Schamlose Schöpfer
Genmanipulation oder:
die Endlospirale zum Metamenschen / Linus S. Geisler über Träume
und Visionen von Biowissenschaftlern
International führende
Biowissenschaftler glauben, daß sie nun bald soweit sind, den Menschen
selbst gentechnisch verändern zu können. Bei einer Konferenz
vor einigen Monaten in Chicago warben sie vehement für diesen "besseren
Menschen". Welches Denken hinter diesen fragwürdigen Träumen
steckt, hat Linus S. Geisler untersucht. Der Autor ist Chefarzt am St.
Barbara Hospital in Gladbeck und einer der bedeutendsten kritischen Köpfe
in der deutschen bioethischen Debatte.
Man nehme eine befruchtete
Eizelle und verändere ihr genetisches Material nach Belieben. In jeder
einzelnen Zelle des daraus entstehenden Individuums findet sich später
eine exakte Kopie aller Veränderungen - auch in den Geschlechtszellen.
Im Erbmaterial aller künftigen Generationen ist diese Kopie enthalten
- bis in alle Ewigkeit. Wer solches zustande bringen kann, wird zum Träumer
nie zuvor gekannter Träume und zum Herrscher unbegrenzter Visionen.
Was die somatische Gentherapie
dramatisch in Aussicht gestellt, bisher aber nicht im Ansatz geleistet
hat, den Sieg über Krebs, AIDS und Altern, wird die Keimbahnmanipulation
quasi als Nebeneffekt abwerfen. Ungleich mehr ist dabei über gentechnologisch
herstellbare neue Medikamente zu lesen, als über die Möglichkeit,
innerhalb kürzester Frist biologische »Designerwaffen«
zu kreieren, für die auf Jahre hinaus keine Gegenmittel zur Verfügung
stehen.
Angesagt ist jetzt, so der
US-Molekularbiologe Craig Venter, das Ende des Unwissens, ein völlig
neues Verständnis des menschlichen Körpers, eine Revolution für
die Medizin. Die Selbst-Evolutionierung des homo sapiens steht vor der
Tür. Leben, in unaufgeklärten Zeiten der Menscheitsgeschichte
als Schöpfungsgeschenk Gottes verstanden, von Darwin als Produkt eines
Zufallsprozesses durch natürlich Selektion decouvriert, wird auf eine
neue Formel gebracht: Leben ist durch Menschenhand manipulierbare (genetische)
Information. Die Umprogrammierung des Lebens wird zum technologischen Imperativ
der Biowissenschaften. Naturwissenschaftler, so belehrt uns Steen Willadsen,
Schöpfer der Chimäre »Schiege«, sollten die sogenannten
Naturgesetze weder akzeptieren noch bestätigen, sondern »sie
brechen« (im übrigen aß Willadsen später seine Chimäre
aus Kuh und Schaf auf, war aber vom Geschmack wenig begeistert).
Nach Gregory Stock, Biophysiker
und Direktor des Programms Science, Technology and Society an der UCLA
eröffnet uns die Gentechnik »die tiefreichende Macht, unsere
Kinder und die Zukunft unserer Art zu formen.« Keimbahnmanipulation
als größte Möglichkeit und Herausforderung der Molekulargenetik
»... werde uns dazu zwingen, jede Vorstellung über das Wesen
der Menschen neu zu überdenken«. Seine Leitvision, entworfen
in dem populären Bestseller Metaman, ist die Verschmelzung
von menschlichen Wesen und Maschinen zu einem »globalen Superorganismus«.
Für den Molekularbiologen
Lee Silver steht der neue, der vollkommen optimierte und natürlich
glückliche neue Mensch bereits vor der Tür. Während Darwins
Vorstellungen vom Leben noch durch das aufkommende Maschinenzeitalter geprägt
waren und Leben als hochkomplizierte und komplexe Maschinerie verstanden
wurde, hat das revidierte Bild der Evolution zur Vorstellung von Leben
als Information geführt. Evolution läßt sich aus dieser
neuen Sicht als Optimierung von Informationsverarbeitung betrachten.
