Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: Sprachlose Medizin? IMAGO HOMINIS. Band IV/Nr. 1, 1997
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Sprachlose Medizin?

Das Verschwinden des Dialogischen

Linus S. Geisler

Kommt, reden wir zusammen 
wer redet, ist nicht tot ... 
(Gottfried Benn [1]) 
Der Patient hat den Eingriff gut überstanden. Sein altes Herz wurde ihm entnommen und das neue, von einer hirntoten Selbstmörderin stammende, eingepflanzt. Ein gewaltiger, lebensrettender Eingriff. Im Arztbrief an die einweisende Klinik kommt das Wort »Herztransplantation« allerdings nicht ein einziges Mal vor. Die Rede ist immer nur von HTX, und auch der Patient spricht später immer nur von seiner HTX [2]. Erstaunlich, daß offenbar die Zeit nicht ausreicht, den Namen einer mehrstündigen, buchstäblich über Leben oder Tod entscheidenden Operation in voller Länge auszusprechen. Aber ist es wirklich eine Frage der Zeit? Ist die Einsparung von einem runden Dutzend Buchstaben wirklich Zeitersparnis? »Wo unsere moderne Medizin erfolgreich ist ...« schreibt Paul Lüth [3], »in den schweren Fällen, ist sie stumm. Das Wort ist Schnörkel, Beilage, jedenfalls kein genuiner Bestandteil der Therapie. Die Therapie ist averbal.« 

Bei Hippokrates hieß es: Erst das Wort, dann die Arznei, dann das Messer. Seit der Antike stand außer Zweifel, daß das Wort das wirkungsvollste Instrument des Arztes ist. Antiphon, der ca. 500 v. Chr. in Griechenland lebte, galt als Erfinder einer »Tröstungskunst«, die ihn berühmt machte. Er ließ den Kranken von seinem Leiden sprechen und half ihm mit einer Form der Rhetorik, die sich ebendiese Äußerungen des Kranken - ihrer Form wie ihrem Inhalt nach - zunutze machte. Mit anderen Worten: Er wandte damals die Methode an, die man heute gesprächstechnisch als »Spiegeln« bezeichnet. So gelang es ihm, die Wirklichkeit des Patienten zu erfassen und sie so umzudeuten, daß der Kranke nicht mehr darunter litt, eine Methode, der sich auch heute die Gesprächstherapie bedient. Antiphon kam später nach Korinth und bekam an der Agora ein Haus. Damals durften Ärzte noch für sich werben. Und so brachte Antiphon ein Schild an seinem Haus an mit der Inschrift: »Ich kann Krankheiten durch Worte heilen.«

In seinem Dialog mit Charmides beschreibt Platon, wie Sokrates zu einem migränekranken Jüngling gerufen wird, bei dem er ein bestimmtes Medikament anwenden sollte, das er von den Thrakern bei einem Heerzug bekommen hatte. Aber Sokrates verwickelte den Patienten als erstes in ein Gespräch. Denn der Priesterarzt, ein Schamane des Gottes Zalmoxis, hatte ihm die Arznei unter der Auflage überlassen, sie nur anzuwenden, wenn er zuvor er mit dem Kranken ein ausführliches Gespräch geführt habe. Die hellenischen Ärzte seien Krankheiten gegenüber deshalb häufig so ohnmächtig, weil sie, sobald ein Patient zu ihnen komme, sofort begännen zu trennen: das Auge vom Kopf, den Kopf vom Rumpf, den Rumpf von den Gliedern, die Glieder vom Körper und den Körper von der Seele.

Dort, wo Technologie noch nicht zum Sprachersatz geworden ist, läßt sich auch heute noch die unverfälschte Wirkung des Instrumentariums Sprache erleben. Dazu bedarf es freilich, sich in die Lebenswelt sogenannter »primitiver« Kulturen zu begeben. Bei den Kalawayas, einem Indianerstamm in den bolivianischen Hochanden, ist das Wort das entscheidende Instrument des Medizinmannes. Das Heilungsritual findet immer im Kontext der Familie statt. Es wird viel Zeit auf die Einleitung des Gesprächs verwendet. Es gibt Anwärmphasen. Dadurch erfährt der Medizinmann sehr viel aus dem Leben seines Patienten: von seinen Sorgen, seinen Problemen und seinen Lebensumständen. Das Heilungsritual ist individuell auf den einen Patienten ausgerichtet. Das Ziel der Heilung - Herstellung von Gleichgewicht, Bannung von Gefahr, Stärkung der Seele - bleibt nie abstrakt oder unsichtbar; es wird angesprochen.

