Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: DINOSAURIER-ETHIK GEGEN DIE SCHÖNE NEUE WELT. FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 17.05.1995
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Dinosaurier-Ethik gegen die schöne neue Welt

Zu viel Moral oder zu wenig? / Linus S. Geisler fragt: Brauchen wir eine neue Ethik, weil die alten Philosophien vor dem technischen Fortschritt kapitulieren müssen

Am heutigen Mittwoch hört der Deutsche Bundestag Experten zur umstrittenen Bioethik-Konvention des Europarates an. Das Papier soll unter anderem Experimente mit menschlichen Embryonen, Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen und die Problematik der Gentests regeln. Die Bioethik ist mittlerweile zu einem festen Begriff geworden. Doch was verbirgt sich dahinter? Brauchen wir eine Ethik für die Biomedizin, oder reichen unsere vorhandenen Philosophien, Weltanschauungen und Regeln aus? Mit diesen Fragen hat sich Linus S. Geisler befaßt. Der Autor ist Chefarzt am St. Barbara Hospital in Gladbeck. Wir dokumentieren seinen Text im Wortlaut.

Im November 1667 verabreichte der englische Anatom Richard Lower vor der Royal Society in London einem jungen Mann das Blut eines Schafes. Es war der erste Versuch einer Blutübertragung am Menschen. Drei Dinge an dem Experiment sind bemerkenswert: Da es sich um einen körperlich Gesunden handelte, konnte ein Nutzen für den Probanden selbst nicht erwartet werden, sehr viel eher ein Schaden. Der Mann war geistig behindert, zählte also zu jener auffallend unscharf definierten Gruppe von Personen, die der Entwurf der Bioethik-Konvention des Europarates heute als »incapacitated persons« bezeichnet, zu Deutsch geschäftsunfähige Personen. 

Dabei ist zu bedenken, daß »to incapacitate« auf Englisch in erster Linie »für etwas untauglich machen« bedeutet. Zweifel an der Freiwilligkeit des Experiments sind schließlich geboten. Daß man dem jungen Mann 20 Shilling als Entschädigung bezahlte, kann als Kompensationsversuch für ethische Bedenken ausgelegt werden. 

Rund dreihundert Jahre später schreiben zwei Bioethiker der Universität Kopenhagen in der renommierten Zeitschrift Bioethics (Bioethics, 08.01.1994, S. 91) nachdem sie ihre Auffassung begründet haben, Organe lebender Personen seien »lebenswichtige Gesundheitsressourcen«, die wie alle anderen gerecht verteilt werden müßten, wörtlich: »Wir könnten uns daher gezwungen sehen, daß alte Menschen getötet werden, damit ihre Organe an jüngere, schwerstkranke Personen umverteilt werden können, die ohne diese Organe bald sterben müßten.« (»...we may be committed to hold that elderly persons should be killed in order to redistribute their organs to younger, critical ill, persons who would soon die without the organs.«). Schließlich benutzten die alten Menschen diese lebenswichtigen Ressourcen auf Kosten von bedürftigen jüngeren Menschen, so die Bioethiker Kappel und Sandøe. 

»Was ist das Gute?« und »Wie sollen wir handeln?« Das sind die Grundfragen, auf die Ethik eine Antwort zu geben versucht. Aber wie die beiden Beispiele zeigen, scheint sich, zumindest was die Biowissenschaften anbetrifft, in den Anforderungen, die an die Ethik gestellt werden, ein Quantensprung an Verantwortlichkeit vollzogen zu haben. 

