Start  <  Vorträge  <   Linus S. Geisler: BIOTECHNOLOGIE & BIOMEDIZIN IM 21. JAHRHUNDERT - Einführungsreferat
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Biotechnologie & Biomedizin im 21. Jahrhundert

Eine Gefahr für das behinderte Leben?

Fachtagung der Behindertenbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung

3. Mai 2000 in München

EINFÜHRUNGSREFERAT

Prof. Dr. med. Linus S. Geisler, 
ehem. Chefarzt und Direktor des St.-Barbara-Hospitals Gladbeck
Ich bin aufrichtig dankbar, dass ich hier heute morgen und in diesem Gremium einige Gedanken - und sicherlich auch persönliche Positionen - darlegen kann und vielleicht damit zu einer kontroversen Diskussion beitragen kann, die so notwendig ist, wie man es gar nicht stark genug betonen kann. Wir leben anscheinend in grandiosen Zeiten - zumindest, was die Errungenschaften der Biotechnologie und der Wissenschaft vom Leben, angeht. Das "Human Genom Project" von Hugo Walter Gilbert als Nobelpreisträger "Apollo-Projekt der Biologie" apostrophiert, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, steht kurz vor dem Abschluß. Man hat diese Großtat zum Teil mit der Entdeckung des Feuers gleichgesetzt.

Freilich, dieses Unternehmen ist nicht wie das Apolloprojekt John F. Kennedys 1961, ein Griff nach den Sternen, sondern ein Griff nach dem Menschen und nach seinem Erbgut. Die Decodierung des "Buches des Lebens" gibt den Biowissenschaften durch die Möglichkeit der genetischen Manipulation ein tatsächlich ultimatives Werkzeug an die Hand. Wie keine andere Technologie, einschließlich der Atomwissenschaften, steigert sie die menschlichen Zugriffsmöglichkeiten auf die Kräfte der Natur ins Unermeßliche. Die Selbstevolutionierung des Menschen rückt in greifbare Nähe und damit stellt sich natürlich auch die Frage, wer bei dem "Survival of the fittest" dem Überleben des Passendsten anders als bei der natürlichen Evolution, diesmal gemeint ist: vielleicht der in ein illusionäres Menschen- und Weltbild am besten Passende, dessen Maxime die Utopie eines leidfreien Daseins ist?

Es ist kaum erstaunlich, dass die Ankündigung von Craig Venter am 6. April vor dem Untersuchungsausschuss für Energie und Umwelt der Vereinigten Staaten, er habe im Vergleich zum "Human Genom Project" sozusagen die Nase vorne, die wissenschaftliche Welt erst auf dem Umweg über den Börsenticker "Business Wire" erreichte. Hier wird deutlich, welche Allianzen sich abzeichnen: Entschlüsselung, Vermarktung und Instrumentalisierung des menschlichen Erbgutes verschmelzen in einem globalen Systemgefüge.

Nun ist es heute auch schon angeklungen, die Wissenschaften vom Leben erzeugen so paradox dies ja auf den ersten Anblick erscheinen mag Angst, obwohl sie doch offenbar dem Leben dienen sollen. Angst, die nicht abwiegelnd als diffuse, undifferenzierte Angst vor dem Neuen schlechthin zu bewerten ist, wie seinerzeit die Angst vor dem ersten Dampfwagen. Es ist eine Angst, die sich möglicherweise aus zwei Wurzeln speist. Einmal die Angst, dass menschliche Einmischung in Gottes Schöpfungswerke nicht ungestraft bleiben kann. So wie es in Goethes Gedicht "Grenzen der Menschheit" heißt: "Denn mit den Göttern soll sich nicht messen irgend ein Mensch."