Sprache und Hochtechnologie scheinen in einer Art Scherenbewegung miteinander verbunden zu sein. In einem Vademekum für den angehenden Arzt findet sich bereits 1896 folgende Empfehlung: »Hält sich ein Patient sehr lange bei der Konsultation auf ... dann erhebe man sich von seinem Stuhle und gebe damit dem Patienten einen Wink, daß die Konsultation beendigt sei ... Lange Konsultationen schwächen die Wirkung der Verordnung ab und berauben den Arzt seiner Autorität. [4]«

Es ist sicher kein Zufall, daß diese spartanisch anmutende Verordnung ärztlichen Sprachgebrauchs zur Erhaltung der »Autorität« des Arztes in die beginnende Hochphase naturwissenschaftlichen Handelns und Denkens und rasanter Technisierung der Medizin fällt, die dem Arzt ganz andere Möglichkeiten eröffnet, »Autorität« zu konstituieren, als durch das Gespräch. Ist, so ließe sich provokativ fragen, die Sprache in der Medizin umso verzichtbarer, je mehr ihr Naturwissenschaft und Technik zu Gebote stehen? Macht Fortschritt stumm? In der vorwissenschaftlichen Ära der Medizin hatte der Arzt, neben der genauen Beobachtung des Kranken nur eine Möglichkeit, eine Diagnose zu stellen, nämlich mit dem Kranken zu sprechen, vor allem ein guter Zuhörer zu sein. Heute kann er aus einem EKG-Streifen und der Konstellation von zwei Enzymen die Diagnose »akuter Herzinfarkt« mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stellen, ohne den Kranken überhaupt gesehen zu haben, geschweige denn, auch nur ein Wort mit ihm zu sprechen. 

Arztsein heißt in einem fundamentalen Sinne: verstehen und ermöglichen. Aber ist dieses Arztbild angesichts einer technisch bis an die Zähne gerüsteten Medizin nicht pure Utopie? Das Unbehagen, das uns im Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine überkommt, ist jedenfalls Realität. Die Kälte und Menschenferne, die den Kranken in der Anonymität moderner Großkliniken überfällt, wurzelt in der weitgehenden Sprachlosigkeit derartiger Institutionen. Dieses Unbehagen ist keineswegs ein Phänomen der Jetztzeit. Schon in der Grundsatzrede von Karl Jaspers [5]: »Der Arzt im technischen Zeitalter« aus dem Jahre 1958 kommt diese Verlorenheit zum Ausdruck:

»Die Diagnostik geschieht durch immer zahlreicher werdende Apparate und Laboratoriumsuntersuchungen. Die Therapie wird zur errechenbaren, immer komplizierter werdenden Anwendung der Mittel für den durch diese diagnostischen Daten erschöpften Fall. Der Kranke sieht sich in einer Welt von Apparaten, in der er verarbeitet wird, ohne daß er den Sinn der über ihn verhängten Vorgänge versteht. Er sieht sich Ärzten gegenüber, von denen keiner sein Arzt ist. Der Arzt selber scheint dann zum Techniker geworden.«
Störungen in der Arzt-Patienten-Beziehung beruhen ganz vorrangig auf Kommunikationsstörungen und -Defiziten [6]. Sachliche Divergenzen spielen eine weitaus geringere Rolle, als allgemein angenommen. Untersuchungen aus Deutschland, Österreich und den USA zeigen übereinstimmend, daß mehr als Dreiviertel aller Patienten der Meinung sind, der Arzt rede zu wenig mit ihnen, er höre nicht genügend zu, er verwende zuviele Fachtermini und gehe nicht genügend auf sie ein. Der Lehrbeauftragte für Humanität in der Medizin an der Universität Los Angeles, Dr. Norman Cousins [7], ist der Frage nachgegangen, welche Gründe Patienten dazu bewegen, ihren Arzt zu wechseln. Befragt wurden1000 Patienten, die innerhalb von 5 Jahren ihren Arzt gewechselt hatten oder es in nächster Zeit tun wollten. 563 der 1000 verschickten Fragebögen kamen zurück. Typische Begründungen für den Arztwechsel waren: 

»Ich hatte den Eindruck, mein Arzt wollte meine Beschwerdeschilderung gar nicht hören, er schien es sehr eilig zu haben, mich an die Apparatemedizin weiterzuleiten.« 

»Ich verstand gar nicht, was mir der Doktor erklärte, und war zu verwirrt und ängstlich, Fragen zu stellen.« 

