Dinosaurier-Ethik gegen die schöne
neue Welt
Zu viel Moral oder zu
wenig? / Linus S. Geisler fragt: Brauchen wir eine neue Ethik, weil die
alten Philosophien vor dem technischen Fortschritt kapitulieren müssen
Am heutigen Mittwoch hört
der Deutsche Bundestag Experten zur umstrittenen Bioethik-Konvention des
Europarates an. Das Papier soll unter anderem Experimente mit menschlichen
Embryonen, Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen und die
Problematik der Gentests regeln. Die Bioethik ist mittlerweile zu einem
festen Begriff geworden. Doch was verbirgt sich dahinter? Brauchen wir
eine Ethik für die Biomedizin, oder reichen unsere vorhandenen Philosophien,
Weltanschauungen und Regeln aus? Mit diesen Fragen hat sich Linus S. Geisler
befaßt. Der Autor ist Chefarzt am St. Barbara Hospital in Gladbeck.
Wir dokumentieren seinen Text im Wortlaut.
Im November 1667 verabreichte
der englische Anatom Richard Lower vor der Royal Society in London einem
jungen Mann das Blut eines Schafes. Es war der erste Versuch einer Blutübertragung
am Menschen. Drei Dinge an dem Experiment sind bemerkenswert: Da es sich
um einen körperlich Gesunden handelte, konnte ein Nutzen für
den Probanden selbst nicht erwartet werden, sehr viel eher ein Schaden.
Der Mann war geistig behindert, zählte also zu jener auffallend unscharf
definierten Gruppe von Personen, die der Entwurf der Bioethik-Konvention
des Europarates heute als »incapacitated persons« bezeichnet,
zu Deutsch geschäftsunfähige Personen.
Dabei ist zu bedenken, daß
»to incapacitate« auf Englisch in erster Linie »für
etwas untauglich machen« bedeutet. Zweifel an der Freiwilligkeit
des Experiments sind schließlich geboten. Daß man dem jungen
Mann 20 Shilling als Entschädigung bezahlte, kann als Kompensationsversuch
für ethische Bedenken ausgelegt werden.
Rund dreihundert Jahre später
schreiben zwei Bioethiker der Universität Kopenhagen in der renommierten
Zeitschrift
Bioethics (Bioethics, 08.01.1994, S. 91) nachdem sie
ihre Auffassung begründet haben, Organe lebender Personen seien »lebenswichtige
Gesundheitsressourcen«, die wie alle anderen gerecht verteilt werden
müßten, wörtlich: »Wir könnten uns daher gezwungen
sehen, daß alte Menschen getötet werden, damit ihre Organe an
jüngere, schwerstkranke Personen umverteilt werden können, die
ohne diese Organe bald sterben müßten.« (»...we
may be committed to hold that elderly persons should be killed in order
to redistribute their organs to younger, critical ill, persons who would
soon die without the organs.«). Schließlich benutzten die alten
Menschen diese lebenswichtigen Ressourcen auf Kosten von bedürftigen
jüngeren Menschen, so die Bioethiker Kappel und Sandøe.
»Was ist das Gute?«
und »Wie sollen wir handeln?« Das sind die Grundfragen, auf
die Ethik eine Antwort zu geben versucht. Aber wie die beiden Beispiele
zeigen, scheint sich, zumindest was die Biowissenschaften anbetrifft, in
den Anforderungen, die an die Ethik gestellt werden, ein Quantensprung
an Verantwortlichkeit vollzogen zu haben.
Ist also die »alte«
Ethik überhaupt in der Lage, auf die Fragen von heute zu antworten,
Fragen, die durch die Manipulierbarkeit des Lebens, vor allem an seinem
Anfang und Ende aufgetaucht sind? Ist noch Verlaß auf jenes ungeschriebene
Gesetz, von dem die Bibel sagt, daß jeder Mensch es im Lichte der
Vernunft in seinem Herzen finden könne, sogar der Ungläubige?
Ist Voltaire widerlegt, der in seiner Dictionnaire Philosophique
1764 die Ansicht vertritt, es gäbe nur eine Moral, so wie es nur eine
Geometrie gibt? Ist diese Ethik von gestern also nicht hoffnungslos überfordert,
wenn sie dem sog. Laien begreiflich machen soll, daß Beginn und Ende
des Lebens als willkürlich verrückbare biologische Zäsuren
zu betrachten sind, je nach angestrebtem Nutzen? Daß, wie die Bioethiker
Helga Kuhse und Peter Singer postulieren, Neugeborene keine Personen sind.
