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Linus S. Geisler: Duftesser
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Ärzte Zeitung, Neuro-Psychiatrische Nachrichten, Ophthalmologische Nachrichten, Sokratische Gesellschaft
Erschienen in: Mitteilungen der Sokratischen Gesellschaft. Heft 44. 2005. S. 33-37
Der Duftesser von Linus Geisler

Linus S. Geisler Duftesser. Roman. Hamburg 2003 

Der Einstieg in das Romangeschehen, der "Prolog" stimmt in ein episches Erzählen ein, - wie uns dies von mancherlei Erzählungen, Romanen oder Novellen her vertraut ist, sei es bei Goethe, E.A. Poe oder Wilhelm Hauff; in ein Erzählen, bei dem man sich behaglich zusammensetzt, den Sessel zurechtrückt, um den Abenteuern und Erfahrungen, den Berichten und den Erinnerungen, den Funden und Entdeckungen des Erzählers aufmerksam zu folgen. So auch hier: "Mir ist die ebenso traurige wie absurde Aufgabe zugefallen - es wäre besser von Pflicht zu sprechen - die Aufzeichnungen meines verschollenen Lehrers in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen, eine Edition daraus zu machen, wie der genaue Auftrag lautet..."

Man bleibt von Anfang an gefesselt und folgt gespannt der "Spurensuche" des Medizinstudenten und "Schülers" des verschollenen Professors, welcher dessen Fährte folgt und schließlich dessen Aufzeichnungen, die Ungeheuerliches bergen, dem Leser vorstellt. 
Allerdings: dies ist kein erbauliches Buch, auch wenn der Einstieg wie der Verlauf manche Züge des Abenteuerromans aufweist; dies deshalb nicht, da man im Gedanken der Erbaulichkeit stets ein Moment des Gefälligen, ja Selbstgefälligen mitschwingen fühlt und darin wohl Zurecht ein Nachlassen der Substanz vermutet. Was dieser Roman an Häßlichkeit des Todes, an Häßlichkeit verfallender Körperlichkeit, an Häßlichkeit der Hinfälligkeit des Lebens und an Häßlichkeit zynischer Weltbetrachtung bietet, läßt derlei "Nettigkeiten" freilich nicht zu.

Dies ist wahrhaft kein Buch für Leute, die "Nettes", die Erbauliches lesen wollen. Allein: die Negativität der Perspektiven, welche sich in Gestalten des Romans anzeigt, welche als zynische, als verwundbar-nihilistische oder modern gestylte Charaktere auftreten, läßt diese Reise durch das Bewußtsein der Zeit, diese Reise durch die Geschichte der Medizin, diese Reise in die apokalyptischen Utopien der Gegenwart überhaupt erst glaubhaft und "widerständig" genug erscheinen, um als schreckliche mögliche Welt überzeugen zu können.

Dies ist ein Buch, welches man auf ganz unterschiedliche Weise lesen kann:
Als eine biologisch medizinische Schreckensutopie, als Metapher für das Doppelgesicht der Geschichte der Medizin bis in die Gegenwart hinein, ihre grausam-rücksichtslose, wie ihre human-heilende Seite darstellend! Sie läßt sich aber auch als ethisch-philosophisches Traktat lesen, als ein Traktat über Grundkonstellationen wie Leben und Tod, Krankheit, Seele, Leib, Körper, alles in eine Romanhandlung gekleidet, als Resümee eines Medizinerlebens mit seinen ungeheuren Belastungen, seinen tiefen Einsichten, seinen Ermüdungen, wie wir das von Gottfried Benn her kennen: "Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert hatte, führ im Sommer vorigen Jahres durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht; er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft..." (Benn/Gehirne).

Man kann dem Buch aber auch einfach als einer sprachlich musikalischen Invention von kristallener Klarheit und Schönheit der Sprache begegnen, als einem Buch, das im Stile der alten Meister malt und zeichnet, das jedoch auch vom Schrecken Baconscher Bilder inspiriert scheint.