Ist also die »alte« Ethik überhaupt in der Lage, auf die Fragen von heute zu antworten, Fragen, die durch die Manipulierbarkeit des Lebens, vor allem an seinem Anfang und Ende aufgetaucht sind? Ist noch Verlaß auf jenes ungeschriebene Gesetz, von dem die Bibel sagt, daß jeder Mensch es im Lichte der Vernunft in seinem Herzen finden könne, sogar der Ungläubige? Ist Voltaire widerlegt, der in seiner Dictionnaire Philosophique 1764 die Ansicht vertritt, es gäbe nur eine Moral, so wie es nur eine Geometrie gibt? Ist diese Ethik von gestern also nicht hoffnungslos überfordert, wenn sie dem sog. Laien begreiflich machen soll, daß Beginn und Ende des Lebens als willkürlich verrückbare biologische Zäsuren zu betrachten sind, je nach angestrebtem Nutzen? Daß, wie die Bioethiker Helga Kuhse und Peter Singer postulieren, Neugeborene keine Personen sind. Sie stützen sich dabei auf den amerikanischen Philosophen Michael Tooley, der in seinem Buch Abortion and Infanticide,1983, ausführt, »Person« als Träger von Rechten und Interessen könne nur ein Wesen sein, das auch Wünsche und Erfahrungen haben kann. Wie kann diese verstaubte Ethik begreiflich machen, daß Menschen in zwei Kategorien aufgeteilt werden, in Personen und eben solche, die nur Menschen sind, um das Wort Un-Person zu vermeiden? 

Was kann diese Dinosuarier-Ethik dem eloquenten 38 jährigen Vordenker der schönen neuen Welt der Genetik, Michael Rose, Professor an der University of California, entgegensetzen, der sich eine Lebensspanne des Menschen von 400 Jahren als machbar und wünschenswert vorstellt, und dessen Fruchtfliegen der Gattung Drosophila in seinem Labor bereits doppelt solange leben wie deren gewöhnlichsterbliche Artgenossen (»Wir haben bessere Fliegen geschaffen«). 

Ist es nicht nur folgerichtig, daß Michael Rose Gerontologen, die sich mit den alten Menschen von heute befassen, wie sie leben und leiden, und die nicht gleich auf die Visionen der Genforschung setzen, als »Nachttopf-Forscher« deklassiert?

Wie kann sich diese urväterliche Ethik gegen das Votum von vier deutschen wissenschaftlichen Gesellschaften stellen, wenn sie erklären, lediglich dem »Unbefangenen« also dem Angehörigen oder der Krankenschwester, die an einer Leiche, einem Hirntoten, hochtechnisierte »Krankenpflege« betreibt, erscheine dieser Mensch als lebend? Wenn sie sie als einfältige Augenmenschen abstempeln, da sie glauben, daß ein Hirntoter ein Sterbender ist, nur weil 97% seiner Organe leben, weil er sich spontan bewegen (sog. Lazaruszeichen) und mit massiven Blutdruckanstiegen reagieren kann, wenn Operationsteams seine Organe entnehmen. Weil sie sich entgegen dem Diktum eines Münchener pädiatrischen Ordinarius weigern, die hirntote Marion Ploch auf eine »Retorte« zu reduzieren? Weil sie nicht für wahr halten können, daß eine Leiche neues Leben hervorbringt?

Wie soll es diese abgehalfterte Ethik von Annodazumal fertigbringen zu überzeugen, daß die grotesken Verhunzungen der natürlichen Schönheit von Tieren ein unabweislicher Tribut auf dem Altar des Fortschritts ist? Daß diese transgenen Tiere gegen keinen Naturbegriff verstoßen, da Natur ein längst überwunderen Zustand ist, und Schöpfung ein Begriff aus der Mottenkiste. Folgerichtig wird die Bewahrung der Schöpfung heute als »hohles Schlagwort« (FAZ vom 19. Februar 1993) abgetan. Der Patentierung von Leben als Sache steht kein zugkräftiges Argument mehr entgegen (erstes US-amerikanisches Patent für ein lebendes Tier am 18. April 1988).

Der Katalog der Fragen ließe sich beliebig verlängern. Im Kern läuft er auf die grundsätzliche Frage hinaus: Brauchen wir eine neue Ethik, eine Art Spezialethik, weil die althergebrachten Philosophien des richtigen Handelns vor der Fülle technischer Errungenschaften hoffnungslos kapitulieren müssen? 

Bestimmen die »seinsgeschichtliche Technik« Martin Heideggers, die »Superstrukturen« Arnold Gehlens oder das »System« Niklas Luhmanns unser Handeln und weniger die verstaubte Instanz des Gewissens des Individuums? Die Wissenschaften, allen voran die Biowissenschaften bejahen die Notwendigkeit einer Spezialethik heftig. Der Blick in andere Sparten scheint ihnen recht zu geben: Die Neuordnung der moralischen Kräfte des Marktes zum Beispiel haben eine Wirtschaftsethik auf den Plan gerufen. Auch sie hält, nach der These des Vaters der Wirtschaftsethik Arthur Rich nur das für ethisch, was dem »Sachgemäßen« nicht widerspricht. Gefragt sind Unternehmer, die ihren gesunden »kapitalistischen Beißinstinkt« noch nicht verloren haben (Manager Magazin). 