Schon Norbert Wiener, Nestor
der Kybernetik, hat lebende Individuen mit Kommunikationsmaschinen verglichen,
deren Bestreben es ist, die Entropie durch Rückkopplung zu kontrollieren.
Für viele Biologen ist die in der DNA enthaltenen Information im Prinzip
unsterblich. Wird Leben als Information verstanden, dann liegt in der Information
der Schlüssel zur Unsterblichkeit, einmal durch Kopie der Information
oder ihre permanente Speicherung. Diese Informationen, die das Leben ausmachen
sollen, erscheinen selbst befremdlich kalt und unlebendig.
Es ist nicht die dichterische
Verklärung eines Gottfried Benn, der sich nach den Urahnen zurücksehnt,
die »... ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor« sind,
das Leben und Tod, Befruchten und Gebären aus seinen stummen Säften
hervorgleiten läßt. Der Genetiker Richard Dawkins, der Lebewesen
als pure Replikationsmaschinen für ihre »egoistischen«
Gene versteht, beschreibt Leben in seinem Buch Der blinde Uhrmacher
wie folgt: »Was sich im Kern jedes lebenden Dings befindet, ist nicht
ein Feuer, nicht warmer Atem, nicht ein 'Funken Leben'. Es sind Wörter,
Informationen, Anweisungen ... Wenn wir das Leben verstehen wollen, so
dürfen wir nicht an vibrierende, pochende Gele und Schlamme denken,
sondern an Informationstechniken.«
Das reduktionistische Ineinssetzen
von Leben und Informationsabläufen mag zulässig sein, um Leben
naturwissenschaftlich verständlich zu machen. Aber es enthält
nichts von dem was wir als Leben empfinden und wahrnehmen. Das Kopieren
dieser Information durch Klonen bewirkt freilich nur eine Pseudo-Unsterblichkeit:
identisches genetisches Material kann über beliebigen Zeiten erhalten
werden, allerdings nicht in ein und derselben Person. Speicherung von Information
hingegen erweist sich als Königsweg zum ältesten Menscheitstraum:
das ewige Leben im Diesseits.
Wenn der Mensch nicht mehr
und nicht weniger ist als eine singuläre Informationseinheit, gibt
es ihn, solange es diese Information gibt. Damit rückt eine ultimative
Vision in greifbare Nähe: Die Unsterblichkeit auf dem Megachip. »Leider,
so fürchte ich«, bedauert der Computerwissenschaftler Gerald
J. Sussman, »gehöre ich wohl der letzten Generation an, die
sterben wird.«
Neue Götter?
Wo soviel Machtfülle
gegeben ist, tritt nahezu unvermeidlich das Bewußtsein von Gottähnlichkeit
auf den Plan. Für Walter Gilbert ist das menschliche Genom der »Gral
der Humangenetik«, für Arthur Peacock, Biochemiker an der Cambridge
University, ist der Mensch zum »Mitschöpfer« geworden,
zum Bildhauer des neuen Menschen. Keimbahnmanipulation verleiht die Macht
»to sculpt our children«. On Behalf of God heißt
das Buch von Anderson und Reichenbach in dem zu lesen ist, daß wir
fähig sein werden,»... die Art von Lebewesen, die wir auf der
Erde haben wollen, ganz neu zu entwerfen«. Ganz folgerichtig trägt
Lee Silvers Vision in Buchform den Titel Remaking Eden. Ein ganz
ungetrübtes Paradies ist freilich nicht zu erwarten, denn Silver verkennt
nicht die neu auftauchenden gesellschaftlichen Probleme. Sie werden weniger
darin bestehen, daß sich nur reiche Populationen ein neues genetiches
Outfit werden leisten können, sondern schon in ein- oder zweihundert
Jahren sieht Silver eine »neue menschliche Spezies«, die nicht
mehr gewillt sein wird, sich mit seinen Verwandten, die noch das antiquierte,
armselige Erbgut früherer Zeiten in sich tragen (»gene poor«),
zu vermischen.