Die Sprache aber vom Inhalt zu trennen, von der Faszination der handelnden Personen durch die Struktur des Lebendigen ebenso wie durch Tod und Verfall, von der Sucht auch nach Klarheit und Grund - dies erscheint als unmöglich.
Am Beginn dieser Reise durch die moderne Medizin (welche durchgehend durch Rückblicke in die Vergangenheit ergänzt wird) steht die Faszination durch den Tod: "Letzte Augusttage, die Stadt war noch menschenleer. In den Beeten verharrten die Astern betäubt. Die Katzen hatten sich in die Schattenwinkel verzogen und hüteten sich, ihre Pfoten auf den Dachziegeln zu versengen. Hinter den zugezogenen Fensterläden lagen Schläfer in einem traum-leeren Koma, dem sie sich erst mit der aufkommenden Abendkühle würden entwinden können. Mein Hunger erzeugte eine Wachheit, deren Fokus auf das eine Objekt gebündelt war, den Tod. Es war eine magische Verabredung, der ich weder entrinnen konnte noch wollte.

Die Kastanien im Vorhof der Anatomie milderten den Andrang der Hitze. Ihre Schattenflächen erlaubten den Augen, sich von der Sommerblendung zu erholen. In den Gläsern der Eingangstüre spiegelte sich eine Schwärze ohne Konturen. Sie war ein letzter Vorhang, den ich mit trockenem Mund und klopfenden Pulsen beiseite zu ziehen hatte. Die Eingangshalle war groß, kühl und menschenleer. Links und rechts an den Wänden zeichneten sich die Anschläge für Vorlesungen, Kurse, Arbeitsgruppen und Seminare als helle Rechtecke ab. Für mich kündigten sie Inszenierungen an, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden, in Geheimlogen, die nur den Todessüchtigen zugänglich waren. Ich war unter den Auserwählten, ich trug das Brandzeichen. Meine Gier nach dem Geschmack ohnegleichen, dem Aroma des Todes, würde mir alle Türen öffnen.

Plötzlich nahm ich es wahr, das Bukett des Todes, sein Odeur, seine Ausdünstung, sein Dressing. Seine Schärfe provozierte schamlos alle Schleimhäute. Ich folgte der Fährte, besser gesagt, sie sog mich an. Es war eine Witterung, der nicht zu entkommen war. Sie schlug die vertäfelten Türen auf. Sie räumte mir jedes Hindernis ans dem Weg. Sie ließ mich die Stufen hinuntertorkeln. Sie lotste mich durch die Gewölbe, in die Winzerei des Todes, abwärts, dorthin, wo der Ausstoß seiner unablässig mahlenden Keltern in plätschernden Behältern lagerte. Mit perfider Präzision begannen sich meine Sinnesorgane an den Leitgeruch des Todes zu adaptieren. Sie waren jetzt weit geöffnet, bereit, sich jeden Eindruck mit fotografischer Schärfe einzuprägen. Was mir in die Nase stach, war schlicht und einfach der Gestank nach Formalin, der den in Dreierreihen angeordneten Betonwannen entströmte." (Duftesser S. 24)

Nach dieser Einstimmung in den Cantus firmus des Romans wird mehr und mehr in völlig eigenständigen Charakteren, welche sich förmlich selbst vorführen, das ganze Instrumentarium futuristischer Medizin und Biotechnik von der Organtransplantation bis zur Gentechnik als Möglichkeit und als Verrührung gleichzeitig vorgeführt.
Ähnlich Benn geht Geisler davon aus, daß nicht der banal Gesunde das schöpferische Element in sich austrägt, sondern der Kranke, der großartig geniale Kranke. So trifft dies etwa schon auf den ersten Arzt zu, von dem der Verschollene gemäß seinen Aufzeichnungen wirklich etwas gelernt hat, auf Ikarus nämlich, den Abgestürzten, den Flügellosen, der schwerkrank dem Protagonisten seine fortschreitende Landry-Paralyse, angeblich ein Werk seiner Selbstbehandlung, unterkühlt und emphatisch gleichzeitig vorführt.