Zum anderen aber gibt es die Angst, dass diese Technologie, die das Ende der großen Plagen AIDS, Krebs oder Alzheimer Demenz lauttönend in Aussicht stellt, zurückschlägt. Und zwar zurückschlägt in dem sie Jene ausgrenzt, die nicht ihrem Bild des Neuen Menschen entsprechen. Ausgegrenzt heißt dann im Klartext, dass ihr Programm auch die Verhinderung von Menschen einschließt. Dass eine Art Elitenbildung anvisiert wird, die im Kern menschenverachtend ist, dass das Anvisieren Übermenschen unvermeidbar immer auch die Kategorie des Untermenschen auf den Plan ruft.

Diese Fachtagung steht, wie das Programm ausweist, unter der Besorgnis, Biotechnologie und Biomedizin könnten behindertes Leben als "Fehler der Natur" zu vermeiden suchen, die Verhinderung von Menschen mittelbar oder verdeckt zum Gegenstand haben. Diese Besorgnis wird verständlicherweise auch genährt von der Diktion der "Neusprache" der Lebenswissenschaften, in der sich Begriffe wie "genetisches outfit" oder "genetische Fitness" finden, so als gäbe es in der genetischen Lotterie des Menschen neben Volltreffern auch Nieten. Es erscheint daher sinnvoll zu prüfen, wie realistisch aktuell, also nicht in utopischer Sicht, sich derartige Befürchtungen aus den verschiedenen Zweigen der Gentechnologie herleiten lassen. Wenn wir hier von Gentechnologie sprechen, können wir vielleicht ganz allgemein sagen, es ist jener Bereich der Genetik darunter zu verstehen, der sich mit dem gezielten Eingriff in das Erbgut von Organismen, also in die Gene, beschäftigt. Die Neuartigkeit der Gentechnik besteht dabei in einer neuen Qualität der "Eingriffstiefe". Grob skizziert können wir sagen, Gentechnologie kann auf Organismen in vier Weisen angewandt werden.
 
1. Diagnostisch. In diese Kategorie gehören sowohl Gen-Chip als auch Präimplantationsdiagnostik (PID).
2. Genetische Substitutionsbehandlung durch gentechnisch hergestellte oder veränderte Produkte, beispielsweise durch Hormone, am besten bekannt Insulin oder das die roten Blutkörperchen bildende Erythropoetin. Diese Substitutionstherapie ist sicherlich das Feld, das am wenigsten ethischen Sprengstoff bietet.
3. Die somatische Gentherapie: Mit Hilfe der Einschleusung von Genen kann man versuchen,
einen angeborenen, genetischen Defekt zu korrigieren, der eine Krankheit hervorruft,
den Folgen einer Genmutation gegenzusteuern oder diese zu korrigieren oder
Zellen so zu programmieren, dass sie eine völlig neue Funktion oder Eigenschaft entwickeln (z. B. besser auf eine Chemotherapie ansprechen). Die Einschleusung der Gene erfolgt meist mittels Viren, Retro- oder Adeno-Viren, die dann als sogenannte Genfähren dienen. Die weltweit größte Studie zur Gentherapie an etwa 300 Patienten, die in 45 Kliniken Europas und Nordamerikas wegen ihrer Glioplastome, das sind besonders bösartige Hirntumore, behandelt worden waren, wurde wegen Unwirksamkeit im letzten Jahr abgebrochen. Noch in der vorigen Woche hätte ich gesagt, eine endgültige Heilung durch somatische Gentherapie ist bei keinem der rund 4000 behandelten Patienten bis heute erzielt worden. Das muß man vielleicht relativieren, weil in der letzten Woche in "Science" publiziert wurde, dass es in Frankreich gelungen ist, zwei Jungen mit einem schweren, angeborenen Immundefekt definitiv zu heilen, soweit man das in der Kürze der Zeit als definitiv bezeichnen kann.
4. Keimbahntherapie: Darunter versteht man alle Verfahren, die einer dauerhaften Veränderung des Erbgutes von Keimzellen dienen. Damit werden die Veränderungen des Erbgutes auf alle nachfolgenden Generationen übertragen. Die Keimbahntherapie kann als Gentherapie für zukünftige Individuen verstanden werden. Ihre Anwendung wird derzeit ("noch") nicht ethisch vertretbar angesehen, unter anderem, weil sie an eine verbrauchende Embryonenforschung gebunden ist und ihr Einsatz mit nicht kalkulierbaren Risiken verbunden ist.