Sie stützen sich dabei auf den amerikanischen Philosophen Michael
Tooley, der in seinem Buch Abortion and Infanticide,1983, ausführt,
»Person« als Träger von Rechten und Interessen könne
nur ein Wesen sein, das auch Wünsche und Erfahrungen haben kann. Wie
kann diese verstaubte Ethik begreiflich machen, daß Menschen in zwei
Kategorien aufgeteilt werden, in Personen und eben solche, die nur Menschen
sind, um das Wort Un-Person zu vermeiden?
Was kann diese Dinosuarier-Ethik
dem eloquenten 38 jährigen Vordenker der schönen neuen Welt der
Genetik, Michael Rose, Professor an der University of California, entgegensetzen,
der sich eine Lebensspanne des Menschen von 400 Jahren als machbar und
wünschenswert vorstellt, und dessen Fruchtfliegen der Gattung Drosophila
in seinem Labor bereits doppelt solange leben wie deren gewöhnlichsterbliche
Artgenossen (»Wir haben bessere Fliegen geschaffen«).
Ist es nicht nur folgerichtig,
daß Michael Rose Gerontologen, die sich mit den alten Menschen von
heute befassen, wie sie leben und leiden, und die nicht gleich auf die
Visionen der Genforschung setzen, als »Nachttopf-Forscher«
deklassiert?
Wie kann sich diese urväterliche
Ethik gegen das Votum von vier deutschen wissenschaftlichen Gesellschaften
stellen, wenn sie erklären, lediglich dem »Unbefangenen«
also dem Angehörigen oder der Krankenschwester, die an einer Leiche,
einem Hirntoten, hochtechnisierte »Krankenpflege« betreibt,
erscheine dieser Mensch als lebend? Wenn sie sie als einfältige Augenmenschen
abstempeln, da sie glauben, daß ein Hirntoter ein Sterbender ist,
nur weil 97% seiner Organe leben, weil er sich spontan bewegen (sog. Lazaruszeichen)
und mit massiven Blutdruckanstiegen reagieren kann, wenn Operationsteams
seine Organe entnehmen. Weil sie sich entgegen dem Diktum eines Münchener
pädiatrischen Ordinarius weigern, die hirntote Marion Ploch auf eine
»Retorte« zu reduzieren? Weil sie nicht für wahr halten
können, daß eine Leiche neues Leben hervorbringt?
Wie soll es diese abgehalfterte
Ethik von Annodazumal fertigbringen zu überzeugen, daß die grotesken
Verhunzungen der natürlichen Schönheit von Tieren ein unabweislicher
Tribut auf dem Altar des Fortschritts ist? Daß diese transgenen Tiere
gegen keinen Naturbegriff verstoßen, da Natur ein längst überwunderen
Zustand ist, und Schöpfung ein Begriff aus der Mottenkiste. Folgerichtig
wird die Bewahrung der Schöpfung heute als »hohles Schlagwort«
(FAZ vom 19. Februar 1993) abgetan. Der Patentierung von Leben als Sache
steht kein zugkräftiges Argument mehr entgegen (erstes US-amerikanisches
Patent für ein lebendes Tier am 18. April 1988).
Der Katalog der Fragen ließe
sich beliebig verlängern. Im Kern läuft er auf die grundsätzliche
Frage hinaus: Brauchen wir eine neue Ethik, eine Art Spezialethik, weil
die althergebrachten Philosophien des richtigen Handelns vor der Fülle
technischer Errungenschaften hoffnungslos kapitulieren müssen?
Bestimmen die »seinsgeschichtliche
Technik« Martin Heideggers, die »Superstrukturen« Arnold
Gehlens oder das »System« Niklas Luhmanns unser Handeln und
weniger die verstaubte Instanz des Gewissens des Individuums? Die Wissenschaften,
allen voran die Biowissenschaften bejahen die Notwendigkeit einer Spezialethik
heftig. Der Blick in andere Sparten scheint ihnen recht zu geben: Die Neuordnung
der moralischen Kräfte des Marktes zum Beispiel haben eine Wirtschaftsethik
auf den Plan gerufen. Auch sie hält, nach der These des Vaters der
Wirtschaftsethik Arthur Rich nur das für ethisch, was dem »Sachgemäßen«
nicht widerspricht. Gefragt sind Unternehmer, die ihren gesunden »kapitalistischen
Beißinstinkt« noch nicht verloren haben (Manager Magazin).
