Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: ÜBER EINGRIFFE INS EIGENE STERBEN SELBST ENTSCHEIDEN. DAS SONNTAGSBLATT vom 02.06.1995
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Leser, Fachleute und Journalisten diskutieren

Müssen Organspender zustimmen?

Zermürbendes Warten auf Herz oder Niere prägt den Alltag vieler Kranker. Bislang ist nur eine Minderheit bereit, im Todesfall innere Organe zu spenden. Um ein neues Transplantationsgesetz wird heftig gestritten. Sollen, wenn der Verstorbene sich zuvor nicht erklärt hat, die Angehörigen entscheiden? Oder muß im Zweifelsfall das Recht, in Würde zu sterben, Vorrang haben?

PRO: Professor Linus Geisler, St. Barbara Hospital, Gladbeck

Über Eingriffe ins eigene Sterben selbst entscheiden

Hirntote Menschen sind Sterbende. Über Eingriffe in das eigene Sterben, wie bei der Organentnahme, kann nur der Betroffene zu Lebzeiten bestimmen, nach umfassender und ehrlicher Aufklärung und aus einem freien, gereiften Entschluß heraus. Dieses Persönlichkeitsrecht ist grundsätzlich nicht übertragbar, auch nicht auf engste Angehörige.

Die Kernfrage lautet: Ist der Hirntote ein Mensch, dessen Gehirn zwar tot ist, dessen Organismus aber noch zu 97 Prozent lebt? Oder ist er ein Toter, ein Leichnam, obwohl sich eine Fülle unzweifelhafter Zeichen des Lebens an ihm beobachten lassen? Nach neueren Untersuchungen ist übrigens zweifelhaft, ob das Gehirn Hirntoter immer gänzlich funktionslos ist. Die Lebenszeichen bei Hirntoten sind vielfältig: Herz und Kreislauf funktionieren, ebenso der Stoffwechsel, Nieren, Immunsystem und Verdauung. Hirntote bewegen sich spontan (Lazarus-Syndrom) und reagieren mit Abwehrbewegungen. Bei der Organentnahme kann die Verabreichung von Narkosemitteln oder muskelerschlaffenden Medikamenten notwendig werden. Hirntote Männer können Erektionen zeigen und sogar einen Samenerguß bekommen. Hirntote Frauen können lebensfähige Kinder zur Welt bringen. Der Hirntod ist eine Vereinbarung, die die Entnahme von Organen erlaubt - im Sterben, das heißt im Leben. Niemand weiß, was der Hirntote dabei wahrnimmt oder erleidet. Nur wer diese Ungewißheit auf sich nimmt, um seine Organe leidenden Menschen zu überlassen, ist "Spender" im wahrsten Sinne des Wortes. Wer kann sich anmaßen, diese Entscheidung für einen anderen zu treffen?


Geisler, Linus: Über Eingriffe ins eigene Sterben selbst entscheiden. Das Sonntagsblatt, Nr. 22, 02.06.1995, S. 4 (Debatte)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9506sb_organspender.html

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