Dennoch sind die Vorstöße in Richtung Keimbahntherapie gewaltig. Ich möchte nur erinnern an eine Tagung, die man vielleicht eher als Promotion-Veranstaltung bezeichnen könnte, im März 1998 in Los Angeles unter dem Titel "Engineering the Human Germline", wo unter der Flagge grenzenloser Heilsversprechungen die Keimbahnmanipulation als unverzichtbarer und unabwendbarer gentechnologischer Fortschritt propagierte wurde. "Wir werden die Schrecken von Alzheimer und Brustkrebs von der Familie nehmen," lautete eine der Prophezeiungen, "wir werden unsere Nachkommen mit den 'bestmöglichen Genen' ausstatten." James Watson, Nobelpreisträger und sozusagen Vater der Doppelhelix, sah auf dem Weg zum neuen Menschen keine Hindernisse. Zitat: "Wenn wir bessere menschliche Wesen machen können dadurch, dass wir wissen, wie man Gene hinzufügt, warum sollten wir das nicht?" Und Skrupel an der Forschung mit menschlichen Embryonen wischte Steen Willadsen der Chimären aus Ziege und Schaft züchtet, mit der Bemerkung vom Tisch: "Man kann doch nicht dauernd Ah und Oh rufen, nur weil im Visier der Nadel menschliche Embryonen sind".

Der aktuellste Versuch Embryonen ins "Visier der Nadel" zu rücken, ist die Präimplantationsdiagnostik, die durch diesen Diskussionsentwurf der Bundesärztekammer vom März neu und intensiv in die Diskussion eingebracht worden ist. Als Präimplantationsdiagnostik wird die "Diagnostik an einem Embryo in vitro vor dem intrauterinen Transfer hinsichtlich der Veränderung des Erbmaterials, die zu einer schweren Erkrankung führt" definiert. Sie soll, ich zitiere wörtlich "bei solchen Paaren gestellt werden, für deren Nachkommen ein hohes Risiko für eine bekannte und schwerwiegende, genetisch bedingte Erkrankung besteht." Was allerdings unter "schwerwiegender genetisch bedingter Erkrankung" im einzelnen konkret zu verstehen ist, nennt das Papier nicht. Es wird auch die ethische Problematik deutlich umrissen, auch hier möchte ich wörtlich zitieren: "Mit der Präimplantationsdiagnostik werden schwerwiegende und kontrovers diskutierte rechtliche und ethische Probleme aufgeworfen, die auf der ethischen Seite gekennzeichnet sind durch Sachverhalte, die schwierig miteinander zu vereinbaren sind: Auf der einen Seite wird durch aktives ärztliches Handeln mit der In-vitro-Fertilisation die Entwicklung menschlichen Lebens mit dem Ziel einer Schwangerschaft eingeleitet, und auf der anderen Seite wird zugelassen, dass ein so gezeugter Embryo unter Umständen nicht in die Gebärmutter transferiert wird und mit ihm nicht die Entstehung einer Schwangerschaft angestrebt wird." Das Ganze wird bezeichnet als "bedingte Zeugung".

"Nicht in die Gebärmutter transferiert" heißt konkret für den genetisch belasteten Embryo vernichtet zu werden. Und die "bedingte Zeugung" könnte man vielleicht wirklichkeitsnäher als "Rückrufaktion Embryo" apostrophieren. In Wahrheit ist diese diagnostische Maßnahme eine selektionistische Methode der Menschenverhinderung. Was bei Frauen früher den Zustand einer "guten Hoffnung" begründet hat, scheint heute nur noch in einen Zustand schlimmer Befürchtungen umzuschlagen. Natürlich gibt es für den Wunsch, Kinder mit sicher auftretenden schweren Erbkrankheiten zu verhindern, rationale und emotionale Begründungen in Hülle und Fülle. Die Technik der Präimplantationsdiagnostik ist aber untrennbar mit den Fragen verbunden: was ist krank, was ist gesund, was ist behindert, was nicht, was sind minderwertige, was sind hochwertige Embryonen? Die Fragen gehen noch weiter. Es ist diskutiert worden, ob die Präimplantationsdiagnostik auch auf Erbkrankheiten, die nur männliche oder weibliche Kinder betreffen, ausgedehnt werden soll. Damit kommt natürlich unvermeidbar die Frage des Geschlechts als Selektionskriterium in die Diskussion.