Kein Blatt nimmt Gregory
Stock vor den Mund: »In vielen Bereichen beginnen wir Gott zu spielen.«
und er betont im gleichen Atemzug: »... und können nicht zurück.«
Die Schöpfung ist jetzt unser, verkündet Jeremy Rifkin: »Wir
stellen die Regeln auf.« Wissenschaftliche Gottähnlichkeit scheint
allerdings nicht immer Unfehlbarkeit zu garantieren. Das »Beltsville
Schwein« (Beltsville pig), von Wissenschaftlern am US Departement
for Agriculture genetisch manipuliert, um menschliches Wachstumshormon
zu produzieren, erhielt eine raffinierte genetische Sonderausstattung:
Die Experten fügten einen genetische Schalter (switch) ein, durch
den sich das Wachstumshormongen nur einschalten sollte, wenn das Schwein
zinkhaltiges Futter fraß. Aber die Sache funktionierte nicht. Die
Schweine wuchsen ungehemmt und wurden zu bedauernswerten Geschöpfen
mit massiven Skelettproblemen und hervorquellenden Augen. Seither soll
das Gespenst vom »Beltsville man« umgehen.
Newspeak der Biologie
Sprache ist ein Instrument
der Welterfassung und der Konstruktion von Wirklichkeiten. Damit ist sie
ein Machtinstrument von ungeheurer Dimension Sprache kann so Gewalt ausüben,
eine Gewalt, die deshalb gefährlich ist, weil ihr Charakter nicht
offenliegt. Ein wesentliches Element der Machtausübung durch Sprache
ist die Neubesetzung und Umdeutung von Begriffen. Eine »biologische
Neusprache« im Orwellschen Sinne beginnt sich zu etablieren. Sie
dient dem gleichen Ziel, das Syme in Orwells Roman 1984 der Hauptfigur,
Winston Smith, erklärt: »Siehst du denn nicht, daß die
Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen?«
Die biologische Neusprache
ist Abwendung von der klassischen Gelehrtensprache und Hinwendung zu einem
Idiom der Verführung. Sie operiert mit euphemistischen Taschenspielertricks.
Sie beherrscht die Kunst, selbsterfüllende Prophezeiungen zum eigenen
Nutzen in die Welt zu setzen. Sie strebt Bewußtseinsveränderungen
an, die die Aufweichung bisher gültiger ethischer Wertsetzungen und
rechtlicher Schranken erleichtern.
Schon das Operieren mit dem
Terminus »Keimbahn«, der für aufgeklärte Laien in
der Mehrzahl nicht konkretisierbar und selbst vielen Ärzten unbekannt
ist, schafft willkommene Freiräume. Wo er dennoch unangebracht erscheint,
sind ebenso wenig erhellende Umformulierungen rasch zur Hand. John Campbell
und Gregory Stock sprechen von »genomischer Erweiterung«. Das
Klonen wird zur »kritischen Transformation« umtituliert. Im
übrigen sei es belanglos, ob das Klonen von Menschen verboten werden
sollte oder nicht, weil »die Biotechnologie auf breiter Front voranstürmt«.
Vollends in naive Unschuld
kleidet der Menschenkloner in spe Richard Seed seine Absichten, wenn er
öffentlich erklärt, Klonen sei nur Fortsetzung dessen, was Menschen
seit Jahrmillionen praktizierten: »wir machen nur Babys.« Klonen
als elegantere Variante der In-vitro-Fertilisation. Hinter einem »clever
design of germline«, das Assoziationen an das glamouröse Gewerbe
der haute couture erweckt, verbergen sich gewaltige Eingriffe in das menschliche
Erbgut.
Wo allgemein akzeptierte
ethische Maßstäbe dringend geboten erscheinen, genügt »internationaler
Konsens« als Legitimation. Die Perspektiven der Biotechnologie kommen
suggestiv daher. Nicht ob gentechnische Eingriffe in die Keimbahn
erfolgen sollen sei die Frage, sondern »wann, wo, für wen und
in welchem Umfang«. So bleiben Legislative und Exekutive geschickt
wieder in einer Hand.
