"Der Mensch ist mehr"
Der Internist LINUS GEISLER
zum Schlagwort "Hirntod"
DIE WOCHE: Im Entwurf
zum neuen Transplantationsgesetz ist zum ersten Mal der Todeszeitpunkt
des Menschen festgelegt worden, von dem an transplantiert werden darf.
Ist ein hirntoter Mensch tot?
Linus Geisler: Nein.
Er ist ein Sterbender. Er zeigt noch eine ganze Reihe von Reaktionen, die
wir nur von Lebenden kennen. Sein Herz schlägt; er hat Stoffwechselfunktionen;
er bewegt sich spontan; er reagiert auf Schmerzreize, beispielsweise durch
starken Anstieg des Blutdrucks.
DIE WOCHE: Die Transplantationsmediziner
definieren ihn als Toten mit noch erhaltenen Körperfunktionen.
Geisler: Umgekehrt
stimmt es: Er ist ein Lebender - 97 Prozent seines Körpers leben ja
noch - ohne Hirnfunktion. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied.
Ob ein Mensch tot ist, ist doch keine medizinisch-technische Frage, sondern
eine anthropologische.
DIE WOCHE: Was macht
den Menschen aus?
Geisler: Jedenfalls
mehr als nur sein Gehirn, auf das er im Gesetzesentwurf reduziert wird.
Man entwertet damit völlig das bisherige Menschenbild des Abendlandes.
Dessen ganzheitliche Betrachtung sieht im Menschen mehr als die Summe funktionierender
Organe.
DIE WOCHE: In Schweden
und den USA wird - zur Behandlung der Parkinsonschen Krankheit - lebendes
Hirngewebe von Föten in das Gehirn der Patienten gepflanzt. Auch in
Deutschland, wird das bald möglich sein. Wie paßt das zum Hirntod-Konzept?
Geisler: Es steht
in völligem Widerspruch dazu. Denn das Hirntod-Konzept beruht gerade
auf der Annahme, das Gehirn sei das einzig wirklich lebensnotwendige Organ.
Selbst bei Tieren ist man da behutsamer: Experimente mit hirntoten Tieren
bedürfen aus Gründen des Tierschutzes einer Genehmigung.
DIE WOCHE: Folgt man
Ihrer Argumentation, dann ist die Organentnahme bei Hirntoten eine Tötung.
Geisler: Wenn man
mit mir übereinstimmt, daß es sich um einen Sterbenden handelt:
Ja. Man müßte der Öffentlichkeit endlich klaren Wein einschenken:
Der Hirntod ist nichts anderes als eine wissenschaftliche Übereinkunft.
Er ist kein Faktum. Auch im Mittelalter gab es eine ähnliche Übereinkunft:
Leprakranke wurden per Gesetz zu Toten erklärt.
DIE WOCHE: Wenn der
Hirntod als Todesdefinition nicht haltbar ist, wäre das das Ende der
Transplantationsmedizin. Jeder Herzchirurg würde zum Mörder.
Geisler: Nein. Ein
praktikabler Ausweg bestünde darin, durch einen gesellschaftlichen
Konsens die Organentnahme bei Hirntoten zu billigen und straffrei zu stellen.
Ob man sich dann diesem Konsens anschließt, ist allerdings eine sehr
persönliche Entscheidung, die nur zu Lebzeiten von jedem selbst und
von keinem anderen getroffen werden kann.
DIE WOCHE: Im vorliegenden
Entwurf kann die Zustimmung auch von Angehörigen getroffen werden.
Geisler: Das muß
unbedingt verhindert werden. Es wäre ein Eingriff in ein fundamentales
Persönlichkeitsrecht. In anderen Rechtsbereichen dulden wir das auch
nicht. Niemand käme auf die Idee, einem anderen das Recht einzuräumen,
für ihn zu wählen, zu spenden oder ein Testament einzurichten.
Geisler, Linus: "Der
Mensch ist mehr" - Interview. Die Woche, 07.04.1995,
S. 25 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9504woche_hirntod.html |
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