»Die Kunst des Anhörenkönnens ist für den Arzt wichtiger als das Sprechen.«

Gerade in der Intensivmedizin als dem kritischsten Feld einer vorrangig apparativ ausgerichteten Therapie, zeigt sich, daß eben nicht die »Apparate«, sondern, die Menschen, die mit ihnen umgehen, Angst auslösen, und dies vor allem durch den Kommunikations- und Informationsmangel [8]. Untersuchungen an unseren eigenen Intensivpatienten ergaben, daß die den Kranken umgebenden Maschinerien eher als sicherndes Moment erlebt werden [9]. Eine Gruppe österreichischer Anästhesiologen und Intensivmediziner, geleitet von G. Pauser [10], die das »Wiener Modell« zur psychischen Betreuung schwer-kranker Patienten entwickelt haben, führte Untersuchungen auf drei Wiener Intensivstationen an 50 zufällig ausgewählte Patienten durch, um heraus-zufinden, aus welchen Elementen die höchste Streßbelastung auf der Intensivstation resultiert. Das Fazit war, daß die schwerste emotionale Belastung durch Informations- und Kommunikationsmangel zustande kam. Typische Antworten auf die Frage nach den Gründen waren:

»Daß ich nicht weiß, wie lange ich im Krankenhaus liegen muß.«

»Daß mir nur oberflächliche Informationen gegeben werden, was meinen Gesundheitszustand, meine Krankheit betrifft.«

»Daß ich nur so wenig und so kurzen Kontakt mit den Ärzten habe.«

»Daß mir keiner sagt, was die Ärzte als nächsten Schritt mit mir vorhaben.«

Im Zuge zunehmender computergestützter Diagnosesysteme gibt es schon Stimmen, wie die von James G. Mazoué [11], die es als unethisch erachten, den »polyfunktionalen praktischen Arzt« nicht durch eine computerisierte Form der Entscheidungsfindung zu »verdrängen«. Dies ist im übrigen nur eines von vielen Phänomen, die die Elimination des Arztes durch sich selbst erkennen läßt.

Während bei den Expertensystemen immerhin noch eine Art Dialog zwischen Mensch (Arzt) und Computer erfolgt, zeichnen sich Entwicklungen ab, die derartige Systeme als obsolet erscheinen lassen. Mit der Visionik entsteht eine völlig neue technische Disziplin der Wahrnehmung. Eine an einen Computer angeschlossene Videokamera analysiert ihre Objekte nicht für einen außenstehenden Betrachter, sondern für »die Maschine selbst«. Sie wird zur Seh-Maschine, die gleichsam blicklos sieht. Sie hat keinen Ausgang zur Erzeugung eines Bildes, einer Kurve oder einer Graphik auf einer »außen« lokalisierten Oberfläche. Das Resultat der von ihr vollzogenen Interpretation ihrer Wahrnehmungen löst dann bestimmte Reaktionen der Maschine aus. Projiziert in die Vision einer zukünftigen Medizin ergibt sich das Szenario eines mit der Wahrnehmungsmaschine verkoppelten Patienten, bei dem die Maschine ihre »Wahrnehmungen« (biochemische Parameter, Normabweichungen) in vorprogrammierte Reaktionen mit korrektiver Wirkung umsetzt. Mit anderen Worten, der Computer selbst behandelt - die Maschine als Heiler. 

In diesen Wahrnehmungsvorgang ist ein Betrachter konventioneller Art, wie der Arzt, nicht mehr involviert. Der Arzt ist nunmehr nicht nur blind, weil ihm der Einblick in den Mensch-Maschinen-Komplex verwehrt ist, sondern er wird zum Opfer einer Blindheit höherer Ordnung. Er kommt in dem diagnostsich-therapeutischen Prozeß nicht mehr vor. Er ist zum unsichtbaren Blinden geworden, der sich vielleicht noch in nostalgischer Anwandlung an die Zeiten der Arzt-Apparate-Patientenbeziehung erinnert. [12]

Technik erzeugt eine neue Sprache, die den Menschen zum Aggregatträger, zur technischen Maschine reduziert (»Batteriewechsel«). Der Sohn einer meiner Patientinnen fragte mich nach einer »‹Betriebsanleitung für unsere Mutter« nach der Entlassung. Technik bedient sich merkwürdig oft der Sprache der Kriegsführung, vor allem in der Onkologie. Da ist von Abwehrkräften die Rede, von aggressiver Therapie, von invasivem Wachstum, von radikalem Eingriff, von Beschießen mit Strahlen oder von Killerzellen (Suzan Sontag [13]).