Die Methode wirft eine ganze Reihe weitreichender Fragen auf.
Welchen moral-rechtlichen Status haben Embryonen? Dies ist bei uns im Embryonenschutzgesetz eindeutig geregelt. Aber an diesem Gesetz wird schon gerüttelt, wie wir alle sehen. Noch behindert das Embryonenschutzgesetz den Zugriff auf "frühe, menschliche Lebewesen", die allerdings für andere, ich zitiere hier Michael West, Director von Advanced Cell Technology, "Zellhaufen sind, die noch nichts Menschliches geworden sind."
Soll die Präimplantationsdiagnostik auf multifaktoriell entstehende Krankheiten ausgedehnt werden? Wie ist es bei rezessiv vererbbaren Krankheiten?
Wie "schwer" muß der genetische Defekt sein, nach dem mittels der Präimplantationsdiagnostik gefahndet wird? Hier ist ja der Keim für eine gefährliche Hierarchiebildung innerhalb des Behindertenbegriffes angelegt, die mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer stärkeren Diskriminierung behinderter Menschen führen wird.
Wie sind schwere Erbkrankheiten zu bewerten, die allerdings auf der anderen Seite behandlungsfähig sind (wie die Phenylketonurie)?

Der Kreis der Behinderten läßt sich ja nahezu beliebig ausweiten. Auch Legasthenie ist, wie wir inzwischen wissen, an ein defektes Gen auf dem zweiten der 23 Chromosomen gebunden. Es war für mich sehr aufschlußreich, als ich gelesen habe, dass auf die Frage, warum von dem vielen Geld, das in das "Human Genom Project" gesteckt wird, nicht doch ein paar Millionen für Obdachlose verwendet werden könnten? Und da hat Daniel Coschland, immerhin Chefredakteur von Science, gesagt: "Die Leute wollen einfach nicht begreifen, dass Obdachlose Behinderte sind". Obdachlosigkeit wird hier also nicht als soziale Ausgrenzung, sondern als genetisches Problem klassifiziert, dem dann vielleicht eines Tages auch mit einer Präimplantationsdiagnostik zu begegnen ist.

Die Präimplantationsdiagnostik ist für mich prototypisch für eine biomedizinische Technologie, die vordergründig dem ethisch wertvoll erscheinenden Ziel "gesundes Kind" dient, in Wirklichkeit aber ein Szenario unterschiedlicher Wertigkeiten menschlichen Lebens eröffnet und der Selektion Vorschub leistet. Sie ist typisch und das macht die Schwierigkeit unserer Debatte aus, für diesen ethisch changierenden Charakter vieler Fortentwicklungen in den Lebenswissenschaften, der ihre moralische Klassifizierung zunehmend erschwert. Dass es dabei offenbar auch ethische "Kollateralschäden" gibt, das scheint man heute mehr oder minder in Kauf nehmen zu müssen. Wenn man über Präimplantationsdiagnostik spricht, hat man vielfach den Eindruck, als würde hier so etwas wie eine neue Alternative für Eltern geboten, sozusagen die Wahl zwischen einem behinderten und einem verhinderten Kind. Aber ich denke, hier bringt man Menschen wirklich in nicht entscheidbare Situationen. Die Freiheit der Nulloption, so wie es Ulrich Beck genannt hat, der Selbstbegrenzung angesichts galoppierender Unsicherheiten, ist in einer solchen Situation einfach nicht mehr gegeben. Hier ist kein Rückzug aus der Entscheidung möglich und hier sind Entscheidungen in den Raum gestellt worden, die im Grunde auch Züge des Unmenschlichen in sich tragen.

