Start  <  Vorträge  <  Linus S. Geisler: DER MENSCH ALS GLÄSERNER PATIENT
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Referat anlässlich der 4. Fachtagung "Gesund in eigener Verantwortung? Patientenrechte in der Diskussion" am 28. und 29. September 2001, Dresden. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum in Zusammenarbeit mit der DKV Deutsche Krankenversicherung AG.
Der Mensch als gläserner Patient

Linus S. Geisler
Jeder fünfte Deutsche würde seine Krankheitsveranlagung genetisch testen lassen. Dies belegt eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, das im Auftrag des Deutschen Studienpreises 1.137 Bürger ab 16 Jahren befragte. [1 Externer Link

Die Anzahl der durch zytogenetische und molekulargenetische Untersuchungen diagnostizierbaren Erkrankungen und Erkrankungsdispositionen nimmt ständig zu.

Die im so genannten McKusick-Katalog OMIM ("Online Mendelian Inheritance in Man") verzeichneten Krankheitsbilder, für die genetischen Ursachen bekannt sind, verdoppelte sich im Zeitraum von 1992 bis 1998. [2 Externer Link]

Alleine die Datenflut die durch rund 80 000 vorgeburtliche Untersuchungen jährlich in Deutschland anfällt, ist beträchtlich. Die DNA-Chip-Technologie lässt erwarten, dass in fünf oder zehn Jahren Techniken verfügbar sein werden, die jedes medizinische Labor in die Lage versetzen, aus einer Blut- oder Chorionzottenprobe eine nahezu beliebige Zahl von Genomabschnitten auf Abweichungen von DNA-Standardsequenzen zu überprüfen. Und dies alles zu einem Bruchteil der heutigen Analysekosten. Möglichweise werden Protein-Chips das diagnostische Spektrum noch erweitern [3].

Zu fragen ist freilich: Verdient die genetische Diagnose immer den Namen "Diagnose"? Ist, wenn keine Therapie und keine Prävention zur Verfügung stehen, die genetische Diagnose nicht lediglich ein "molekularbiologischer Befund"? Manches spricht gegen diese Annahme. Denn es gibt wahrscheinlich keine Diagnose ohne Veränderung des Leiblichkeitsbewusstseins.

Besonderheiten der genetischen Information

Genetische Informationen weisen eine Reihe von Besonderheiten auf:

  • Die Voraussagekraft erstreckt sich über lange Zeiträume,
  • Die Informationen besitzen erhebliche Bedeutung für reproduktive Entscheidungen,
  • Sie können das gesundheitliche Verhalten und die Lebensplanung des Getesteten wesentlich bestimmen,
  • Für positiv getestete, aber (noch) nicht erkrankte Probanden entsteht ein psychologisch belastender Schwebezustand zwischen Gesundheit und Krankheit 
  • Sie besitzen das Potential zu sozialer Diskriminierung und Stigmatisierung (Arbeitsplatz, Versicherungswesen, Familienbildung)
  • Gentests greifen in den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ein und 
  • Sie beinhalten Implikationen auch für Verwandte.
Problemschwerpunkte der genetischen Diagnostik, auf die hier näher eingegangen werden soll sind:
  • Persönlichkeitsrechte, informationelle Selbstbestimmung, das Recht auf Wissen und Nicht-Wissen
  • Qualifizierte Beratung und
  • Arztvorbehalt
Zytogenetische und molekulargenetische Untersuchungsverfahren

Gentests können mit unterschiedlichen Zielsetzungen eingesetzt werden und zu unterschiedlich validen Aussagen führen:

  • Diagnostische Gentests (Diagnosesicherung bei einer bereits klinisch manifesten erblichen Erkrankung)
  • Prädiktive Gentests (Feststellung von Dispositionen für eine Erkrankung vor deren Ausbruch). Positiv Getestete, die noch ohne Symptome sind, geraten so zu sagen in ein Niemandsland zwischen Gesundheit und Krankheit, belastet mit einer Art "vergiftetem Wissen" [4 Interner Link].
Tests, mit denen Genveränderungen diagnostiziert werden, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im späteren Leben zum Auftreten einer Erkrankung führen, werden auch prädiktiv-deterministische Tests genannt. Dies gilt zum Beispiel für die Chorea Huntington. Allerdings beruht auch die maximale Vorhersagbarkeit der Chorea Huntington bislang nur auf statistischen Daten, da der kausale Wirkungszusammenhang dieser Erkrankung bis heute nicht aufgeklärt ist. [5]

Prädiktiv-probabilistische Tests identifizieren demgegenüber genetische Veränderungen mit – teilweise weit – geringerer Penetranz. Prädiktiv-probabilistische Tests erlauben daher auch nur individuelle Prognosen über die mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Erkrankung im späteren Leben. Grundsätzlich gilt dabei, dass die Prognose um so ungenauer ausfallen wird, je komplizierter die vorherzusagende Eigenschaft ist. 