Technik produziert alternative Realitäten. Schon im Turmbau zu Babel 1931 sagt Egon Friedell [14]: »Es gibt keine Realitäten mehr, sondern nur noch Apparate: Eine Welt von Apparaten, ersonnen im Gehirn eines boshaften und wahnsinnigen Doktor Mirakel.« Die sogenannten »harten Daten«, die die Technik liefert, werden um Potenzen höher bewertet, als die sog. »weichen Daten«, die der Kommunikation mit dem Kranken entspringen. Ein typisches Verhalten in der klinischen Therapie ist das »Spiegel-Denken«, wie Frank Praetorius [15] es einmal genannt hat: Die Ausrichtung der Behandlung vorrangig an Arzneimittel-Spiegeln im Blut unter weitgehender Ausblendung des Patienten. Der erfahrene Kliniker allerdings weiß, wie viele seiner schwierigsten Diagnosen er den weichen Daten des klinischen Blicks verdankt, und daß diese sich weitgehend der digitalen Erfassung entziehen. 

Der Einzug der virtuellen Realität in die Medizin, vor allem in die Edukation, wird zu einer »Medizin des Scheins«[16] und damit einer weiteren mentalen Distanzierung zwischen Medizinern und Patienten führen. Der »digitale Leichnam« als Ersatz für die studentische Ausbildung im Seziersaal oder als Übungsobjekt für angehende Chirurgen ist bereits in den USA und Australien Wirklichkeit [17]. Der Horizont der Wirklichkeitserfahrung wird hier nicht mehr von der Sprache, sondern von den Computer-Kenndaten begrenzt. Es drängt sich die Frage auf, ob die Erkenntnis Ludwig Wittgensteins [18]:»Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.« nicht abgeändert werden muß: Die Grenzen meines Rechners sind die Grenzen meiner Welt. 

Technik neigt dazu, den ärztlichen Blick zu verstellen. Auch im Zeitalter von Kernspintomographie und Immunassaytechniken ermöglichen sorgfältige Anamnese und gründliche klinische Untersuchung in mehr als 70 % eine taugliche diagnostische Arbeitshypothese. Aber ärztliches Vertrauen baut oft weit mehr auf Technik als auf das Gespräch mit dem Kranken. Technik verbreitet für den Patienten ein Klima der Undurchschaubarkeit. Eine typische Situation ist das Visitengespräch mit rein technischen Inhalten, das für den Patienten unverständlich abläuft und Unmündigkeit produziert, und dies in einer Zeit, in der das Schlagwort vom »mündigen Patienten« floriert. Sehr treffend schreibt Thomas Bernhard aus leidvoller eigener Erfahrung in seinem Buch »Der Atem« [19]: »Die Visite, der Höhepunkt an jedem Tag, war gleichzeitig immer die größte Enttäuschung gewesen«. Die Innenwelt des Patienten wird weitgehend ausgeblendet, ganz zu schweigen von Fragen, die die »letzten Dinge« berühren. Da Kommunikation keine Einbahnstraße darstellt, sondern einer zirkulären Gesetzlichkeit gehorcht, verwundert es nicht, daß auch die Patienten sich auf Vordergründigkeiten ihres Krankseins zurückziehen. So führt Engelke [20] in seinem Buch »Sterbenskranke und die Kirche« aus, daß nur 5% der Todkranken religiöse Fragen ansprechen und auch nur 5% um religiösen Zuspruch bitten. Sind andere Personen im Raum, schrumpft der Prozentsatz auf Null. In einer eigenen Untersuchung an fünfzig ehemaligen Patienten unserer Intensivstation wurde auch die Frage gestellt: »Hatten Sie während der Behandlung auf der Intensivstation das Bedürfnis nach geistlichem Zuspruch?«. Vierundvierzig Patienten antworteten mit »nie«, zwei mit »manchmal« und lediglich zwei mit »sehr oft«. [21]

So spielen sich Gesprächsrituale zwischen Arzt und Patient ein, die oberflächlich die Merkmale einer freundlichen, ja sogar zugewandten Kommunikation tragen können, in der Tiefe aber empathisch leer sind und von einem emotionalen Analphabetismus zeugen. Vollends zur Waffe, die tiefe Wunden schlagen kann, wird das Instrument Sprache besonders in den Händen jenes Typus von Arzt, dessen Menschenbild nach ausschließlich rationalen Denkstrukturen zusammengefügt ist. Eine Patientin mit inoperablem Brustkrebs, die über ihren Haarverlust durch die Chemotherapie klagt, erhält von ihrer erstaunten Ärztin die Antwort: »Ist denn Haarverlust ein Ich-Verlust? Ich verstehe gar nicht, daß das Ich so in den Haaren liegt.« Einem 27jährigen Patienten mit angeborenem Herzfehler, der zur Herztransplantation vorgesehen ist, wird vom Kardiochirurgen in munterem Stil eröffnet:»Statistisch gesehen leben Sie schon zehn Jahre länger, als es zu erwarten gewesen wäre ...«.