In der "genetischen Lotterie", der wir alle entstammen, gibt es aber keine Volltreffer und keine Nieten, sondern es gibt eine unendliche Vielfalt, die als Reichtum zu begreifen ist. Ihre Notwendigkeit und ihren inneren Zusammenhang durchschauen wir noch nicht einmal im Ansatz. Kein Mensch kann daher heute voraussehen, welche genetische Ausstattung im Jahr 3000 für uns vorteilhaft, ja vielleicht sogar überlebenswichtig sein wird. Dennoch gehen wir bereits heute an die Manipulation der Blaupause des Lebens heran. Die Reduktion der Komplexität des Menschen auf sein Genom beinhaltet auch grausame Handlungsspielräume - und blendet meines Erachtens die entscheidende Seite des Menschseins völlig aus.

Die Nachricht von der weitgehenden Entschlüsselung des Genoms durch Craig Venter löste in der Wissenschaft, vor allem aber an den Börsen Euphorie aus, von Goldgräberstimmung war die Rede. Craig Venter sah sich seiner Utopie einer "Zukunft ohne Krankheit" näher gekommen. Die Euphorie über die rigorose Bemächtigung, Ausbeutung und Änderung des "Buchs des Lebens" könnte allerdings im grauen Alltag gnadenloser Budgets und sich immer mehr abzeichnender unerbittlicher Rationierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen rasch in Ernüchterung umschlagen. Wer Eingriffe in das Erbgut befürwortet, muss damit rechnen, selbst an seinem genetischen Outfit identifiziert, klassifiziert und letztlich vielleicht auch diskriminiert zu werden.

Am 20. März meldete die britische Zeitung "Daily Telegraph" Großbritanniens Regierung wolle Versicherungsgesellschaften künftig den Einsatz von Gentests erlauben, um so vor Abschluß von Verträgen das Risiko von Erbkrankheiten einschätzen zu können. Noch wehren sich in der Öffentlichkeit die deutschen Versicherungsgesellschaften heftig gegen den Vorwurf, obligatorische Gentests vor dem Abschluß von Lebens- und Krankenversicherungen fordern zu wollen. Aber man werde den "genetischen Fortschritt genau beobachten" und sich "Optionen offen halten". Es bedarf meines Erachtens nur einer geringen Phantasie, sich die unheilige Allianz zwischen Aussonderungs-bestrebungen der Versicherer mit dem Potenzial der Präimplantationsdiagnostik auszumalen. Von Genforschern wurde plakativ gesagt, es gehe bei der Genforschung schlicht darum, später zu sterben. Im Augenblick scheint eher die Verhinderung von Menschen ihre Stärke zu sein. Es gibt ein Drama von Elias Canetti, das heißt "Die Befristeten". 1952 hat er es geschrieben und da geht es um ein Gedankenexperiment: "Wie sähe das Zusammenleben der Menschen aus, wenn alle von Geburt an ihr genaues Todesdatum wüssten?" Jeder der Befristeten trägt als Namen nur noch die Zahl der ihm zugemessenen Lebensjahre. So heißen also diese Menschen 50, 10 oder 102. Rasch wird ersichtlich, und das ist das Interessante an diesem Drama, dass in dieser Gesellschaft der Befristeten die Lebenserwartung zu einem ganz wesentlichen, sozialen Steuerungselement wird. Rasch zerfallen die Mensch dort in drei Klassen von Befristeten: Die Niederen, die Mittleren und die Hohen. Und die einen wollen sich mit den anderen mehr oder minder nicht einlassen. Was für Canetti die Auseinandersetzung mit der Macht des Todes war, das steht hier gleichzeitig paradigmatisch für die Last eines letztlich unmenschlichen Wissens.