  • Pränatale Diagnostik
  • Präimplantationsdiagnostik (PID)
  • Präkonzeptionelle Diagnostik (Polkörperchen)
  • Genetisches Screening
  • Pharmakogenetische Diagnostik
Der Nachweis der "Brustkrebs-Gene" BRCA1- und BRCA2-Mutationen stellt beispielsweise hinsichtlich der assoziierten Krebsrisiken einen prädiktiv-probabilistischen Test dar (Tabelle von Ries et al 1998 im Anhang).

Recht auf Wissen - Recht auf Nichtwissen

Aus dem Selbstbestimmungsrecht und mittelbar aus der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes (Art. 2 Abs 1 i.V.m. Artikel 1, Abs 1 GG) ergibt sich das Recht eines Menschen, ihn selbst betreffende Informationen über seinen Gesundheitszustand und über seine genetische Konstitution zu kennen und Handlungs- bzw. Lebenspläne in Kenntnis dieser Informationen zu entwerfen und zu verfolgen. 

Einschränkungen dieses Rechts auf Wissen sind grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig. Es findet seine Grenzen insbesondere dort, wo dadurch Persönlichkeitsrechte anderer berührt werden.

Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn eine genetische Untersuchung gewünscht wird, deren Ergebnis unmittelbar eine Aussage auch über den genetischen Status eines weiteren Angehörigen erlaubt. Das Recht auf Wissen steht in diesem Fall möglicherweise im Konflikt mit dem Recht auf Nichtwissen eines anderen Menschen.

National und international wird von Medizinern, Bioethikern und Juristen ein Recht auf Nichtwissen hinsichtlich der eigenen genetischen Konstitution intensiv diskutiert [6]. Keine Zweifel lassen insofern die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Diagnostik von Krebsdispositionen erkennen. Darin wird mehrfach das Recht auf Nichtwissen ohne weitere Problematisierung als gleichsam selbstverständliche Rechtsposition hervorgehoben. [7]

Inhaltlich zielt das Recht auf Nichtwissen auf den Schutz des Einzelnen davor, Kenntnisse über genetische Daten mit Aussagekraft über seine persönliche Zukunft zu erlangen, ohne dies selbst zu wollen. Auch die Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Genomanalyse" hebt hervor, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowohl ein Recht auf Kenntnis als auch ein Recht auf Unkenntnis der eigenen genetischen Konstitution umfasst. [8]

Nicht wenige Patienten weisen gegenüber der Alternative Wissen/Nichtwissen eine ambivalente Haltung auf. Typisch für dieses Gespaltensein ist die Äußerung einer Frau, die aus eine Chorea-Huntington-Familie stammt, hinsichtlich des krankmachenden Gens: "Ich möchte wissen, dass ich es nicht habe, aber ich möchte auf keinen Fall wissen, dass ich es habe." [9 Externer Link]

Nicht außer acht gelassen werden dürfen die Grenzen des Freiwilligkeits- und damit auch des Einwilligungsprinzips bei der Erhebung genetischer Daten. Verwandtschafts- und Fürsorgebeziehungen müssen angemessen berücksichtigt werden. Ebenso wenig wie Eltern, die sich aus welchen Gründen auch immer, einer Genomanalyse unterziehen, negative Erkenntnisse ihren Kindern vorenthalten können, ohne ihre Sorgfaltspflichten zu verletzen, sind Eltern mit Rücksicht auf die potentiellen Folgen für die Kinder befugt, auf eine Kenntnisnahme zu verzichten. 