Kann der ärztliche Beruf, über den der Münchener Medizinhistoriker Hermann Kerschensteiner [22] einmal gesagt hat, er sei wunderlicher Natur, und immer wieder würden geistvolle Köpfe darüber nachdenken, was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft, Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft, das Wesentliche sei, auf das Gespräch mit dem Kranken zunehmend verzichten? Sprache quasi nur noch als Luxuskonsumption? Heidegger gebraucht das Bild von der Sprache als dem »Haus des Seins« [23]. Ohne Sprache ist der Mensch ein unbehauster, ungeborgen, grenzenlos einsam. »Ohne die Sprache«, so Hegel, »wäre nur die bewußtlose Nacht [24]«.

Es ist bemerkenswert, wie gerade die philosophischen und soziologischen Erkenntnisse der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts, die die unglaubliche Bedeutung des Dialogischen für die menschlichen Beziehungen offen gelegt haben, von der Wucht der Hochtechnologie verdrängt wurden. Dem österreichische Philosophen Ferdinand Ebner, dem Soziologen Rosenstock-Huessy und dem französische Denker Gabriel Marcel ist vor allem die Einsicht zu verdanken, daß die personale Wirklichkeit des Menschen nicht in der Entfaltung der Autonomie des Subjekts zu suchen sei, sondern in der Beziehung von Subjekt zu Subjekt, vom Ich zum Du, und daß sich diese Beziehung grundlegend in der Sprache, im Dialog realisiert [25]. Menschliche Personen, hat Guardini sinngemäß gesagt, gäbe es nicht »in der Einzahl«. Noch am ehesten haben die Psychiatrie und die Psychotherapie der Einsicht vom dialogischen Charakter der menschlichen Person Rechnung getragen ( zum Beispiel Hans Trüb [26]) Untermauert wurden diese Erkenntnisse durch Ergebnisse der Entwicklungspsychologie und physiologische Experimente mit Einschränkung von Sinnesreizen. Sie alle zeigten, daß Menschen weder köperlich noch seelisch das gänzliche Fehlen von Kommunikation mit anderen überstehen können [27].

Im Grunde sind diese Erkenntnisse nicht neu. Frater Salimbene aus Parma berichtet in seiner Chronik über Kaiser Friedrich II, der die Ursprache des Menschen herausfinden wollte. Zu diesem Zweck ließ er mehrere Kinder von Geburt an von Ammen aufziehen, die den Auftrag hatten, sich der Kinder in jeder Weise anzunehmen, aber nicht in ihrer Gegenwart zu sprechen. Der Kaiser hoffte auf diese Weise herauszufinden, ob die Kinder spontan beginnen würden Hebräisch, Arabisch, Griechisch oder Latein zu sprechen. Leider scheiterte das Experiment kläglich:»Es war verlorene Mühe, denn die Kleinen starben alle.« [28]

Die Ich-Einsamkeit des Subjekts, noch verstärkt durch die Isolation, die fast jede Krankheit mit sich bringt (man wird sofort an die Verlorenheit des Menschen in Großkliniken erinnert), ist nur durch die Sprache zu überwinden, wobei Sprache für jede Form der zwischenmenschlichen Kommunikation steht. Wird dieser Aspekt verdrängt, wie zum Beispiel in der Transplantationsmedizin, so erscheint es nur folgerichtig dem Hirntoten, trotz seiner immer noch bestehenden Einbindung in einen sozialen Kontext (Angehörige, Pflegekräfte) den Status des Personseins abzusprechen. Eine »leere Körperhülle« soll der hirntote Mensch sein, so wird uns heute gesagt, [29] ein herrenloses, verfügbares Gut [30]. Dies ist die Stimme die der Instrumentalisierung des Menschen das Wort redet. [31] Dieses Menschenbild geht vom Sterbenden und Toten als verfügbarer Biomasse aus. Der Körper wird zur käuflichen und verkäuflichen Ware, seine Teile sind zur kommerziellen Verwertung freigegeben. [32] Die cartesianische Betrachungsweise des menschlichen Körpers als defekter, reparaturbedürftiger Maschine, deren Teile ersetzt werden können, prägt zwangsläufig auch den Dialog mit den möglichen Nutznießern einer solchen Therapieform und deren Selbstbild. »Sie interessieren sich hauptsächlich für mein Herz und meine Lunge«, sagt die junge Organempfängerin. »Aber das sind ja gar nicht meine Organe. Das bin ich nicht. Mich gibt es nicht mehr.« [33] Hier ist die Sprache zwischen Arzt und Patient reduziert auf die Mitteilung sachlicher Inhalte und ihres eigentlichen Wesens als Symbol und Medium interpersonaler Beziehungen beraubt.