Bejaht man die prinzipielle
Notwendigkeit von Spezialethiken, dann lassen sich bereits mit wenig Phantasie
neue Spezialethiken begründen und ausmalen: spezielle Ethikformen
für die Börse, die Rüstungsindustrie oder den Straßenverkehr,
denn in allen diesen Bereichen, kann unethisches Verhalten unabsehbare
Folgen nach sich ziehen.
Folgt man nicht nur ganz
allgemein der Einschätzung der menschlichen Natur als »wölfisch«,
wie es der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem Leviatan
postuliert, und zieht man daraus nicht nur den ebenso allgemeinen Schluß,
daß nur eine starke staatliche Reglementierung ein friedliches Zusammenleben
der Menschen gewährleistet, muß man auch nach spezifischen Gründen
fragen, die die Etablierung einer Sonderethik, wie der Bioethik, notwendig
erscheinen lassen. Die umfassende Antwort lautet: das ethische Dilemma
in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann mit der Spaltung
von zwei Grundelementen: Dem Atomkern und dem Zellkern der menschlichen
Eizelle.
Von da an erwies es sich
rasch, daß Wissenschaften, die im Namen des Lebens wirken, wie Biologie
und Medizin, durch ihre neuen, unerhörten Potentiale sich in bisher
nicht dagewesener Weise auch gegen das Leben richten können.
Die umkämpften »Rohstoffe«, so Jobst Paul, liegen heute
nicht mehr in Afrika oder Südamerika sondern im körperlichen
sowie genetischen »Material« von Menschen. Die brisantesten
Felder der Biowissenschaften sind geläufig:
- Manipulationen an menschlichen
Keimzellen,
- Herstellung von Embryonen
zu Forschungszwecken
- Kältekonservierung
(Kryokonservierung) von noch nicht »gebrauchten« Embryonen,
- Eingriffe in die Keimbahn
(Ei- und Samenzellen sind Keimbahnzellen),
- Gleichsetzung des Hirntodes
mit dem Tod des Menschen,
- Transplantation menschlicher
und tierischer Organe in den Menschen,
- Eingriffe in das menschliche
Sterben.
Die ethischen Anforderungen
scheinen die moralischen Kräfte des Menschen zu übersteigen.
Hinzu kommen Probleme, die aus der Umsetzung der neuen Technologien und
schwankender oder rasch wechselnder Wertmaßstäbe der Gesellschaft
resultieren.
In den Konzeptionen des 1994
gegründeten
Institutes für Wissenschaft und Ethik, Bonn,
das sich als »Organisationskern für eine Gesprächskultur
zwischen den Wissenschaften und der Ethik« versteht, lesen sich exemplarisch
diese neuen Probleme - häufig merkwürdig gewunden formuliert
- etwa so:
- Es ist von einer bis dahin
»unbekannten Erweiterung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten«
die Rede und ihren »schwierig abzuschätzenden Folgen und Nebenfolgen«.
Man könnte ebenso vom unkalkulierbaren Allmachtsstreben moderner Technologien
sprechen.
- Es wird die »Auflösung
der traditionellen Grenze zwischen einer auf Grundlagen bezogenen ... Forschung
und deren von therapeutischen, technisch-pragmatischen oder ökonomischen
Zielen bestimmten Anwendung« betont. Gemeint ist damit auch die unheilige
Gier nach möglichst großen Marktanteilen.
- Die »Arbeitsteiligkeit«
der modernen Technologien erschwere den »Blick auf den Gesamtzusammenhang«,
heißt
es. Das trifft zu und meint, daß mit der Anonymisierung technischer
Fortschritte als Leistung von Kollektiven, Gruppen und Gremien keine »Väter«
mehr auszumachen sind.
Die Zeiten, wo ein Edward
Teller als Vater der Wasserstoffbombe jedem bekannt war, sind vorbei. Wer
ist für den Nichtfachmann der Vater der In-vitro-Fertilisation oder
des Hirntodkonzeptes? Die Väter von damals standen zu den ethischen
und pragmatischen Konsequenzen ihrer Kinder, manchmal freilich mit Begründungen,
die schaudern lassen.