Ein Problem ist auch das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Nichtwissen und der haftungsrechtlich sanktionierten ärztlichen Aufklärungspflicht. Die Gefahr der Haftung wegen eines Aufklärungsversäumnisses macht es wahrscheinlich, dass der Arzt eher dem Informationsrecht des Patienten als dessen Recht auf Nichtwissen Rechnung tragen wird. [10]

Das Recht auf Nichtwissen ist darüber hinaus auch durch den Umstand tangiert, dass genetische Daten grundsätzlich auch andere und weitere Informationen implizieren können, als zum Zeitpunkt der Durchführung des Tests bekannt waren. [11]

Über den Umgang mit genetischen Daten herrschen zwischen Experten einerseits sowie Kranken und potentiellen Patienten andererseits allerdings deutlich unterschiedliche Vorstellungen. Dies hat eine aktuelle von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem französischen Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale und von den amerikanischen National Institutes of Health geförderte internationale Studie ergeben [12]. Befragt wurden 1.400 Patienten in 19 Kliniken und genetische Beratungsstellen in den USA/Kanada, Frankreich und Deutschland. 

So befürworteten nur ein Drittel der Befragten das Recht auf Nichtwissen. Viele Patienten (Deutschland 48%, Frankreich 54%, USA/Kanada 60%) glaubten, sie hätten ein Anrecht auf jedwede genetische Testmöglichkeit solange sie bereit sind, dafür zu zahlen. Die meisten Patienten (Deutschland 88%, Frankreich 97%, USA/Kanada 93%) glaubten, sie hätten das Recht, ihre Kinder auf Erkrankungen testen zu lassen, die sich erst im späteren Erwachsenenalter manifestieren. Patienten befürworteten einen offenen Umgang mit genetischen Informationen innerhalb von Familien auch gegen den Wunsch einzelner Betroffener.

Ebenso befürworteten sie eine Einschränkung der Schweigepflicht bei der Auskunft über genetische Testergebnisse von Familienangehörigen. 

Diese internationale Befragung macht den Trend zur Einforderung von mehr individueller Autonomie bei der Entscheidung für oder gegen den Zugang zu Testangeboten deutlich, allerdings auf der Basis von soliden Informationsangeboten.

Diese Kluft zwischen Experten- und Patientenperspektive, werden künftige Empfehlungen (Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin", Nationaler Ethikrat) und gesetzliche Regelungen (Gentestgesetz - GTG) zum Umgang mit genetischen Testangeboten und Informationen zu berücksichtigen haben.

Reaktionen auf genetische Informationen

Die Reaktionen auf das Resultat eines Gentests sind nicht sicher vorherzusagen. Es ist durchaus möglich, dass sie quasi paradox ausfallen. Darauf hat C.R. Bartram am Beispiel der Chorea Huntington hingewiesen: Wenn zum Beispiel die humangenetische Diagnose negativ ausfällt, das Krankheitsgen also nicht nachweisbar ist, bekommen 30 bis 40 Prozent der Getesteten eine schwere Depression, vielleicht aus Schuldgefühl gegenüber den betroffenen Geschwistern. Dagegen sind Anlageträger nach Eröffnung der Diagnose nicht selten in euphorischer Stimmung, da sie jetzt Sicherheit haben und ihr weiteres Leben eindeutig planen können [13]. 

Dass ein humangenetischer Befund nicht automatisch Freiheit bedeutet, hat Ulrich Beck betont. In einem ZEIT-Interview sagte er: "Es gibt nicht nur Wahlfreiheit, sondern auch Wahlzwang. Eine Frau zum Beispiel, die vor der Frage steht, ob sie ihr Kind abtreiben soll, weil in der genetischen Beratung mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bestimmte Krankheitsanfälligkeiten diagnostiziert wurden, muss eine unentscheidbare Entscheidung treffen. Das ist keine neue Freiheit. Im Gegenteil: Die Freiheit der Nulloption, der Selbstbegrenzung angesichts galoppierender Unsicherheiten ist ihr zur unerreichbaren Utopie geworden." [14]

Humangenetische Beratung

Genetische Daten sind ihrer Natur nach interpretationsbedürftig, bevor sie zur Information werden können. Und sie müssen in einem Begründungskontext gestellt werden, bevor sie zu Wissen werden können [15]. Die Reduktion der genetischen Diagnostik auf eine Art "Serviceleistung" verkennt die Komplexität dieser Form von Diagnostik.

Eine möglichst umfassende Information, Aufklärung und Beratung vor Inanspruchnahme sind die Voraussetzung für eine qualifizierte Zustimmung beziehungsweise Ablehnung eines Testangebotes. 