Dann folgt Diderot, der geniale Genetiker, Sohn provenzalischer Weinveredler, der "monströse Seher mit wallender Kutte", der das 'dritte Auge' besaß: "Alle Verfehlungen des Menschen sind Verfehlungen seines Sehens, seines dritten Auges, des spirituellen Auges der Seher und Heiler. Das Wesen des dritten Auges ist, dass es nicht sieht wie die äußeren Augen, sondern im Gegenteil, es erkennt, es schaut erst dank seines blinden Flecks..." (Duftesser, S. 70). Hier, wie an zahlreichen Stellen ließen sich philosophische Grunderkenntnisse und Grundfragen ansetzen und einbringen, diesbezüglich vergleichbar mit den Betrachtungen und Erörterungen in Thomas Manns Zauberberg oder Dr. Faustus. Der Ich-Erzähler kommentiert das Geschehen nur sparsam und verschwindet beinahe hinter den Gesprächspartnern, welche nahezu wie im personalen Roman selbständig agieren. All die lebendigen Gestalten, die den Roman inständig tragen, werden hinreißend in ihrer jeweiligen Umgebung und Landschaft bzw. aus diesem ihrem Umfeld heraus geschildert. So wäre David Perls (Duftesser, S. 95), der tiefsinnig paradoxe jüdische Denker aus dem Umfeld Diderots oder der römische Dottore Antoniniano (Duftesser, S. 126), der "Befruchtungsguru", hier zu nennen und schließlich Rod Jonson, der "Ersatzteilspezialist" oder schließlich June Maddox, auf welche der Ich-Erzähler in Kalifornien, "im gelobten Land der warmen Leichen und der kalten Embryonen" trifft: "June Maddox war eine Schönheit von vollkommener Symmetrie, ein Entwurf der Natur in Hochglanzausrührung, ein aufklappbares Model mit aufklappbaren Hälften..." (Duftesser S. 161). Da es unmöglich ist, all diesen Gestalten gerecht zu werden, gehen wir abschließend auf die symptomatische Gestalt dieser June Maddox etwas ein.

Diese ist nämlich wie geschaffen, den Wahnwitz eines hemmungslosen technokratischen Solipsismus im Zeichen des technokratischen Imperativs durchzuspielen und durchzuführen. Es gilt, den Nihilismus eines kühlen und glatten Kalküls anzudeuten. Hierzu ein Abstecher zu Ernst Jünger:
"Nihilismus und Anarchie. Die Unterscheidung ist schwierig wie die von Aalen und Schlangen, doch unentbehrlich zur Kenntnis des eigentlichen Spiels. Entscheidend ist die Beziehung zur Ordnung, die dem Anarchisten fehlt, den Nihilisten auszeichnet. Der Nihilismus ist daher auch schwerer zu durchschauen, ist besser getarnt. Ein gutes Kennzeichen ist das Verhältnis zum Vater: der Anarchist haßt, der Nihilist verachtet ihn. [...] Sodann die Unterschiede gegenüber der Mutter und der Erde im besonderen, die der Anarchist in Sumpf und Urwald, der Nihilist in Wüste verwandeln will." (Ernst Jünger, Strahlungen II, S. 212)
Ich komme gleich auf diese Unterscheidung zurück und deute den sich steigernden Fortgang des Romans in eine monströse Zukunft hinein an, in welcher schließlich und endlich das Terrain verlassen wird, welches im Augenblick noch das Plateau für die Lockangebote der biologischen "Ankündigungswissenschaften" ist.
In diesen bekannten täglichen euphorischen Ankündigungen nämlich wird der Traum von der absoluten Gesundheit, die Platitüde von der Abschaffung jeglicher Krankheit, vornehmlich jedoch der Erbkrankheiten ständig beschworen. Der metaphysische Gedanke etwa, daß in solcher Absolutsetzung von Gesundheit und Krankheit "Welt" und deren Gestaltung grundsätzlich nicht mehr möglich ist, entfällt. Endlichkeit wird auf immerwährende Gesundheit hin scheinbar überstiegen, was metaphysisch gesehen unmöglich ist: "Wir sind als weltseiende Wesen in Endlichkeit immer schon potentiell krank oder gesund und darum krank und gesund in einem. Werden diese beiden Weisen des Weltseins jedoch als Fiktionen absolut gesetzt, so verfällt das Weltbewußtsein..." (Rudolph Berlinger, Philosophie als Weltwissenschaft. Vermischte Schriften, Bd. 1. Amsterdam 1974, S. 63)
In der nunmehr einsetzenden Steigerung des Romans wird in der Gestalt der June Maddox Weltlosigkeit endgültig vollzogen, "Welt" zur absoluten Ungestalt, zum Un-Bild, in dem einzig Verfügbarkeit und Beliebigkeit im gleißenden Gewand vermeintlich totaler Beherrschbarkeit des Lebens zu einem anarchistischen Nihilismus wird: Wüste und Dschungel, Leere und Anarchie sind übergangslos eins: "So gab es keine verläßlichen Wirklichkeiten mehr ..." (Duftesser, S. 257).

