Zweckgerichtete Hirntod-Definition
Zum Beitrag von Martina
Lenzen-Schulte "Geschichtsklitterung in der Hirntoddebatte" (F.A.Z., "Natur
und Wissenschaft" vom 27. Oktober):
Die Empfehlung der Harvard
Kommission von 1968, das nicht mehr umkehrbare Koma als neues Todeskriterium
anzuerkennen, gilt für die Transplantationsmedizin als historische
Legitimation zur Organentnahme bei hirntoten Menschen. Wer das Original
kennt, kann gar nicht anders als darin eine eindeutige Verknüpfung
zwischen Hirntod als Todeskriterium und Organtransplantation zu erkennen.
Als Grund für das neue Todeskriterium wird angegeben:
"Überholte Kriterien
zur Bestimmung des Todes können zu Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich
einer Entnahme von Organen zwecks Transplantation führen" (Übersetzung:
Helen Siegburg, Uwe Herrmann). Freilich wurde im Harvard-Papier neben Nulllinien-EEG
und anderen Kriterien als obligates Kennzeichen gefordert: keine Bewegungen,
keine Reflexe.
Sterbende Menschen, die die
heute bei uns gültigen Hirntodkriterien erfüllen, "dürfen"
jedoch sehr wohl spontane Bewegungen (sog. Lazarus-Zeichen) und eine ganze
Reihe spinaler (d.h. vom Rückenmark ausgehender) Reflexe aufweisen.
Nach der Harvard-Deklaration hätten sie also 1968 nicht als Tote angesehen
und folglich auch nicht zur Organentnahme herangezogen werden können.
Diese Tatsache und dass in
der Folgezeit weltweit an die 30 unterschiedliche "Hirntod-Sets" publiziert
wurden, zeigt eindeutig den zweckgerichteten Verabredungscharakter der
Hirntoddefinition und die Fragwürdigkeit auf diesem Wege zu einer
anthropologisch akzeptablen Definition des menschlichen Todes zu kommen.
Dass im Hinblick auf das anbrechende Zeitalter der Transplantationschirurgie
nach der ersten gelungenen Herztransplantation durch Barnard 1967 die Deutsche
Gesellschaft für Chirurgie 1968 eine Publikation zum "Kriterium des
Todes" herausgab (Dtsch. Ärzteblatt. 19, 1968, 1113-1114), ist im
gleichen Lichte zu sehen.
Dass das neue Todeskriterium
erarbeitet wurde, um besondere Engpässe bei der intensivmedizinischen
Behandlung von Hirntoten zu vermeiden, ist wenig glaubhaft, da Hirntodesfälle
insgesamt gesehen sich selten ereignen (in Deutschland kommen von den ca.
900.000 jährlichen Sterbefällen maximal 5000 Menschen für
eine Organentnahme in Betracht). Der Tod des Menschen hat sich nicht geändert;
der Hirntod als "unsichtbarer Tod" (der Terminus erinnert an des Kaisers
neue Kleider) ist ein Resultat der zeitlupenhaften Ausdehnung dieser Sterbephase
durch Maßnahmen der Intensivmedizin. Nichts geändert hat sich
auch an der Erkenntnis, dass der Umgang einer Kultur mit ihren Sterbenden
und Toten ein guter Maßstab für ihre Einstellung zu den Lebenden
ist.
Geisler, Linus: Zweckgerichtete
Hirntod-Definition. |
Frankfurter Allgemeine Zeitung,
09.11.1999, Nr. 261, S. 21 (Briefe an die Herausgeber) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9911faz_hirntod.html |
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