Die Informationsanhäufung über Struktur und Funktion des menschlichen Erbgutes ist eines der wesentlichen Ziele der Gentechnologie. Als Joker gilt deshalb der Markt für Genchips, die tausende Gene in kürzester Zeit zu analysieren vermögen. Es zieht eine gigantische prädiktive Medizin herauf. Die Schicksale von Frauen, die sich als Trägerinnen der erblichen BRCA-2-Genmutation, im allgemein als "Brustkrebs-Gen" bezeichnet, vorsorglich beide Brüste amputieren lassen, obwohl über 80% der 50-jährigen Genträgerinnen gesund sind oder noch gesund sind, geben einen Vorgeschmack auf die Auswirkungen einer unbarmherzigen zukünftigen Wissensbürde. Die sich stets vergrößernde Kluft zwischen den Kenntnissen über das genetische Schicksal des Menschen und den äußerst beschränkten, zumindest jetzt noch beschränkten therapeutischen Möglichkeiten, bei genetischen Leiden einzugreifen, wird einen schwer abzuschätzenden physischen Zoll von den Betroffenen abverlangen. Wir reden von Patienten, eigentlich wird hier eine Gruppe geschaffen, die man "Unpatients" nennen sollte, also noch gesunde, die aber in Kenntnis ihres genetischen Schicksals in furchtsamer Ungeduld auf Krankheiten, die in 30 oder 40 Jahren auf sie zukommen werden, warten und vielleicht die bisherigen Kranken beneiden, die ihr Leiden noch in altmodischer Manier als Blitz aus dem heiteren Himmel erleben.

Die Verführungen der Biowissenschaften liegen auch darin begründet, und ich denke, das ist ein ganz wichtiger Aspekt, dass sie in einer Sphäre der scheinbaren Unanschaulichkeit operieren. Das Umdeuten von frühestem menschlichem Leben zu Zellhaufen stößt dann irgendwo kaum mehr auf Widerstand, und die Schutzlosigkeit des menschlichen Lebens im Reagenzglas beruht auch auf diesem Phänomen. Kardinal Meisner hat in seiner jüngsten Stellungnahme zur Präimplantationsdiagnostik im Deutschen Ärzteblatt die, meines Erachtens, sehr treffende Formulierung gebracht: "Es fehlt die spontane, emotionale Tötungshemmung, die ein Kindergesicht auslöst."

Wissenschaft entfaltet sich nicht losgelöst von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Beide, Gesellschaft und Wissenschaft, wirken in oft schwer durchschaubaren Bezügen, in einem zirkulären Geschehen auf und einander ein. Die Werte und das Menschenbild einer Gesellschaft bilden den Humus, auf dem wissenschaftliche Entwicklungen ihre soziale Konkretisierung erfahren. Bereits 1992 gaben 43 Prozent der befragten Amerikaner zu, "dass sie mit Hilfe der Gentherapie die physischen Charakteristika ihrer Babys verbessern lassen würden". 1999 ergab eine Befragung an genetischen Beratern, dass es in Deutschland 8%, in Frankreich bereits 30% und in Indien 100% in der Ära der Pränataldiagnostik für "sozial unverantwortlich" halten, ein Kind mit einer genetischen Behinderung zur Welt kommen zu lassen. Jeder Gesellschaft die Wissenschaft, die sie verdient und umgekehrt?