Wie aber zeigt sich jene Verfügbarkeit und Beliebigkeit, wenn nicht mehr das tote Ideal absoluter Gesundheit "Zukunftsfähigkeit" regelt? (Anmerkung: hat man je schon ein dümmeres, anmaßenderes Wort kreiert als "Zukunftsfähigkeit"?)
Dies zeigt sich im Umschlagen in jeden beliebigen Trend, in jede beliebige Laune des medizinischen Publikums. Hierzu nochmals June Maddox, wie sie "von der Erlösung des Menschen durch das Unheil" schwärmt: "Sehen Sie sich diese Mütter an mit ihren mongoloiden Kindern! Den Speichel fangen sie auf wie Nektar. Das Lallen hören sie als Sphärenklänge. Sie trinken und trinken und werden niemals satt an den kleinen Schlitzaugen, in deren Tiefe sie alle Geheimnisse des Lebens wittern! Diese Kostbarkeiten werden sie eines Tages von uns verlangen, und zwar hartnäckig. Die Hämophilie-Sprösslinge, deren ungerinnbares Blut sie im Kelch ihrer Liebe auffangen wollen. Die geplatzten halbmondförmigen roten Blutkörperchen der Sichelzellkranken. Die kleinen Idioten mit ihrem Tay-Sachs-Syndrom, deren Verstand und Auge sich Tag um Tag mehr und mehr verdunkeln. Dafür werden sie ein Vermögen bezahlen, in einer Welt der Regeln und Rituale, der Normen und Vereinheitlichungen, wo jede Stadt der anderen gleicht, jedes Haus dem anderen, jeder Tag und jede Karriere der anderen. Da wird es nur noch wenige wirkliche Lichtblicke geben, Erleuchtungen, Auserwählte, das gänzlich Andere, das Unberechenbare, das bisher nicht Käufliche. Das Unheil. Aber WIR werden es käuflich machen!"
Die Sucht also nach dem Anderen, nach der Dschungelwüste und dem Wüstendschungel hat eingesetzt in dieser über und über realen Utopie.
Stehen wir nicht schon am Anfang einer solchermaßen geschilderten Un-Welt? Dies ist eine Frage, welche sich der Leser selbst für sich behandeln und beantworten mag.

Bleibt zum Schluß noch zu fragen: wieso "Duftesser"? Warum dieser Titel? 
Ist es bloß die Verweisung auf die große Zahl der die Welt dieses Romans durchziehenden Düfte, vom Duft der Linden, der Erdbeeren bis zur Schärfe des Geruchs nach Formalin, des Mäusefell-Odeur, des Geruchs zerfallener Leber? Oder verhält es sich umgekehrt: Die Düfte sind selbst Ausdruck von ...?? 
Ikarus, der erste Lehrmeister des Medizinprofessors gibt Aufschluß darüber:
"Er lehnte sich zurück und tastete nach der Zigarettenschachtel auf dem Nachttischchen. Dann aber schob er sie beiseite und zog eine Schale mit frischen Erdbeeren, die seit heute dort stand - wer hatte sie ihm gebracht? - so weit zu sich heran, so dass er sie mit beiden Händen halten konnte. Es kam mir manieriert vor, wie er dann mit geschlossenen Augen die Schale in einer sakralen Geste langsam bis vor sein Gesicht hob und den Duft der Erdbeeren mit einem nahezu endlosen Atemzug durch die Nase in seinen Körper aufsog. Dann öffnete er die Augen und begann schallend zu lachen, als er sah, wie ich das Zeremoniell skeptisch verfolgte.