Arztsein ist ein in erster Linie sprechender Beruf [34]. Nur eine professionelle Handhabung der Sprache in einer empathischen Haltung macht dieses ärztliche Instrument von höchster Wirksamkeit zu einem heilenden Instrument. Die unprofessionelle, die unreflektierte, die unkultivierte Sprache hingegen wandelt sich zum höchstgefährlichen Instrument, das Wunden mit lebenslangen Narben setzen und im äußersten Fall töten kann. Es ist kein Zufall, wenn Dolf Sternberger im »Wörterbuch des Unmenschen« ausführt, daß sich »in der Sprache alles Menschliche bezeugt, niederschlägt und ablagert: das Menschliche, das allzu Menschliche und auch das Unmenschliche«.

Aber verstehende und helfende Sprache fällt dem Arzt nicht in den Schoß. Verstehende Medizin setzt eine Sprache voraus, die natürlich und kunstvoll zugleich ist. Dieses Sprechen kann, zumindest was die gesprächstechnischen Fertigkeiten und die Einstellung, in der dieses Sprechen erfolgen sollte, gelehrt und gelernt werden. Die ärztliche Realität steht dazu in eindeutigem Widerspruch. Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte mit der Thematik »Kommunikation« zählen zu den notorisch am schwächsten besuchten Kongressen. Vor einigen Jahren veranstaltete der Verband der Österreichischen Krankenschwestern in Salzburg eine Tagung zum Thema »Kommunikation im Krankenhaus«. Geladen waren auch rund 500 Ärzte. Außer den Referenten erschein kein einziger. [35]

Der Ruf nach der »sprechenden Medizin« ist zwar unüberhörbar laut und der neue EBM-Katalog umfaßt eine ganze Reihe von Ziffern für »sprechende Medizin«. Sprechende Medizin wird also zwar differenziert honoriert, aber sie wird nicht gelehrt. Gebrauchtwagenhändler, Pharmavertreter und Aktienverkäufer, die sich fraglos heute alle als sprechende Berufe verstehen, wissen, daß sie ohne ein professionelles Gesprächstraining hoffnungslos auf der Strecke bleiben. Für den angehenden Arzt existiert nicht einmal im Ansatz ein Minimum an Ausbildung und Training im Arzt-Patienten-Dialog. Der Student, der Arzt im Praktikum, der junge Assistenzarzt und der spätere praktische Arzt sind, was das ärztliche Gespräch anbetrifft, Amateure, und - wenn es gut geht - Autodidakten, bestenfalls Naturtalente. Sie gehen in einen Beruf, in dem die Umsetzung der Möglichkeiten von High-Tech-Medizin und der verstehende Umgang zwischen Arzt und Patient nur im Gespräch zu realisieren sind, mit einem Ausbildungsdefizit, das fassungslos macht. Eine Edukation, deren Resultate in einer Art Kreuzworträtseltechnik mittels multiple-choice-Verfahren geprüft werden, hat keinen Raum für die dialogische Seite ihres Gegenstandes.

Die Schwierigkeiten und Probleme der Medizin von heute sind nicht in erster Linie Probleme, die durch eine hochtechnisierte Apparatemedizin entstanden sind, sondern durch die Unzulänglichkeiten der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, die natürlich in einer Welt voller technischer Möglichkeiten besonders fatal zu Buche schlagen. High-Tech-Medizin auf der einen Seite und eine Art Steinzeit-Kommunikation auf der anderen Seite kennzeichnen den Spannungsbogen.

Was also dringend nottut, ist eine grundlegende Erneuerung dieses Ausbildungskonzeptes. Wenn dieses Konzept nicht eine hochqualifizierte Ausbildung zum Arzt-Patienten-Dialog beinhaltet, dann wird die moderne Medizin in der permanenten Gefahr bleiben, als High-Tech-Medizin zur sprachlosen, zur stummen Medizin zu degenerieren. Sprechen und Gesprochenes zu hören und zu verstehen, sind ein einzigartiges Privileg des Menschen. Eine Medizin, die sich nicht aller Möglichkeiten der sprachlichen Kommunikation bedient, muß zwangsläufig unzulänglich bleiben und sich zur Gefahr entwickeln: Denn eine sprachlose Medizin ist letztlich eine inhumane Medizin.