So sah der Nobelpreisträger
Max von der Laue in den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki
»die glänzende Bestätigung einer kühnen, von der Überzeugung
der objektiven Wahrheit der Physik getragenen Vorhersage.« Robert
Oppenheimer scheute bekanntlich nicht vor dem persönlichen Bekenntnis
zurück: »Es war technologisch so süß.« Die
heutigen Biowissenschaften sind vaterlos, was die konkrete, das heißt
persönliche Aufbürdung ethischer Verantwortung erschwert, ja
unmöglich macht.
- Schließlich wird
im Konzept des Bonner Institutes die »Pluralisierung des sittlichen
Bewußtseins« beklagt, im gleichen Atemzug aber ein Vorgeschmack
auf mögliche Lösungen gegeben. Diese Pluralisierung beschränke
die Übereinstimmung aller Mitglieder der Gesellschaft auf einen »schmalen
Bereich allgemeiner Normen«. Zu deutsch: Bioethik als Minimalkonsens,
der allen Wünschen und Sonderwünschen gerecht wird?
- In den Projekten ist von
Zielsetzungen die Rede, die ethisch dringlich geboten erscheinen. Zum Beispiel
(im Hinblick auf die Entschlüsselung des genetischen Programms des
Menschen) sei die Herausarbeitung der »normativen Begriffe Krankheit/Gesundheit
bzw. Behinderung« erforderlich. Heißt das nicht mit anderen
Worten, Wert und Verwertung des Menschen werden nach seinem genetischen
Programm bemessen?
Die Entschlüsselung
des Genom-Projektes liefert bereits die Daten. »Das Gen des Todes
und das Gen der Lust« eines Gottfried Benn sind, wie das Brustkrebs-Gen
und das Gen für Fettleibigkeit, keine poetischen Fiktionen mehr, sondern
wohldefinierte Abschnitte der DNA. Und sie wirken bereits stärker
in unser Leben hinein, als wir glauben.
Nach einer Umfrage in New
England/USA würden 11% der Eltern ein Kind schon deshalb abtreiben
lassen, weil ein vorgeburtlicher Gentest die Neigung zu Übergewicht
ergibt. 13% der 500 größten Unternehmen in den USA haben bereits
begonnen, ihre Angestellten auf unerwünschte Erbanlagen zu testen.
Und 62 % der befragten amerikanischen Ärzte würden eine pränatale
Diagnostik ausschließlich zum Zweck der Geschlechterauswahl vornehmen
oder veranlassen. Weibliches Geschlecht als neues Krankheitsbild?
Noch sind erst rund 200 genetische
Defekte des Fetus feststellbar. Nur 15% davon können geheilt werden,
die Hälfte verläuft tödlich oder führt zu schweren
Behinderungen. Aber als neue Technologie taucht bereits der sog. DNA-Chip
der Firma Affymetrix in Santa Clara, Kalifornien, am Horizont herauf.
Er erlaubt auf 1,28 cm2 Fläche
die parallele Anwendung Tausender Gentests.
Es wird eine neue »Renaissance«
des Person-Begriffs heraufbeschworen (von wem eigentlich?). Damit wird
von einer grundsätzlichen Unterscheidbarkeit zwischen »Mensch«
und »Person« ausgegangen, und die Entwicklung einer Person-
und Menschenwürde als Ziel genannt. Noch weniger zimperlich geht ein
führender Kopf der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit der Menschenwürde
um, wenn er das Grundgesetz und dessen Artikel 1, insbesondere die Menschenwürde,
als »Begründungsbrei« bezeichnet, der aus sehr unterschiedlichen
Motiven angerührt worden sei.
Was generell auffällt,
ist eine ans Manipulative grenzende Verwendung der Sprache, um die neuen
ethischen Maximen zu begründen. Da taucht plötzlich der Begriff
eines »technologischen Imperativ« auf. Offensichtlich will
er den Kantschen »Kategorischen Imperativ« ablösen, wonach
der Mensch nach derjenigen Maxime handeln soll, von der er sich wünschen
kann, daß sie »ein allgemeines Gesetz« werde.