Was so theatralisch aussieht, mein lieber Kollege in spe, ist nichts als eine kleine Vorübung. Ein paar lächerliche mentale Liegestütze. Aber da ich mich bald nur noch mit ein paar Düften werde durchschlagen müssen, muss ich langsam beginnen, meine olfaktorischen Fähigkeiten in Schwung zu bringen.
Ich verstand nichts und starrte ihn verstört an.
'Sich ausschließlich von Düften zu ernähren, will gekonnt sein. In diese Lage gerät man in jedem Leben nur einmal, besser gesagt, nach jedem Leben, als Duftesser im Zwischenzustand'.

Auch jetzt begriff ich nichts und hielt seine Andeutungen über duftessende Wesen im Zwischenzustand für einen seiner zahlreichen Spleens. Wie sollte ich auch damals ahnen, dass ich Jahre später Judith, meiner Frau, fast bis an die Schwelle des klaren Lichtes folgen würde, ehe sie dann in jenes Zwischenreich hinüberglitt, von dem sie mir so viel erzählt hatte und in dem Düfte ihre Nahrung sein würden?" (Duftesser, S. 46)

Jenes Zwischenreich mit dem "dritten Auge" im Blick zu behalten, wird für die Zukunft unsere drängendste Aufgabe sein.

Wolfgang von der Weppen


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  Ärzte Zeitung, Neuro-Psychiatrische Nachrichten, Ophthalmologische Nachrichten, Sokratische Gesellschaft

Erschienen in: Neuro-Psychiatrische Nachrichten, 08/2004, S. 12; Ophthalmologische Nachrichten, 08/2004, S. 20
Vom Glanz und Elend der Medizin 

Linus S. Geislers Roman "Duftesser" sensibilisiert für die Zwiespältigkeit des Fortschritts in der modernen Medizin

KÖLN – Einer weit verbreiteten Vorstellung zufolge stellt sich die Geschichte der Medizin dar als eine einzige Abfolge triumphaler Erfolge: von den primitiven Anfängen archaischer Medizin hin zu immer wirksameren Therapien und schließlich zur leidensfreien Gesellschaft.

Auch die Heroen dieses wahngewissen Glaubens an die permanenten Fortschritte in der Medizin sind für viele klar definiert: Ärzte waren und sind ausgebildet, Menschenleben zu retten; sie opfern sich für ihre Patienten auf, sie heilen - dieses Arztbild dominiert bis heute in Literatur, Film und Fernsehen und nicht zuletzt in der öffentlichen Meinung. 

Vorstellungen, die einer grundlegenden Korrektur bedürfen, meint offenbar Prof. Dr. med. Linus S. Geisler. Der langjährige Chefarzt am St. Barbara-Hospital Gladbeck (bis 1999), der Sachverständiger der Enquete-Kommission "Ethik und Recht der modernen Medizin" ist, hat einen Roman verfasst, der mit den gängigen Arztmythen kräftig aufräumt: "Nach nichts", so lässt er die mysteriöse Hauptfigur seines Buches "Duftesser", formulieren, "hungert den angehenden Arzt mehr als nach der ersten Begegnung mit dem Tod. ... Wohin dieser Hunger ihn auch treibt, in die Verließe der Intensivstationen oder in die Sterbensgemütlichkeit der Hospize, zu den Organfängern in den Zentren oder in die Ein-Mann-Clownerien versoffener Hinterwaldärzte - immer hat der Tod ihn an den Marionettenschnüren und lässt ihn Gesten der Allwissenheit und der Empathie vollführen." 