In seinen Gedankenskizzen über das, was wichtig ist, schreibt Karl Popper [36]:»Der größte Schritt in der Evolution war die Entwicklung der spezifisch menschlichen Sprache. Sie machte uns zu völlig bewußten Wesen, unserer selbst und unserer Aufgabe bewußt. Sie bewirkt, daß wir anderen Antwort geben können - sie machte uns verantwortlich.« Menschliche Kommunikation ist im Kern immer weitaus mehr als Informationsvermittlung. »Unsere Verantwortung für das Wort und gegenüber dem Wort«, so sagte Vaclac Havel, anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, »ist durchaus, nicht nur eine linguistische, sondern eine wesenhaft sittliche Aufgabe.« [37]

Dieses Ausbildungsziel, das im Grunde nur uralte ärztliche Werte in einem hochtechnischen Zeitalter zur Erneuerung zu bringen versucht, muß von den Ausbildungsstätten des Arztes, von den Universitäten, ausgehen. Hier muß von Anfang an den Studenten parallel zu den ersten klinischen Kontakten mit dem Patienten, das gesprächstechnische Handwerk gelehrt werden. Die Sprachlosigkeit der meisten Studenten, auch höherer Semester, am Krankenbett ist bestürzend. Hier müssen vor allem Hochschullehrer, die als Ärzte die ganze Vielfalt des Arzt-Patienten-Dialogs beherrschen, diese Fähigkeiten den angehenden Ärzten vermitteln, und zwar in einem strukturierten, aber lebendigen, stets den Patienten miteinbindenden Ausbildungskonzept. Der sprechende, hörende und verstehende Arzt ist hier als Lehrer gefragt und erst in zweiter Linie der Psychologe, Rhetoriker oder Linguist. Einer der wichtigsten Ansprüche, die an die Medizin unserer Tage zu richten ist lautet: Zurück zur Sprache! 

Der amerikanische Onkologe Bernie Siegel fragte eine seiner krebskranken Patientinnen in Vorbereitung auf eine Rede, die er vor hundert medizinischen Studienabgängern zu halten hatte, nach dem wichtigsten Ratschlag, den er den jungen Doktoren geben könnte. Die Antwort der Patientin fiel anscheinend erstaunlich einfach aus: »Sagen Sie ihnen, daß sie an meine Türe klopfen, mich begrüßen und auf Wiedersehen sagen sollen und daß sie mir in die Augen sehen sollen, wenn sie mit mir reden ...!«

Wie so häufig gelingt es auch bei der Gewichtung der menschlichen Dialogfähigkeit den Dichtern am besten mit wenigen Worten den Finger in die Wunde zu legen. So läßt Fontane [38] die Prinzessin sagen: »Sogenannte Medikamente sind und bleiben ein armer Notbehelf; alle wahre Hilfe fließt aus dem Wort. Aber freilich, das richtige Wort wird nicht überall gesprochen.«

Die Entgegnung lautet: »Gewiß, Durchlaucht, das Wort ist die Hauptsache. Das Wort ist das Wunder; es läßt uns lachen und weinen; es erhebt uns und demütigt uns, es macht uns krank und macht uns gesund. Ja, es gibt uns erst das wahre Leben hier wie dort.«
 
 

Literatur

[1] Benn, G.: Kommt. Gesammelte Gedichte; Limes Verlag Wiesbaden, und Verlag der Arche, Zürich 1956

[2] Geläufige Abkürzung in der Transplantationsmedizin für Herztransplantation.

[3] Lüth, P.: Tagebuch eines Landarztes. Stutthart, 1983

[4] Wolff, J.: Der praktische Arzt und sein Beruf. Vademecum für den angehenden Praktiker. Stuttgart 1896. zit.n. Witten, R.: Kontinuität und Wandel des Arztbildes im Abendland. In: Geßler, U., R. Pilgrim, B. Gmelin: Der Arzt. Dustri-Verlag, München-Deisenhofen. 1991.

[5] Jaspers, K.: Der Arzt im technischen Zeitalter. Klin. Wschr. 36 (1958), 1037-1043

[6] Geisler, L.S.: Arzt und Patient im Gespräch. Dt. Ärzteblatt 50, 1988, 3568-3574.

[7] Cousins, N.: How Patients Appraise Physicians. N Engl j Med 28, 1985, 1422-1424

[8] Hensel, G.: Humanität auf der Intensivstation aus der Sicht des Patienten. Arzt und Krankenhaus. S. 294-296. 1986.

[9] Geisler, L.S.: Kommunikation auf der Intensivstation. In Vorbereitung.