Unter "Information" wird hier die Bereitstellung und Weitergabe von sachbezogenen Informationen verstanden, unter "Aufklärung" die Bereitstellung eines Rahmens, der eine eigene Auseinandersetzung und Bewertung ermöglicht. "Beratung" bezieht die konkrete Lebenssituation und Lebensplanung der Betroffenen mit ein und unterstützt diese bei einer emotionalen Einordnung ihrer Situation und ihrer jeweiligen Entscheidung. [16]

Von den Fachgesellschaften (national wie international) wird eine ausführliche genetische Beratung vor und nach einem Gentest als unerlässlicher Bestandteil humangenetischer Dienstleistungen angesehen. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik bezeichnet sie als "verpflichtender Rahmen für jede Art genetischer Diagnostik". [17]

Wünschenswert wäre - dies ist zum Beispiel der Vorschlag der Enquete-Kommission "Recht und Ethik der modernen Medizin" - die Etablierung eines flächendeckenden, wohnortnahen, niedrigschwelligen, umfassenden und qualitativ hochstehenden Angebots an humangenetischer und psychosozialer Beratung in Deutschland. 

Dieser Forderung steht die Realität gegenüber. In der Praxis sind qualifizierte Information, Aufklärung und Beratung in Deutschland heute nur bedingt gegeben. 1997 beispielsweise fanden rund 40% aller genetischen Diagnosen ohne Aufklärung und Beratung statt. [18]

Arztvorbehalt

Der Arztvorbehalt zielt darauf ab, dann zu greifen, wenn die genetische Information mit besonderen Gefahren verbunden sein kann. Diese können aus der Informationserhebung (Daten schwer zu ermitteln oder schwer zu interpretieren) oder der Informationsverwertung resultieren. Der Arztvorbehalt ist also ein wesentliches steuerndes Element, wenn es um Chancen und Risiken der genetischen Diagnostik geht. 

Überlegungen zum Arztvorbehalt können nicht losgelöst von dem zugrundeliegenden Gesundheitsbegriff, vom Autonomieverständnis des Probanden bzw. Patienten und vom Rollenverständnis von Patient und Arzt erfolgen.

Der Arzt wird längst nicht mehr nur als Heiler und Lebenserhalter verstanden, sondern zunehmend auch als Helfer, Begleiter und partnerschaftlicher Berater, also nicht nur als Lebensretter, sondern auch als Lebenshelfer. [19]

Es ist zu trennen zwischen Krankheit als Begriff und Krankheit als Zustand. Krankheit als Begriff dient als Instrument der Verständigung über bestimmte objektive Sachverhalte und subjektive Befindlichkeiten, vor allem zwischen Arzt und Patient. Krankheit als Zustand wird subjektiv erlitten und objektiv beschrieben. Als subjektiv erlittener Zustand sind für Krankheit die Kategorien von "wahr" oder "falsch" ohne Berechtigung [20].

Zwischen Krankheit als objektiv beschreibbarem Sachverhalt und der Selbstauslegung von Krankheit durch den Betroffenen kann sich ein weites Spannungsfeld etablieren. Darauf hat zum Beispiel Dirk Lanzerath hingewiesen [21].

Die Forderung nach einem Arztvorbehalt für die Durchführung genetischer Diagnostik zielt darauf ab, die Qualität von Beratung und Diagnose zu sichern. 

Beispielsweise hält es die Senatskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft in ihrer Stellungnahme zur Humangenomforschung für erforderlich, die Durchführung von genetischen Testverfahren nicht nur an medizinische Zwecke, sondern auch an ein Arzt-/Patientenverhältnis zu binden. [22]

Laut § 65 des österreichischen Gentechnikgesetzes [23] dürfen Genanalysen zu medizinischen Zwecken nur "auf Veranlassung eines in Humangenetik ausgebildeten Arztes oder eines für das betreffende Indikationsgebiet zuständigen Facharztes" durchgeführt werden und auch der schweizerische Gesetzentwurf zur Gendiagnostik sieht einen Arztvorbehalt für genetische Untersuchungen zu medizinischen Zwecken vor.

Hinsichtlich eines Arztvorbehaltes sind drei Optionen zu diskutieren:

  • Allgemeiner Arztvorbehalt (nur Ärztinnen und Ärzte dürfen Gentests durchführen)
  • Beschränkter Arztvorbehalt (nur bestimmte Untersuchungen sind an ein Arzt-Patientenverhältnis geknüpft)
  • Facharztvorbehalt (Befugnis und Veranlassung jeglicher Art von Gentests sind Fachärztinnen und Fachärzten vorbehalten)
Als Einwände gegen einen Arztvorbehalt werden diskutiert:
  • Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Testwilligen
  • Die Ausführung des Rechts auf Wissen von Menschen wird eingeschränkt
  • Ärztinnen und Ärzte werden berechtigt, Befunde zu erheben, die per definitionem medizinisch irrelevant sind
  • Einschränkung der Berufsfreiheit derjenigen, die genetische Analysen inklusive Beratung ohne ärztliche Approbation anbieten wollen 
Als Vorteile eines Arztvorbehaltes sind zu bewerten:
  • Beschränkung der Durchführung von Gentests auf das etablierte System der medizinischen Versorgung
  • Qualitätssicherung
  • Der Einzelne wird davor geschützt, mit den Ergebnissen von Gentests unsachgemäß umzugehen (Unterstützung der Selbstbestimmung des Individuums)
  • Daten fallen unter das Arztgeheimnis
  • Verhinderung eines "freien Testmarktes"
Die schwierige Frage, welche auf einem Gentest basierende Maßnahmen krankheitsbezogen und welche eugenisch, welche der Behandlung einer Krankheit dienen oder beispielsweise eher der Optimierung der Leistungsfähigkeit, ist keine ausschließlich medizinische Frage. Die Diskussion dieser Fragen in einer möglichst transparenten Form und im Rahmen einer breiten gesellschaftliche Debatte erscheint sinnvoll und notwendig. Dies könnte man zum Beispiel durch Einrichtung einer ständigen interdisziplinären Kommission unter Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen anstreben. 

Solche zentrale Kommissionen sind in verschiedenen Staaten errichtet worden, wie zum Beispiel in Österreich (§ 80 des österreichischen Gentechnikgesetzes GTG) oder in Großbritannien (Human Genetics Advisory Commission (HGAC) und Advisory Committee on Genetic Testing (ACGT)).

Auch im schweizerischen Vorentwurf für ein Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen vom September 1998 ist die Einrichtung einer Kommission für genetische Untersuchungen vorgesehen [24]. 

Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Diagnostik

Von dem Nobelpreisträger und "Vater" der Doppelhelix James D. Watson stammt der Satz: "Wir glaubten, unsere Zukunft läge in den Sternen. Jetzt wissen wir, dass sie in unseren Genen liegt". Aber in diesem Punkt irrt Watson (Peter Propping [25]). Das Gen ist nur "Idee, Konzept, Entwurf " seiner eigenen Realisierung. Es ist nicht identisch mit seinem Endprodukt, dem Beitrag zum Phänotyp, den es liefert [26], und der Mensch ist mehr als die Summe seiner Gene. 

Lebensprozesse sind derartig komplex und für äußere und innere Einflüsse durchlässig, dass selbst die Kenntnis aller DNA-Sequenzen eines Menschen es nicht erlaubt, seine künftigen Eigenschaften vollständig vorherzusagen - oder gezielt zu verändern. Auch bei bekanntem Genotyp kann der Phänotyp prinzipiell niemals vollständig vorhergesagt werden, da die genetischen Prozesse keine eindeutige Verknüpfung zwischen Geno- und Phänotyp herstellen. Ein Laplace’scher Dämon, der in der Lage wäre, alle nur möglichen vergangenen und zukünftigen Ereignisse zu errechnen, hat hier keine Chance [27]. 

Ein vollständiger genetischer Determinismus, der die Voraussetzung sowohl für den Gläsernen Menschen als auch den Menschen nach Maß wäre, kann also nicht unterstellt werden. Der "gläserne Patient" im strengen Sinne ist daher mehr eine symbolische als eine realistische Gefahr. 

Eine konkrete Gefahr liegt allerdings in einer zunehmenden Anhäufung genetischer Daten und einer damit verbundenen steigenden "Transparenz" des Einzelnen. Sie geht mit dem Risiko der Diskriminierung, Stigmatisierung und tiefgreifender Verunsicherung von Menschen durch den inadäquaten Einsatz (genetischer) Diagnostik einher [28]. 

Das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung im Bereich der Gendiagnostik sollte daher durch rechtliche Regelungen im Rahmen eines Gendiagnostikgesetzes sichergestellt werden. 