Bejaht man die prinzipielle Notwendigkeit von Spezialethiken, dann lassen sich bereits mit wenig Phantasie neue Spezialethiken begründen und ausmalen: spezielle Ethikformen für die Börse, die Rüstungsindustrie oder den Straßenverkehr, denn in allen diesen Bereichen, kann unethisches Verhalten unabsehbare Folgen nach sich ziehen.

Folgt man nicht nur ganz allgemein der Einschätzung der menschlichen Natur als »wölfisch«, wie es der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) in seinem Leviatan postuliert, und zieht man daraus nicht nur den ebenso allgemeinen Schluß, daß nur eine starke staatliche Reglementierung ein friedliches Zusammenleben der Menschen gewährleistet, muß man auch nach spezifischen Gründen fragen, die die Etablierung einer Sonderethik, wie der Bioethik, notwendig erscheinen lassen. Die umfassende Antwort lautet: das ethische Dilemma in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann mit der Spaltung von zwei Grundelementen: Dem Atomkern und dem Zellkern der menschlichen Eizelle. 

Von da an erwies es sich rasch, daß Wissenschaften, die im Namen des Lebens wirken, wie Biologie und Medizin, durch ihre neuen, unerhörten Potentiale sich in bisher nicht dagewesener Weise auch gegen das Leben richten können. Die umkämpften »Rohstoffe«, so Jobst Paul, liegen heute nicht mehr in Afrika oder Südamerika sondern im körperlichen sowie genetischen »Material« von Menschen. Die brisantesten Felder der Biowissenschaften sind geläufig:

- Manipulationen an menschlichen Keimzellen, 
- Herstellung von Embryonen zu Forschungszwecken 
- Kältekonservierung (Kryokonservierung) von noch nicht »gebrauchten« Embryonen, 
- Eingriffe in die Keimbahn (Ei- und Samenzellen sind Keimbahnzellen), 
- Gleichsetzung des Hirntodes mit dem Tod des Menschen, 
- Transplantation menschlicher und tierischer Organe in den Menschen, 
- Eingriffe in das menschliche Sterben.

Die ethischen Anforderungen scheinen die moralischen Kräfte des Menschen zu übersteigen. Hinzu kommen Probleme, die aus der Umsetzung der neuen Technologien und schwankender oder rasch wechselnder Wertmaßstäbe der Gesellschaft resultieren. 

In den Konzeptionen des 1994 gegründeten Institutes für Wissenschaft und Ethik, Bonn, das sich als »Organisationskern für eine Gesprächskultur zwischen den Wissenschaften und der Ethik« versteht, lesen sich exemplarisch diese neuen Probleme - häufig merkwürdig gewunden formuliert - etwa so: 

- Es ist von einer bis dahin »unbekannten Erweiterung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten« die Rede und ihren »schwierig abzuschätzenden Folgen und Nebenfolgen«. Man könnte ebenso vom unkalkulierbaren Allmachtsstreben moderner Technologien sprechen. 

- Es wird die »Auflösung der traditionellen Grenze zwischen einer auf Grundlagen bezogenen ... Forschung und deren von therapeutischen, technisch-pragmatischen oder ökonomischen Zielen bestimmten Anwendung« betont. Gemeint ist damit auch die unheilige Gier nach möglichst großen Marktanteilen. 

- Die »Arbeitsteiligkeit« der modernen Technologien erschwere den »Blick auf den Gesamtzusammenhang«, heißt es. Das trifft zu und meint, daß mit der Anonymisierung technischer Fortschritte als Leistung von Kollektiven, Gruppen und Gremien keine »Väter« mehr auszumachen sind. 

Die Zeiten, wo ein Edward Teller als Vater der Wasserstoffbombe jedem bekannt war, sind vorbei. Wer ist für den Nichtfachmann der Vater der In-vitro-Fertilisation oder des Hirntodkonzeptes? Die Väter von damals standen zu den ethischen und pragmatischen Konsequenzen ihrer Kinder, manchmal freilich mit Begründungen, die schaudern lassen. 