Vom Glanz und Elend der modernen Medizin - Linus S. Geislers Roman 'Duftesser'Die drastische Äußerung entstammt den Aufzeichnungen eines berühmten Medizinprofessors, der verschollen ist. Dessen ältester Schüler ist dazu bestimmt, das zurückgelassene Manuskript seines Lehrers zu editieren und zu entschlüsseln. Es enthüllt Episoden einer mystischen Lebensreise, die offenbar in engem Zusammenhang mit dem medizinisch rätselhaften Tod seiner Frau Judith stehen. Der Professor erinnert sich an ehemalige Lehrer und Weggefährten, die ihn die ganze Komplexität und Widersprüchlichkeit moderner Medizin vor Augen führen.

Da ist etwa der drogensüchtige Arzt Ikarus, der dem damals angehenden Arzt eine unauslöschlich irritierende Lektion über die alltäglichen Abhängigkeiten der vermeintlich Suchtfreien erteilt: "Eine gespenstisch synchronisierte Menge, eine Riesenmaschine, jeder ein Rädchen, austauschbar, das sich aber selbst für einmalig und unersetzlich hält." Und der prophetisch mahnt: "Schulen Sie ihren ärztlichen Blick durch die aussterbende Methode der direkten Betrachtung und Untersuchung des Menschen. Später wird er ihnen nur noch in Form von Röntgenstrahlen, Ultraschallwellen oder Szintigrammen begegnen." 

Da ist auch der Kommilitone Diderot, der den Ich-Erzähler bei Käse und Wein mit gelehrten Abhandlungen verzückt: Von Rembrandts "Anatomie des Doktor Tulp" spannt er den Bogen über die submikroskopische Anatomie bis hin zum "Reich der Unsichtbarkeit: Dahin geht die Reise." Als der Professor Diderot Jahrzehnte später an der Sorbonne als einen führenden Genetiker wieder trifft, doziert dieser über die tägliche Versuchung der Genetiker: "Ich verändere Moleküle, weiter nichts. Auch die Natur verändert Moleküle, sie betreibt Gen-Transfer, seit es so etwas wie die Evolution gibt. ... Die Genetik spielt ebenfalls mit Molekülen, aber nach einem Plan. Und diesen Plan bestimmt sie selbst."

So überzeugt Diderot sein Fachgebiet vertritt, so betont er doch, "was der Wissenschaftler am dringendsten benötigt: Abstand. Die meisten sind zu nahe am Objekt. Sie sehen etwas, aber sie schauen nicht." So wie so viele andere Figuren mit ihren visionären Spiegelungen neuer Welten, denen der Professor auf seinen Reisen durch die wunderliche Medizinszene begegnet. Sie offenbaren Glanz und Elend der modernen Medizin: Der römische Befruchtungspapst Dottore Antoniniano etwa, der Kinder auf Bestellung fabriziert wie Kälber und der noch Siebzigjährigen zu Nachwuchs verhelfen will. June Maddox, die in ihrer renommierten kalifornischen Samenbank genetisches Material von Erbkrankheiten konserviert – als Raritäten inmitten des Standardsortiments der Topstars, Fighter und Denker. Oder auch der Transplantationschirurg Rod Johnson, der in seinem Medical Center mit den Transplantationen nicht nachkommt und deshalb bereits auf Tierorgane ausweicht. 

"Vielleicht kommt der Tag, wo jeder sich sein Spenderschwein und seinen Pavian als Organcontainer halten wird", scherzt der Professor und regt zudem eine neue medizinische Sparte an: "Ressourcenumverteiler" im körperlichen und genetischen "Material" des Menschen. Von menschlicher Nähe und der einst so wichtigen Kategorie der Arzt-Patienten-Beziehung ist dagegen in kaum einem Zukunftsszenario die Rede. 