Manipulationen an der Keimbahn
seien mit Sicherheit »unaufhaltbar«, konstatiert Gregory Stock.
Selbst weltweite Verbote würden wenig Wirkung zeigen, denn in einer
Demokratie reiche schließlich eine »signifikante Minderheit«,
um die Verabschiedung einschränkender Gesetze zu verhindern. So wird
Gentechnologie zum unabwendbaren globalen Schicksal, und Demokratie zur
leichten Übung der Gesetzesbeugung
Die Sprache und Methoden
der Computerwissenschaften, ohne die Biotechnologie nicht mehr zu leisten
wäre, führen zwangsläufig in einer Art stillen Revolution
zu grundlegenden Bewußtseinsänderungen. Was auf dem Bildschirm
erscheint, wird als Realität wahrgenommen, die allerdings nahezu beliebig
verändert, transformiert und transzendiert werden kann. Reale und
virtuelle Welten vermischen sich. Die Soziologin Sherry Turkle spricht
von der Entwicklung einer »multiplen Persönlichkeit« bei
der ersten Generation junger computerkundiger Menschen. Nicht stabile Weltbilder,
sondern deren ständige Veränderungen werden mehr und mehr zur
Zielsetzung. Veränderung, Umgestaltung, Manipulation, die durch Computersimulation
gleichsam spielerisch gelingen und eine hohe Attraktion entfalten, erweisen
sich als dominierendes methodisches Element. Sie machen vor dem Menschen
nicht halt, denn ihre Anwendung auf dessen genomisches Material drängt
sich förmlich auf.
Computersprache ist der ideale
Humus für alle Träume der Gentechnik. Das Wittgensteinsche Axiom
von den Grenzen der Sprache als den Grenzen der Welt, wird außer
Kraft gesetzt und muß neu formuliert werden: die Grenzen des Computers
bestimmten die Grenzen der Welt. Damit wird dem Menschen der feste Grund
eines geprüften Selbstverständnisses entzogen. Alles erhält
den Charakter der Vorläufigkeit, die sich beliebig manipulieren läßt.
Der archimedische Punkt des Selbst ist immer schwerer auszumachen und wechselt
schließlich ständig.
Nichts erscheint mehr festgefügt.
Selbst die Naturgesetze enthalten als wichtigste Botschaft nicht die Erhellung
des Weltverständnisses, sondern den Aufruf zu ihrer Überwindung.
Daraus resultiert ein nicht endender Zwang zur Umgestaltung, zur permanenten
Neuschöpfung der Welt. Die Realitäten erweisen sich am Ende als
digitale Tromp l'œil-Malerei höherer Ordnung, in die sich fortlaufend
wandelnde Menschenbilder projizieren lassen. Die Jagd nach dem neuen Menschen,
der als schillernder Regenbogen immer am Horizont steht, aber selbst in
einer endlosen Wanderung niemals erreicht werden kann, wird so zum Symbol
einer neuen Vorläufigkeit.
In der Computersprache gerät
der Mensch als Verschmelzung von Hardware und Software zur »Wetware«,
zu einem Teil des Systems. Seine Verbesserung erfolgt nach der Methode
der »doppelten Addition«, das heißt der Einfügung
zusätzliche Gene in einem zusätzlichen (künstlichen) Chromosom
in die Zelle. Durch Transskriptionkontrollen soll sichergestellt werden,
daß die Gene nur am richtigen Ort und zur richtigen Zeit exprimiert
werden. Die Entscheidung dazu könne beispielsweise erst vom erwachsenen
Individuum selbst mittels externer Impulse getroffen werden. Der Einwand
der Manipulation ohne »vorherige Einwilligung«, ließe
sich mit diesem Procedere der »verschobenen Einwilligung« elegant
aushebeln.