So sah der Nobelpreisträger Max von der Laue in den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki »die glänzende Bestätigung einer kühnen, von der Überzeugung der objektiven Wahrheit der Physik getragenen Vorhersage.« Robert Oppenheimer scheute bekanntlich nicht vor dem persönlichen Bekenntnis zurück: »Es war technologisch so süß.« Die heutigen Biowissenschaften sind vaterlos, was die konkrete, das heißt persönliche Aufbürdung ethischer Verantwortung erschwert, ja unmöglich macht. 

- Schließlich wird im Konzept des Bonner Institutes die »Pluralisierung des sittlichen Bewußtseins« beklagt, im gleichen Atemzug aber ein Vorgeschmack auf mögliche Lösungen gegeben. Diese Pluralisierung beschränke die Übereinstimmung aller Mitglieder der Gesellschaft auf einen »schmalen Bereich allgemeiner Normen«. Zu deutsch: Bioethik als Minimalkonsens, der allen Wünschen und Sonderwünschen gerecht wird? 

- In den Projekten ist von Zielsetzungen die Rede, die ethisch dringlich geboten erscheinen. Zum Beispiel (im Hinblick auf die Entschlüsselung des genetischen Programms des Menschen) sei die Herausarbeitung der »normativen Begriffe Krankheit/Gesundheit bzw. Behinderung« erforderlich. Heißt das nicht mit anderen Worten, Wert und Verwertung des Menschen werden nach seinem genetischen Programm bemessen? 

Die Entschlüsselung des Genom-Projektes liefert bereits die Daten. »Das Gen des Todes und das Gen der Lust« eines Gottfried Benn sind, wie das Brustkrebs-Gen und das Gen für Fettleibigkeit, keine poetischen Fiktionen mehr, sondern wohldefinierte Abschnitte der DNA. Und sie wirken bereits stärker in unser Leben hinein, als wir glauben. 

Nach einer Umfrage in New England/USA würden 11% der Eltern ein Kind schon deshalb abtreiben lassen, weil ein vorgeburtlicher Gentest die Neigung zu Übergewicht ergibt. 13% der 500 größten Unternehmen in den USA haben bereits begonnen, ihre Angestellten auf unerwünschte Erbanlagen zu testen. Und 62 % der befragten amerikanischen Ärzte würden eine pränatale Diagnostik ausschließlich zum Zweck der Geschlechterauswahl vornehmen oder veranlassen. Weibliches Geschlecht als neues Krankheitsbild? 

Noch sind erst rund 200 genetische Defekte des Fetus feststellbar. Nur 15% davon können geheilt werden, die Hälfte verläuft tödlich oder führt zu schweren Behinderungen. Aber als neue Technologie taucht bereits der sog. DNA-Chip der Firma Affymetrix in Santa Clara, Kalifornien, am Horizont herauf. Er erlaubt auf 1,28 cm2 Fläche die parallele Anwendung Tausender Gentests. 

Es wird eine neue »Renaissance« des Person-Begriffs heraufbeschworen (von wem eigentlich?). Damit wird von einer grundsätzlichen Unterscheidbarkeit zwischen »Mensch« und »Person« ausgegangen, und die Entwicklung einer Person- und Menschenwürde als Ziel genannt. Noch weniger zimperlich geht ein führender Kopf der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit der Menschenwürde um, wenn er das Grundgesetz und dessen Artikel 1, insbesondere die Menschenwürde, als »Begründungsbrei« bezeichnet, der aus sehr unterschiedlichen Motiven angerührt worden sei.

Was generell auffällt, ist eine ans Manipulative grenzende Verwendung der Sprache, um die neuen ethischen Maximen zu begründen. Da taucht plötzlich der Begriff eines »technologischen Imperativ« auf. Offensichtlich will er den Kantschen »Kategorischen Imperativ« ablösen, wonach der Mensch nach derjenigen Maxime handeln soll, von der er sich wünschen kann, daß sie »ein allgemeines Gesetz« werde. 