Und um jedem Widerstand gegen
diesen neuen technologischen Imperativ den Wind aus den Segeln zu nehmen,
wird aufgefordert, ihm nicht mehr mit einer »nach-denklichen Philosophie«
zu begegnen, sondern mit einem »prometheischen pragmatischen Philosophieren«.
Daß die Setzung neuer
bioethischer Richtlinien und die Bewertung von Technologien weitgehend
hinter verschlossenen Türen abläuft, ist beabsichtigt. Schon
1984 empfahl ein Bundesforschungsminister den deutschen Wissenschaftlern,
die ethische Diskussion um Gentechnologie und Embryonenforschung »strikt
intern« zu führen. Es könne sonst sein, daß an irgendwelchen
Stellen Grundsatzdiskussionen ausbrächen. Lediglich die Akzeptanzdiskussion
sei in der Öffentlichkeit zu führen.
Das erinnert stark an James
Wyngaarden, langjähriger Chef des NIH (National Institutes of Health)
der USA, der 1990 die Gründung einer PR-Organisation empfahl, welche
einen »Sockel an öffentlicher Meinung schaffen soll«,
die dann den Ruf nach mehr Geld für die Biowissenschaften unterstützt
und selbst erhebt.
Paradebeispiel einer unter
Ausblendung der Öffentlichkeit versuchten, politisch gedeckten, Neudefinition
von Menschenrechten für seine 32 Mitgliedstaaten ist der Entwurf der
Bioethik-Konvention des Europarates, der wie ein Geheimpapier behandelt
wurde, obwohl er die Geschicke von ca. 720 Mio BürgerInnen berührt.
Eine Diskussion zwischen den Anwendern der neuen Technologien und den betroffenen
Bürgern wird nahezu hysterisch vermieden.
Ebenso krampfhaft wie die
Anstrengungen zur Ausgrenzung der Bürger muten die Aktivitäten
an, die die Akzeptanz der Öffentlichkeit zum Ziel haben (»Initiative
pro Gentechnik«), ein Karren, vor den sich selbst hohe kirchliche
Würdenträger, wie der Mainzer Bischof Lehman, spannen ließen.
Auch die sogenannte Technologiefolgeabschätzung
erfolgt im wesentlichen unter Ausschluß der Öffentlichkeit -
und meistens sehr spät. Dieses Gespann aus Anpassungsethik und nachhinkender
Abschätzung von Technologierisiken mutet wie der Versuch an, bewaffnete
Raubüberfälle nicht durch eine restriktive Waffengesetzgebung
zu minimieren, sondern dadurch, daß Faltblätter mit den zehn
Geboten an die Gefährdeten verteilt werden, die diese im Falle einer
Attacke den Übeltätern vorlesen können.
Wie gut die Verschleierungstaktik
funktioniert, zeigt eine Umfrage des US-Kongresses, wonach noch Anfang
der 90er Jahre weniger als 20% der Amerikaner je von den Gefahren der Biotechnologie
gehört hatten. Die Scientific Community gebärdet sich als der
exklusivste aller Zirkel. Nach ihren eigenen Worten ist nur sie der »primär
angemessene Ort« für die »Urteilsbildung in allen mit
dem Verhältnis von Wissenschaft und Ethik verbundenen Fragen«
(Präambel des Instituts für Wissenschaft und Ethik, Bonn).
Wie - rein pragmatisch betrachtet
- diese Geheimniskrämerei kontraproduktiv wirkt, zeigt das benachbarte
Ausland: In Dänemark und in den Niederlanden wurden zur Diskussion
strittiger wissenschaftsethischer Fragen »gewöhnliche Bürger«,
Hausfrauen, Handwerker, Arbeiter, Studenten geladen, und durften nach Einarbeitung
in die Materie an der bei uns peinlich vermiedenen Grundsatzdiskussion
teilnehmen und durch ihr Votum die Gesetzgebung mitbestimmen.
Die Frage ist erlaubt, ob
unsere modernen ethischen Nöte nichts anderes sind, als die zwei uralten
kardinalen Versuchungen der Menschheit, auftretend in neuem Gewand: Machtstreben
und materielle Begehrlichkeit.