Von Mario Capecci stammt
die Idee des Crelox-Rekombinationsverfahrens. Dabei soll ein künstliches
Chromosom nach getaner Schuldigkeit deaktiviert werden können, was
seine Übertragung in die nächste Generation verhindert. Diese
Methode erlaubt es, nicht mehr von »Keimbahntherapie« sondern
von »somatischer Ganzkörpertherapie« zu sprechen, weil
es ein somatischer Eingriff an der ersten Embryozelle wäre. Verdammt
sei, wer im Hintergrund das Beltsville Schwein lauern sieht.
Da künstliche Chromosomen
nach zehn oder zwanzig Jahren hoffnungslos veraltet sein könnten,
wird ein Update mit neuesten Genkasetten die alte Software ersetzen. Gregory
Stock: »Man wird einfach die neue Version verlangen.« Die 3.5
Version des Menschen löst die ß-Version ab. Menschliche Lebenserfahrung
und ihre Sublimierung basieren im Wesentlichen auf Lernprozessen aus gemachten
Fehlern. Für den Menschen der Zukunft hält die Gentechnologie
das Debugging, die Entwanzung seines Programms bereit.
Verlust der Scham
Die Wurzeln des Traums von
der unbeschränkten Machtausübung über die Natur reichen
weit zurück. Francis Bacon sah in der Natur nichts als eine »gewöhnliche
Dirne« und rief die kommenden Generationen auf, sich diese »gehorsam
zu machen«, »auszupressen« und »zu gestalten«.
Viele moderne Molekularbiologen sind noch immer in dieser Baconschen Tradition
verhaftet.
In seinem fiktiven Roman
Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887 schrieb Edward Bellamy
1888: »Wenn das im Keim verborgene göttliche Geheimnis vollkommen
entblättert ist«, werde die Menschheit »die Evolution
vollenden« können.
Sinngemäß entspricht
dies der Prophezeiung von J. Doyne Farmer hundert Jahre später: »Wenn
wir die Fähigkeit erwerben, die Botschaften des Genoms zu entschlüsseln,
werden wir in der Lage sein, neue 'Lebewesen' zu entwerfen.« Allerdings
war Bacon sich bewußt, wie hauchdünn die Grenze zwischen Naturbeherrschung
und Naturentstellung ist. Aber er glaubte dennoch die Wissenschaft werde
»die Menschen lehren, das Joch der Gesetze auf sich zu nehmen, sich
der Autorität zu unterwerfen und ihre zügellosen Süchte
zu vergessen ...«
Wissenschaften erzeugen ein
gesellschaftliches Klima, das ihrem Gedeihen dienlich ist, auch wenn sie
kontroverse Diskussionen nicht verhindern können. Ihr Naturverständnis
sagt viel mehr über uns aus als über die Natur. Gleichzeitig
prägt ihr Naturverständnis unsere Weltsicht und damit unser Verhalten,
eine Wechselwirkung, die es schwer macht, sich ihr zu entziehen. Ihr Eklektizismus
führt zu einer eindimensionalen Sicht vom Menschen. Man wird an Edwin
A. Abbots Roman Flächenland (Flatland) erinnert: der Erzähler,
ein Quadrat mittleren Alters gerät in einem Albtraum in ein eindimensionales
Reich (Lineland), dessen Bewohner sich nur noch von einem Punkt zum anderen
bewegen können. Die Sinnfrage wird verkürzt auf die Zweckfrage.
Wieviele der Visionen unerfüllte
Träume bleiben werden, ist heute noch nicht abzusehen. Noch ist die
Keimbahn trotz der rapiden Fortschritte des Human Genom Projekts eine black
box. Das unbegreiflich komplexe Zusammenwirken der einzelnen Gene ist nicht
einmal im Ansatz durchschaut. Der selektive Blick auf künftige »Szenarien«
kann weder den künftigen Fortschritt sicher prognostizieren, noch
dessen Risiken offenlegen. Er läßt die Träume wuchern und
die Gefahren verschwinden.