Und um jedem Widerstand gegen diesen neuen technologischen Imperativ den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird aufgefordert, ihm nicht mehr mit einer »nach-denklichen Philosophie« zu begegnen, sondern mit einem »prometheischen pragmatischen Philosophieren«.

Daß die Setzung neuer bioethischer Richtlinien und die Bewertung von Technologien weitgehend hinter verschlossenen Türen abläuft, ist beabsichtigt. Schon 1984 empfahl ein Bundesforschungsminister den deutschen Wissenschaftlern, die ethische Diskussion um Gentechnologie und Embryonenforschung »strikt intern« zu führen. Es könne sonst sein, daß an irgendwelchen Stellen Grundsatzdiskussionen ausbrächen. Lediglich die Akzeptanzdiskussion sei in der Öffentlichkeit zu führen. 

Das erinnert stark an James Wyngaarden, langjähriger Chef des NIH (National Institutes of Health) der USA, der 1990 die Gründung einer PR-Organisation empfahl, welche einen »Sockel an öffentlicher Meinung schaffen soll«, die dann den Ruf nach mehr Geld für die Biowissenschaften unterstützt und selbst erhebt. 

Paradebeispiel einer unter Ausblendung der Öffentlichkeit versuchten, politisch gedeckten, Neudefinition von Menschenrechten für seine 32 Mitgliedstaaten ist der Entwurf der Bioethik-Konvention des Europarates, der wie ein Geheimpapier behandelt wurde, obwohl er die Geschicke von ca. 720 Mio BürgerInnen berührt. Eine Diskussion zwischen den Anwendern der neuen Technologien und den betroffenen Bürgern wird nahezu hysterisch vermieden. 

Ebenso krampfhaft wie die Anstrengungen zur Ausgrenzung der Bürger muten die Aktivitäten an, die die Akzeptanz der Öffentlichkeit zum Ziel haben (»Initiative pro Gentechnik«), ein Karren, vor den sich selbst hohe kirchliche Würdenträger, wie der Mainzer Bischof Lehman, spannen ließen. 

Auch die sogenannte Technologiefolgeabschätzung erfolgt im wesentlichen unter Ausschluß der Öffentlichkeit - und meistens sehr spät. Dieses Gespann aus Anpassungsethik und nachhinkender Abschätzung von Technologierisiken mutet wie der Versuch an, bewaffnete Raubüberfälle nicht durch eine restriktive Waffengesetzgebung zu minimieren, sondern dadurch, daß Faltblätter mit den zehn Geboten an die Gefährdeten verteilt werden, die diese im Falle einer Attacke den Übeltätern vorlesen können. 

Wie gut die Verschleierungstaktik funktioniert, zeigt eine Umfrage des US-Kongresses, wonach noch Anfang der 90er Jahre weniger als 20% der Amerikaner je von den Gefahren der Biotechnologie gehört hatten. Die Scientific Community gebärdet sich als der exklusivste aller Zirkel. Nach ihren eigenen Worten ist nur sie der »primär angemessene Ort« für die »Urteilsbildung in allen mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Ethik verbundenen Fragen« (Präambel des Instituts für Wissenschaft und Ethik, Bonn). 

Wie - rein pragmatisch betrachtet - diese Geheimniskrämerei kontraproduktiv wirkt, zeigt das benachbarte Ausland: In Dänemark und in den Niederlanden wurden zur Diskussion strittiger wissenschaftsethischer Fragen »gewöhnliche Bürger«, Hausfrauen, Handwerker, Arbeiter, Studenten geladen, und durften nach Einarbeitung in die Materie an der bei uns peinlich vermiedenen Grundsatzdiskussion teilnehmen und durch ihr Votum die Gesetzgebung mitbestimmen.

Die Frage ist erlaubt, ob unsere modernen ethischen Nöte nichts anderes sind, als die zwei uralten kardinalen Versuchungen der Menschheit, auftretend in neuem Gewand: Machtstreben und materielle Begehrlichkeit. 