[10] Pauser, G., H. Benzer, B. Bunzel, Ch. Gollner, N. Mutz und H. Thoma: Die psychologische Betreuung von Intensivpatienten - das Wiener Modell. In: Hannich, H.-J., et al. (Hrsg.): Psychosomatik der Intensivmedizin. Thieme, Stuttgart - New York 1983

[11] Mazoué, J.G.: Diagnosis without doctors. J Med Philos , 1990, 15 (6) p559-79 

[12] Geisler, L.S.: Nach uns die Maschine? Das Menschenbild der modernen Medizin. FAZ, Mittwoch 4. August 1993, Nr. 178, S. N 4.

[13] S. Sontag: Krankheit als Metapher. Fischer-Verlag, Stuttgart. 1981

[14] Egon Friedell: Der Turmbau zu Babel, 1931

[15] Praetorius,F.: »Spiegel-Denken« in der klinischen Medizin. Dtsch.med.Wschr. 116 (1991), 1125-1126

[16] Geisler, L.S.: Medizin des Scheins? Virtuelle Realität und Medizin. Deutsches Ärzteblatt 91,13, 1994, B 672 -675

[17] Sherman, B., Ph. Judkins: Glimpses of Heaven, Visions of Hell. Hodder & Stoughton. London, Sydney, Auckland. 1992.

[18] Wittgenstein, L.: Logisch-Philosophische Abhandlungen. Humanities Press, New York, 1951.

[19] Bernhard, Th.: Der Atem. DTV 1978

[20] Engelke, E.: Sterbenskranke und die Kirche. Kaiser-Grünewald Verlag, München. 1980.

[21] Geisler, L.S., P. Flemm: Gott im ärztlichen Gespräch? Erfahrungsheilkunde 7, 365-370, 1994

[22} Kerschensteiner, H.: z.n. Wittern, R.: Kontinuität und Wandel des Arztbildes im Abendland. In: Geßler, U., R. Pilgrim, B. Gmelin: Der Arzt. Dustri-Verlag, München-Deisenhofen. 1991.

[23] Heidegger, M.: Sein und Zeit. Jahrbuch der Philosophie und phänomenologischen Forschung 1927

[24] Hegel, G.W.F.: zit.n. Stierlin, H.: Zwischen Sprachwagnis und Sprachwirrnis. In Watzlawick, P., P. Krieg (Hrsg.): Das Auge des Betrachters. Piper. München - Zürich 1991.

[25] Langemeyer, B.: Die Entdeckung des Dialogischen in den menschlichen Beziehungen. In: Sprachlose Medizin? Referate des fünfzehnten Ärztetages im Bistum Essen. Verlag Wort und Werk, St. Augustin, 1982.

[26] Trüb, H.: Heilung aus der Begegnung. Stuttgart 1952

[27] Gadamer, H.G., P. Vogler: Neue Anthropologie. Thieme Verlag Stuttgart. 1975

[28] Watzlawick, P., J.H. Beavin, D.D. Jackson: Menschliche Kommunikation. Formen.Störungen, Paradoxien. Bern, Stuttgart, Wien 1974 

[29] Schöne-Seifert, B.: Stellungnahme zum Transplantationsgesetz am 28. Juni 1995 vor dem Gesundheitsausschuß des Bundestages in Bonn.

[30] Schoeppe, W.: Der Leichnam gesetzlich ein herrenloses Gut. FAZ, 22. Juli 1994. S. 8.

[31] Geisler, L.S.: Organtransplantation aus medizinischer Sicht. Ethische, gesundheitspolitische Fragestellungen und gesellschaftlicher Rahmen. Wege zum Menschen. 48,4, 1996, 211-224

[32} Plöchl, G. (Hrsg.): Ware Mensch. Linde Verlag Wien. 1996.

[33] Wellendorf, E.: Mit dem Herzen eines anderen leben. Kreuzverlag. 1993.

[34] Geisler, L.S.: Arzt und Patient. Begegnung im Gespräch. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1992

[35] v. Lutterotti M.: Sprachlose Medizin. Von der Funktion des Gesprächs in der ärztlichen Praxis. Referate des fünfzehnten Ärztetages im Bistum Essen. Verlag Wort und Werk, St. Augustin, 1982.

[36] Popper K.: Gedankenskizzen über das, was wichtig ist. In: Dürr H.P., W. Ch. Zimmerli (Hrsg): Geist und Natur. Huber, Bern 1989.

[37] Havel, V.: Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. 1989.

[38] Fontane, Th: Werke. Hg. von K. Schreinert. 1968-71
 


Geisler, Linus S.: Sprachlose Medizin? Das Verschwinden des Dialogischen. Erschienen in: Imago Hominis, Wien 1997, Band IV/Nr. 1, S. 47-55
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/97imagohominis_sprachlose.html

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