Linus Geislers ansprechend geschriebener Roman, der nebenbei Sinn für fernöstliche Mystik verrät, sensibilisiert für die überzogenen Heilserwartungen an die moderne Medizin. Und er zeigt überzeugend, dass es für komplexe medizinethische Probleme kaum Lösungen ohne Bedenken und legitime Gegenargumente gibt. (bra) 

Linus S. Geisler. Duftesser. Verlag Mein Buch, Hamburg. 338 Seiten, 28 Euro. ISBN: 3-936128-94-4. 


hoch

Ärzte Zeitung, Neuro-Psychiatrische Nachrichten, Ophthalmologische Nachrichten, Sokratische Gesellschaft

Erschienen in: Ärzte Zeitung vom 12.05.2004
BUCHTIP

Eine Zeitreise zu genialen Genetikern und Technokraten

Der Medizinstudent ist 22 - und seine erste Begegnung mit dem Tod wird sich für immer in sein Gedächtnis eingraben: Die Augen einer moribunden Urämikerin - so der Ich-Erzähler - "schauten vielleicht schon in jene Zwischenwelt der Tibeter. Die Wesen in ihr haben einen mentalen Körper und weil sie sich nur von Düften ernähren, werden sie auch Duftesser genannt."

So beginnt Linus Geislers Roman "Duftesser" über die Geschichte eines Arztes. Es ist eine Zeitreise durch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und gleichzeitig eine medizinhistorische und medizinethische Abhandlung über Segen und Fluch der Moderne: Die bisweilen geisterhafte Gestalt der Hauptperson - man erfährt nur, daß sie im Wien der Nachkriegszeit Medizin studiert hat und es bis zum Professor bringt - ist dabei der dritte, oft unsichtbare Mann, der in erster Linie zuhört und beobachtet. 

Die eigentlichen Helden aber (die die Medizin voranbringen) sind seine Kommilitonen Diderot, ein verfressener und versoffener, aber hochgenialer französischer Genetiker mit vielen medizinethischen Hintergedanken und Rod Jonson, der Technokrat und spätere Transplanteur von Lungen, Lebern, Nieren und Herzen in der eiskalten Hochhausatmosphäre der modernen USA.

Die medizinischen Zukunftsperspektiven, die sich dem Erzähler während seiner Zeitreise eröffnen, sind um so bedrohlicher, je weiter sich das 20. Jahrhundert seinem Ende zuneigt. Natürlich kommt auch seine eigene Beziehungslosigkeit ins Spiel; denn nach dem medizinisch nicht erklärbaren Tod seiner Frau kommt sein erschüttertes Weltbild immer mehr ins Wanken. 

Als es sich schließlich in Trümmern auflöst, verschwindet der Erzähler von der Bildfläche und hinterläßt eine Schar früherer Schüler und Bewunderer, von denen einer schließlich die Aufgabe übernimmt, die "Aufzeichnungen" herauszugeben - übrigens mit einer Rahmenhandlung, die den Leser zunächst an eine Geschichte von Edgar Allen Poe oder an einen Roman von Paul Auster denken läßt.

Linus Geisler, bis 1999 Chefarzt der Medizinischen Klinik am St. Barbara-Hospital Gladbeck und unter anderem Sachverständiger der Enquete-Kommission "Ethik und Recht in der modernen Medizin", wird bei der Abfassung seines Romans aus der Fülle seiner eigenen Erfahrungen geschöpft haben. 

Von der Sprache her ist ihm ein kleines Meisterwerk gelungen; denn die Farbigkeit seiner Schilderung mit ihrer endlosen Fülle von Adjektiven gewährt der Phantasie des Lesers freien Lauf - und versetzt ihn in ein wohltemperiertes Lesefieber - vor allem im ersten und im letzten Teil des Buchs.

Strukturell hat man als Leser leider bisweilen, vor allem im mittleren Teil, Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden: Hier wäre weniger sicher an mancher Stelle mehr gewesen.

Dennoch: Wer sich mit den Problemen der modernen Medizin vertraut machen will und wen es dabei gleichzeitig nach einer äußerst spannenden Lektüre verlangt, der ist mit Linus Geislers "Duftesser" bestens bedient.

Friedrich Hofmann

Linus Geisler: "Duftesser", Verlag Mein Buch, Hamburg, 28 Euro, ISBN: 3936128944.


Linus S. Geisler: DUFTESSER - Rezensionen
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