Schon den alten Griechen
war die pleonexia, die Untugend des Mehrhabenwollens, der Daseinsgier
wohlbekannt. Die Frage ist keineswegs neu. Romano Guardini schrieb bereits
1939: »Der Mensch weiß ... daß es in der Technik letztlich
weder um Nutzen noch um Wohlfahrt geht, sondern um Herrschaft: um eine
Herrschaft im äußersten Sinn des Wortes, sich ausdrückend
in einer neuen Weltgestalt.«
Es geht um Macht über
Menschen und ihre Schicksale, Macht über die Entfaltung und das Ende
des Lebens. Macht über Projekte und Forschungspotentiale. Macht, die
nicht vor den Mitteln der Täuschung zurückschreckt, wenn sie
dem Laien, der es immer noch wagt, seinen fünf Sinnen zu trauen, vorwirft,
er lasse sich durch »intuitive Plausibilitäten« blenden,
und die darauf drängt, seine »intuitiven Widerstände«,
müßten durch eine »rationale Prüfung« gebrochen
werden.
Die Begehrlichkeiten erstrecken
sich von der Partizipierung an Milliardenmärkten bis zu den Organen
des Nächsten, der zum (Hirn-)Toten erklärt wird. Fetale Körperbestandteile
werden mit 100 Dollar pro Portion gehandelt, Mäuse, die durch humane
Immunzellen »vermenschlicht« wurden, für 25 000 Dollar
pro 25 Stück.
Für die In-vitro-Fertilisation
werden alleine in den USA jährlich zwei Milliarden Dollar ausgegeben,
in einer extrem übervölkerten Welt, in der hunderttausende Kinder
jährlich verhungern. Ein erfolgreicher Befruchtungsversuch (sechs
Zyklen) kostet bis zu 115 000 Dollar. Umgekehrt würde nach einer Hochrechnung
der Universität Hamburg die Abtreibung aller mongoloiden Feten bei
Müttern ab 37 Jahren den Steuerzahlern in der Bundesrepublik jährlich
48 Mio DM sparen.
Die 1400 Biotech-Firmen in
den USA setzten bereits 1993 rund 8 Milliarden Dollar um, und bei einem
Markt von 250 Millionen Amerikanern verheißen genetische Reihenuntersuchungen
der Gesamtbevölkerung nach Schätzungen des Unternehmers Orrie
Friedman einen Multi-Millionen-Dollar-Markt.
Zu betonen ist aber auch,
daß eine gesellschaftlich tragfähige Ethik niemals nur aus den
Vorstellungen und Absichten einer, wenn auch noch so machtvollen Gruppe
erwachsen kann. Ethik ist immer ein gesellschaftliches Phänomen und
das Ergebnis eines evolutiven Prozesses innerhalb einer Gesellschaft. Einseitige
Technologieschelte muß daher im Ansatz wenig wirksam bleiben.
Ethik als gesellschaftliches
Phänomen hängt wesentlich von den Leitbildern einer Gesellschaft
und ihrem vorherrschenden Menschenbild ab. Verkürzt könnte man
sagen: Jede Gesellschaft bekommt die Ethik, die sie verdient. Die Bioethik
macht dabei keine Ausnahme.
Bioethik ja oder nein? Vielleicht
- mit aller Zurückhaltung, aber nicht so: Keine Ethik unter Ausschluß
der Öffentlichkeit. Keine Legitimationsethik, und keine den Zwecken
vorauseilende Zustimmungsethik. Keine Ethik von Experten und ethischen
Zustimmungskartellen in unheiliger Allianz. Keine Ethik, die die unverstellte
Anschaung des Menschen als individuelle Plausibilitätsfalle degradiert.
Keine Ethik, die den technologischen Imperativ über den kategorischen
stellt. Keine Ethik, bei der Legislative und Exekutive nicht mehr abgrenzbar
sind. Keine Ethik, die zwischen Menschen und Personen unterscheidet.
Besser eine Ethik, die nicht
alle Fragen beantworten kann, und die unbeantwortete Fragen auch einmal
den Altinstanzen des Gewissens und der Vernunft überläßt.
Daß eine Ethik per
Gesetz verordnet im Kern fragwürdig ist, ließ sich schon vor
rund 2500 Jahren im 38. Vers des Tao-Te-King nachlesen: »Das Abhängigwerden
von der öffentlichen Moral ist aber die unterste Stufe der Sittlichkeit,
schon Ausdruck des Zerfalls.«
Geisler, Linus S.: Dinosaurier-Ethik
gegen die schöne neue Welt. Frankfurter Rundschau, 17.05.1995, Nr.
114, S. 12 |
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