Gentechnologie löst zum Teil utopische Heilserwartungen aus. Zugleich wird sie als Bedrohung der Würde des Menschen verstanden. Das Menschenwürde-Argument ist sicherlich eine heikle Argumentationslinie, insbesondere bei einer inflationären Verwendung dieses Begriffes. Es ist von Totschlagargument gesprochen worden und gelegentlich von der Tyrannei der Würde. Dies mag auch mit der mittlerweile überholt erscheinenden Auffassung von Menschenwürde als einer Art Grundeigenschaft des Menschen zusammenzuhängen. Moderne philosophisch-juristische Auffassungen, wie die des Juristen Ulfrid Neumann oder des Philosophen Wetz, gehen von einem anderen Ansatz aus. Sie sehen den Ort der Menschenwürde in der "Sozialen Interaktion". Sie verstehen Menschenwürde als "Gestaltungsauftrag, als konkretes Gebot, menschenwürdige Verhältnisse zu schaffen". Die Frage ist daher nicht, worin Menschenwürde besteht, sondern "wodurch Menschen gedemütigt werden können, welche Handlungen eine entwürdigende Behandlung anderer implizieren. Bezugspunkt ist also in diesem neuen Begriff der Menschenwürde, die Verletzlichkeit des Menschen unter dem Gesichtspunkt der sozialen Mißachtung".

Neumann läßt keinen Zweifel daran, und dieser Gedankengang war für mich sehr interessant, dass die Demütigung und die soziale Diskriminierung, die in der Gentechnik impliziert sein kann, nicht erst aus der Anwendung resultiert. Er schreibt: "Bedrohlich ist die Gentechnik als Manifestation der Machbarkeit, der biologischen Bestimmbarkeit des Menschen. Diese Manifestation vollzieht sich nicht erst im erfolgreichen gentechnischen Eingriff oder mit der Verfügbarkeit einer bestimmten Technologie, sondern schon mit der Kenntnis der genauen genstrukturellen Bedingtheit bestimmter menschlicher Eigenschaften". Es ist sicherlich zu diskutieren, ob man hinter einem solchen Begriff von Menschenwürde steht. Es ist auch nicht auszuschließen, dass hier im Grunde eine Verwässerung des Begriffs beinhaltet sein kann. Aber was mir wesentlich erscheint, dass es hier um etwas geht, das ein sozialer Gestaltungsauftrag ist. Dorf ist der Ort der Menschenwürde.

Im Mittelpunkt unserer Überlegungen und Befürchtungen heute steht der behinderte Mensch in der Konfrontation mit einer Technologie, von er sich gelegentlich existenziell bedroht fühlt. Was in seinem Inneren vorgehen kann, habe ich nirgendwo treffender gefunden, als in einem Gedicht, auf das ich per Zufall im Internet gestoßen bin, und das von einer Tanja Muster stammt, wobei ich annehme, dass dieser Name vielleicht ein Künstlername ist. Dieses Gedicht trägt den Namen "Lebenswert". Es handelt sich offenbar um eine behinderte Autorin. Ich möchte Ihnen einfach zum Schluß ohne Kommentar dieses Gedicht vortragen:
 

LebensWert

Im Fernsehen
wieder
Diskussionen
ob ich es wert wäre
zu leben
Eugenik
vorgeburtliche Diagnostik
Euthanasie
und ich denke mir
mit 15 Jahren wäre ich 
gestorben ohne den medizinischen Fortschritt
vor 60 Jahren wäre ich 
vergast aufgrund des ideologischen Fort-Schritts
in ein paar Jahren würde ich 
wegen beidem nicht geboren werden
wie soll ich leben
mit dieser Vergangenheit 
in Zukunft


Diese Zukunft, meine Damen und Herren, hat bereits begonnen. Es wäre das beste Ergebnis dieses Tages, wenn wir herausfinden könnten, welche gesellschaftlichen und politischen Anstrengungen es wert sind und alle unsere Intensionen in Anspruch nehmen dürfen, damit wir in dieser Gesellschaft in einer Zeit leben, wo die Ethik im wesentlichen geprägt ist nicht durch Ausgrenzung, durch Gleichmacherei, durch Diskriminierung, sondern durch den Geist der Solidarität. 


Geisler, Linus S.: Biotechnologie & Biomedizin im 21. Jahrhundert. Eine Gefahr für das behinderte Leben? Einführungsreferat anlässlich der Fachtagung der Behindertenbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung am 3. Mai 2000. 
URL: http://www.linus-geisler.de/vortraege/0005biomedizin.html

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