Literatur:

[1] Allensbacher Archiv, IfA-Umfrage 6097 im Auftrag des Deutschen Studienpreises/Körber-Stiftung, Sept./Okt. 2000; 
URL: http://www.studienpreis.de/dsp/html/presse_index.html - [Broken Link/Link zerbrochen]
Aktualisierter Link: http://www.stiftung.koerber.de/wettbewerbe/studienpreis/presse/index.html - Externer Externer Link

[2] URL: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/Omim/ - Externer Externer Link

[3] Karow J.: Eiweiß-Chips. Nach der DNS das Protein: Bioforscher entwickeln Miniatur-Tests. Süddeutsche Zeitung, 25.09.2001

[4] Geisler, Linus S.: Neues vom neuen Menschen. Blätter für deutsche und internationale Politik, August 2000, Monatszeitschrift, 45. Jahrgang, Heft 8/2000. 
URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0008blaetter_neues.html - Interner Interner Link

[5] Bartram C.R. et al.: Humangenetische Diagnostik. Berlin Heidelberg. 2000

[6] Chadwick/Levitt/Shickle (Hrsg.), The right to know and the right not to know, 1997.

[7] Richtlinien der BÄK, Deutsches Ärzteblatt 1998, A-1398

[8] Bund-Länder-Arbeitsgruppe, Bundesanzeiger 1990, Nr. 161 a, vom 29.8.1990, S. 12.

[9] Schneider, R. U.: Wissen ist Ohnmacht. NZZ Folio, 09.2000 (Gene - Der Mensch und sein Erbe) 
URL: http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/2000/09/cover.html - Externer Externer Link

[10] vgl. Laufs, in: Ethik in der Medizin (1999), 11, S. 58.

[11] Bayertz K., J. S. Ach, R. Paslak: Genetische Diagnostik. Zukunftsperspektiven und Regelungsbedarf in den Bereichen innerhalb und außerhalb der Humangenetik, Arbeitsmedizin und Versicherungen. Untersuchung im Auftrag des Büros für Technikfolgeabschätzungen beim Deutschen Bundestag. 1999.

[12] Wertz, D, I. Nippert, G. Wolff, S. Aymé: Ethik und Genetik aus der Patientenperspektive: Ergebnisse einer internationalen Studie. Genomexpress 2/01 
(Bericht 4).

[13] Nach negativem Gentest fallen manche in eine Depression. Ärzte Zeitung, 20.04.2001

[14] Beck, U. und R. Sennett: Freiheit statt Kapitalismus, Interview Zeit: Christiane Grefe. DIE ZEIT, 06.04.2000, Nr. 15/2000, S. 33

[15] Beckmann, J.P.: in Bartram C.R. et al.: Humangenetische Diagnostik. Berlin Heidelberg. 2000

[16] Vgl. zu diesen Unterscheidungen: Pränataldiagnostik und Beratung 1999, S. 4f.

[17] Vgl. zum Beispiel: Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Gesellschaft für Humangenetik 1996.

[18] Hennen , L., Th. Petermann, A. Sauter: Das genetische Orakel. Berlin. 2001, S. 54.

[19] Birnbacher, D.: Patientenautonomie und ärztliche Ethik am Beispiel der prädiktiven Diagnostik. In: Honnefelder, L., Streffer C. (Hrsg) Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 2. W. de Gruyter, Berlin, 1997. S. 107-118.

[20] Wieland, W.: Philosophische Aspekte des Krankheitsbegriffs. In: Becker, V., Schipperges, H. (Hrsg: Krankheitsbegriff, Krankheitsforschung, Krankheitswesen. Springer, Berlin-Heidelberg. 1995. S. 59-76.

[21] Lanzerath, D.: Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik. Freiburg i.Br. 2000.

[22] Deutsche Forschungsgemeinschaft 1999; S. 12.

[23] Österreichisches Gentechnikgesetz (GTG) vom 1. Januar 1995

[24] Begleitbericht zum Vorentwurf für ein Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen vom September 1998, S. 62.

[25] Propping, P.: Irrtum, Mr. Watson! Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) Nr. 230 v. 4. Oktober 2000, Seite 67.

[26] Bartram C.R. et al.: Humangenetische Diagnostik. Berlin Heidelberg. 2000. S. 36.

[27] Laplace, P.S.: Essai philosophique sur les probabilités. Paris 1814.

[28] Geisler, L.S.: Menschen nach Maß? Referat am Kulturzentrum Klosterkirche, Remscheid am 19.09.2001.
 


Geisler, Linus S.: Der Mensch als gläserner Patient. Referat anlässlich der 4. Fachtagung "Gesund in eigener Verantwortung? Patientenrechte in der Diskussion" am 28. und 29. September 2001, Dresden. Stiftung Deutsches Hygiene-Museum in Zusammenarbeit mit der DKV Deutsche Krankenversicherung AG. 
URL dieses Vortrags: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0109dresden.html 

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