Externer Link

[15] McClain, C; Rosenfeld, B; Breitbart, W: Effect of spiritual well-being on end-of-life despair in terminally-ill Cancer patients, Lancet 361 (2003), 1603-1607

[16] Koenig, H; M McCullough, D Larson: Handbook of Religion and Health, New York 2001.

[17] Kendler, KS et al.: Dimensions of religiosity and their relationship to lifetime psychiatric and substance use disorders, American Journal of Psychiatry 1 60 (2003), No.3, 496-503.

[18] Smith, TB; ME McCullough, J Poll: Religiousness und Depression, Psychological Bulletin 129 (2003), No.4, 614-636.

[19] McCullough, M.; Hoyt, WT; Larson, DB; Koenig, HG; Thoresen, C: Religious involvement and mortality: A meta-analytic review, Health Psychology 19 (2000), 211-222

[20] Renz M: Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Herder Spektrum 2003.

[21] Bösch J: Spirituelles Heilen und Schulmedizin. Eine Wissenschaft am Neuanfang, Bern 2002, S. 137.

[22] Walach H: aaO [2]

[23] Demling JH, Wörthmüller M, O’Connolly: Psychotherapie und Religion. Psychother Psychosom med Psychol 2001; 51:76-82

[24] Pargament K: The Bitter and the Sweet: An Evaluation of the Costs and Benefits of Reliousness. Psychological Inquiry 13 (3) 168-181. 2002.

[25] Pargament, KI; Brant, CR: Religion and coping, in: HG Koenig (Ed.), Handbook of Religion and Mental Health, San Diego 1998, 111-128

[26] Allport GW: The individual and his religion: a psychologic interpreation. New York Macmillan. 1950.

[27] McCullough, ME; Larson, D.: Religion and depression: a review of the literature, Twin Research 2 (1999) 126-136

[28] Büssing A, Ostermann Th, Matthiessen PF: Spiritualität und Krankheitsumgang. Befragungsergebnisse zu Patientenbedürfnissen. EZW-Texte Nr. 181/2005 Berlin

[29] Geisler LS: Gott im ärztlichen Gespräch. Dialog der Gottlosen? Medizinische Klinik 90 (1995), 256-258 (Nr. 4)

[30] Murray Sa, Kendall M, Boyd K, Woth A, Benton TF: Exploring the spiritual needs of people dying of lung cancer or heart failure: a prospective qualitative interview study of patients and their carers. Palliative Medicine 18 (2004), 39-45

[31] Emanuel,  EJ; Emanuel, LL: Four Models of the Physician-Patient Relationship. JAMA 267:2221-6, 1992 Übersicht z.B. unter URL: http://www.msu.edu/course/hm/546/ft1-4.htm   - Externer Externer Link

[32] Weber S, Frick E: Zur Bedeutung der Spiritualität von Patienten und Betreuern in der Onkologie. Manual Psychoonkologie. München 2002. S. 106-109

[33] Puchalski C, Romer AL (2000) Taking a spiritual history allows clinicians to understand patients more fully. J Palliative Med 3: 129–137

[34] Geisler LS: Arzt und Patient - Begegnung im Gespräch. Frankfurt/Main. 4. erweiterte Auflage. 2002  - URL: http://www.linus-geisler.de/monografien/monograf.html   - Interner Interner Link

[35] Kerényi K: Der göttliche Arzt. Hermann Gentner Verlag Darmstadt. 1956

[36] Renz M: Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Herder, Freiburg. 2003.

[37] Koenig HG: Spirituality in Patient Care. Why, How, When and What. Philadelphia & London. 2002
 


Linus S. Geisler: Glaube als wichtiger Faktor für die Arzt-Patient-Beziehung
Vortrag vom 30. Oktober 2005. 39. Medizinische Woche Baden-Baden
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