Schon den alten Griechen war die pleonexia, die Untugend des Mehrhabenwollens, der Daseinsgier wohlbekannt. Die Frage ist keineswegs neu. Romano Guardini schrieb bereits 1939: »Der Mensch weiß ... daß es in der Technik letztlich weder um Nutzen noch um Wohlfahrt geht, sondern um Herrschaft: um eine Herrschaft im äußersten Sinn des Wortes, sich ausdrückend in einer neuen Weltgestalt.« 

Es geht um Macht über Menschen und ihre Schicksale, Macht über die Entfaltung und das Ende des Lebens. Macht über Projekte und Forschungspotentiale. Macht, die nicht vor den Mitteln der Täuschung zurückschreckt, wenn sie dem Laien, der es immer noch wagt, seinen fünf Sinnen zu trauen, vorwirft, er lasse sich durch »intuitive Plausibilitäten« blenden, und die darauf drängt, seine »intuitiven Widerstände«, müßten durch eine »rationale Prüfung« gebrochen werden. 

Die Begehrlichkeiten erstrecken sich von der Partizipierung an Milliardenmärkten bis zu den Organen des Nächsten, der zum (Hirn-)Toten erklärt wird. Fetale Körperbestandteile werden mit 100 Dollar pro Portion gehandelt, Mäuse, die durch humane Immunzellen »vermenschlicht« wurden, für 25 000 Dollar pro 25 Stück. 

Für die In-vitro-Fertilisation werden alleine in den USA jährlich zwei Milliarden Dollar ausgegeben, in einer extrem übervölkerten Welt, in der hunderttausende Kinder jährlich verhungern. Ein erfolgreicher Befruchtungsversuch (sechs Zyklen) kostet bis zu 115 000 Dollar. Umgekehrt würde nach einer Hochrechnung der Universität Hamburg die Abtreibung aller mongoloiden Feten bei Müttern ab 37 Jahren den Steuerzahlern in der Bundesrepublik jährlich 48 Mio DM sparen. 

Die 1400 Biotech-Firmen in den USA setzten bereits 1993 rund 8 Milliarden Dollar um, und bei einem Markt von 250 Millionen Amerikanern verheißen genetische Reihenuntersuchungen der Gesamtbevölkerung nach Schätzungen des Unternehmers Orrie Friedman einen Multi-Millionen-Dollar-Markt.

Zu betonen ist aber auch, daß eine gesellschaftlich tragfähige Ethik niemals nur aus den Vorstellungen und Absichten einer, wenn auch noch so machtvollen Gruppe erwachsen kann. Ethik ist immer ein gesellschaftliches Phänomen und das Ergebnis eines evolutiven Prozesses innerhalb einer Gesellschaft. Einseitige Technologieschelte muß daher im Ansatz wenig wirksam bleiben. 

Ethik als gesellschaftliches Phänomen hängt wesentlich von den Leitbildern einer Gesellschaft und ihrem vorherrschenden Menschenbild ab. Verkürzt könnte man sagen: Jede Gesellschaft bekommt die Ethik, die sie verdient. Die Bioethik macht dabei keine Ausnahme. 

Bioethik ja oder nein? Vielleicht - mit aller Zurückhaltung, aber nicht so: Keine Ethik unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Keine Legitimationsethik, und keine den Zwecken vorauseilende Zustimmungsethik. Keine Ethik von Experten und ethischen Zustimmungskartellen in unheiliger Allianz. Keine Ethik, die die unverstellte Anschaung des Menschen als individuelle Plausibilitätsfalle degradiert. Keine Ethik, die den technologischen Imperativ über den kategorischen stellt. Keine Ethik, bei der Legislative und Exekutive nicht mehr abgrenzbar sind. Keine Ethik, die zwischen Menschen und Personen unterscheidet. 

Besser eine Ethik, die nicht alle Fragen beantworten kann, und die unbeantwortete Fragen auch einmal den Altinstanzen des Gewissens und der Vernunft überläßt. 

Daß eine Ethik per Gesetz verordnet im Kern fragwürdig ist, ließ sich schon vor rund 2500 Jahren im 38. Vers des Tao-Te-King nachlesen: »Das Abhängigwerden von der öffentlichen Moral ist aber die unterste Stufe der Sittlichkeit, schon Ausdruck des Zerfalls.«


Geisler, Linus S.: Dinosaurier-Ethik gegen die schöne neue Welt. Frankfurter Rundschau, 17.05.1995, Nr. 114, S. 12
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9505fr_dinosaurier.html

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