Es gebe weit wirksamere Mittel
für Despoten, um ethnische oder religiöse Gruppen zu vernichten,
als Eingriffe in die Keimbahn, versucht Gregory Stock zu beschwichtigen;
die eugenischen Programme Hitlers seien schließlich nur »ein
kleiner Teil des Bösen, das er der Welt gebracht hat.«
Noch platter hat es James
Watson, Nobelpreisträger und Mitentdecker der DNA, formuliert: »Gene
an sich sind nicht böse, und Hitler ist auch tot.« Aber auch
der Plan kann schon ein Anschlag auf sein Objekt sein, wenn er die Würde
des Menschen außer acht läßt. Subtil hat Durs Grünbein
diesen Mechanismus im Gedicht beschrieben: Einen Körper zerstören
ist leicht, kinderleicht. Es genügt eine Zeichnung, ein Entwurf, der
zerreißt Die Gewebe, den hauchdünnen Fallschirm der Lunge, das
Herz, Lange im voraus ...
Jede Wissenschaft erzielt
ihre stärkste Faszination durch Überhöhung ihres Gegenstandes
zur Metapher. Die DNA wird zur mystischen Ikone stilisiert. Obwohl sie
nur das Programm ist, erfolgt ihre Gleichsetzung mit dem Leben an sich.
Das Gen figuriert als »kulturelle Ikone« (Dorothy Nelkin und
M. Susan Lindee:
The DNA Mystique: The Gene as a Cultural Icon).
Das Gen enthält den Schlüssel zu allem: zu Krankheit und Gesundheit,
zum Altern und zu ewiger Jugend, zum Unter- und zum Übermenschen,
zum Tod und zur Unsterblichkeit.
Vor der Übermacht der
Gene verschwinden die alten Begriffe von Verantwortung und Schuld. Wer
die Gene ändern kann, braucht nicht mehr die Gesellschaft zu verändern.
Das Gen erlaubt und erklärt alles, es berechtigt zu allem, es steht
für jede Verhaltensweise, es spricht den Menschen los, es erteilt
die Generalabsolution. Wer über das Gen herrscht, wird zum Erlöser,
zum Messias.
Gentechnologie versucht,
sich selbst in den Rang des Schöpferischen zu rücken und als
neue Kunstform verstanden zu werden. Dabei sind ihre Prinzipien keineswegs
neu: sie bedient sich durch Eingriffe in die Informationsabläufe des
Lebendigen der Wirkprinzipien der Natur selbst. Nur ihre Methoden sind
neu. In einem zynischen Sinne kann sie sogar Anspruch darauf erheben, mit
»natürlichen« Methoden zu arbeiten. Als Kunstform ist
sie über ethische Maßstäbe erhaben. Kunstwerke können
gefallen oder nicht, aber sie sind weder gut noch böse und damit frei
von Verantwortung oder Schuld.
So erteilt die Gentechnologie
als die bisher größte Ausweitung menschlicher Macht sich selbst
ihre Absolution. Bei nüchterner Betrachtung keimt der Verdacht, daß
die Götter der biotechnologischen Revolution letzten Endes die Sklaven
ihrer Konsumenten werden könnten, die selbstsüchtig die Verwirklichung
der Träume und Visionen der Wissenschaftler einfordern. Gentechnologie
ein armseliges Milliarden-Mißverständnis?
Craig Venter räumt unverblümt
ein, daß in dem 200-Milliarden-Markt »gnadenloser Wettbewerb«
herrscht: »Dies ist kein Akt der Nächstenliebe, es ist Business,
Geschäft an vorderster Front von Forschung und Medizin.« Jeremy
Rifkin ist überzeugt, die biotechnologische Revolution werde jeden
von uns zwingen, sich seine innersten Werte vor Augen zu halten, die Sinnfrage
zu stellen: »Vielleicht wird sich das als ihr wichtigster Beitrag
erweisen. Der Rest liegt bei uns.« Aber die Uhr läuft und ein
Moratorium ist nicht in Sicht.
Geisler, Linus S.: Schamlose
Schöpfer - Genmanipulation oder: die Endlospirale zum Metamenschen. |
Frankfurter Rundschau, 02.01.1999,
Nr. 1, S. 9 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9901fr_schamlose.html |
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