Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: ZWECKGERICHTETE HIRNTOD-DEFINITION. FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG vom 09.11.1999 (Leserbrief)
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Zweckgerichtete Hirntod-Definition

Zum Beitrag von Martina Lenzen-Schulte "Geschichtsklitterung in der Hirntoddebatte" (F.A.Z., "Natur und Wissenschaft" vom 27. Oktober):

Die Empfehlung der Harvard Kommission von 1968, das nicht mehr umkehrbare Koma als neues Todeskriterium anzuerkennen, gilt für die Transplantationsmedizin als historische Legitimation zur Organentnahme bei hirntoten Menschen. Wer das Original kennt, kann gar nicht anders als darin eine eindeutige Verknüpfung zwischen Hirntod als Todeskriterium und Organtransplantation zu erkennen. Als Grund für das neue Todeskriterium wird angegeben:

"Überholte Kriterien zur Bestimmung des Todes können zu Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich einer Entnahme von Organen zwecks Transplantation führen" (Übersetzung: Helen Siegburg, Uwe Herrmann). Freilich wurde im Harvard-Papier neben Nulllinien-EEG und anderen Kriterien als obligates Kennzeichen gefordert: keine Bewegungen, keine Reflexe.

Sterbende Menschen, die die heute bei uns gültigen Hirntodkriterien erfüllen, "dürfen" jedoch sehr wohl spontane Bewegungen (sog. Lazarus-Zeichen) und eine ganze Reihe spinaler (d.h. vom Rückenmark ausgehender) Reflexe aufweisen. Nach der Harvard-Deklaration hätten sie also 1968 nicht als Tote angesehen und folglich auch nicht zur Organentnahme herangezogen werden können. 

Diese Tatsache und dass in der Folgezeit weltweit an die 30 unterschiedliche "Hirntod-Sets" publiziert wurden, zeigt eindeutig den zweckgerichteten Verabredungscharakter der Hirntoddefinition und die Fragwürdigkeit auf diesem Wege zu einer anthropologisch akzeptablen Definition des menschlichen Todes zu kommen. Dass im Hinblick auf das anbrechende Zeitalter der Transplantationschirurgie nach der ersten gelungenen Herztransplantation durch Barnard 1967 die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1968 eine Publikation zum "Kriterium des Todes" herausgab (Dtsch. Ärzteblatt. 19, 1968, 1113-1114), ist im gleichen Lichte zu sehen. 

Dass das neue Todeskriterium erarbeitet wurde, um besondere Engpässe bei der intensivmedizinischen Behandlung von Hirntoten zu vermeiden, ist wenig glaubhaft, da Hirntodesfälle insgesamt gesehen sich selten ereignen (in Deutschland kommen von den ca. 900.000 jährlichen Sterbefällen maximal 5000 Menschen für eine Organentnahme in Betracht). Der Tod des Menschen hat sich nicht geändert; der Hirntod als "unsichtbarer Tod" (der Terminus erinnert an des Kaisers neue Kleider) ist ein Resultat der zeitlupenhaften Ausdehnung dieser Sterbephase durch Maßnahmen der Intensivmedizin. Nichts geändert hat sich auch an der Erkenntnis, dass der Umgang einer Kultur mit ihren Sterbenden und Toten ein guter Maßstab für ihre Einstellung zu den Lebenden ist.


Geisler, Linus: Zweckgerichtete Hirntod-Definition.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.11.1999, Nr. 261, S. 21 (Briefe an die Herausgeber)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9911faz_hirntod.html

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