Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: "DER MENSCH IST MEHR" - Interview. DIE WOCHE vom 07.04.1995
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"Der Mensch ist mehr"

Der Internist LINUS GEISLER zum Schlagwort "Hirntod"

DIE WOCHE: Im Entwurf zum neuen Transplantationsgesetz ist zum ersten Mal der Todeszeitpunkt des Menschen festgelegt worden, von dem an transplantiert werden darf. Ist ein hirntoter Mensch tot? 

Linus Geisler: Nein. Er ist ein Sterbender. Er zeigt noch eine ganze Reihe von Reaktionen, die wir nur von Lebenden kennen. Sein Herz schlägt; er hat Stoffwechselfunktionen; er bewegt sich spontan; er reagiert auf Schmerzreize, beispielsweise durch starken Anstieg des Blutdrucks.

DIE WOCHE: Die Transplantationsmediziner definieren ihn als Toten mit noch erhaltenen Körperfunktionen.

Geisler: Umgekehrt stimmt es: Er ist ein Lebender - 97 Prozent seines Körpers leben ja noch - ohne Hirnfunktion. Das ist ein grundsätzlicher Unterschied. Ob ein Mensch tot ist, ist doch keine medizinisch-technische Frage, sondern eine anthropologische. 

DIE WOCHE: Was macht den Menschen aus? 

Geisler: Jedenfalls mehr als nur sein Gehirn, auf das er im Gesetzesentwurf reduziert wird. Man entwertet damit völlig das bisherige Menschenbild des Abendlandes. Dessen ganzheitliche Betrachtung sieht im Menschen mehr als die Summe funktionierender Organe.

DIE WOCHE: In Schweden und den USA wird - zur Behandlung der Parkinsonschen Krankheit - lebendes Hirngewebe von Föten in das Gehirn der Patienten gepflanzt. Auch in Deutschland, wird das bald möglich sein. Wie paßt das zum Hirntod-Konzept?

Geisler: Es steht in völligem Widerspruch dazu. Denn das Hirntod-Konzept beruht gerade auf der Annahme, das Gehirn sei das einzig wirklich lebensnotwendige Organ. Selbst bei Tieren ist man da behutsamer: Experimente mit hirntoten Tieren bedürfen aus Gründen des Tierschutzes einer Genehmigung.

DIE WOCHE: Folgt man Ihrer Argumentation, dann ist die Organentnahme bei Hirntoten eine Tötung. 

Geisler: Wenn man mit mir übereinstimmt, daß es sich um einen Sterbenden handelt: Ja. Man müßte der Öffentlichkeit endlich klaren Wein einschenken: Der Hirntod ist nichts anderes als eine wissenschaftliche Übereinkunft. Er ist kein Faktum. Auch im Mittelalter gab es eine ähnliche Übereinkunft: Leprakranke wurden per Gesetz zu Toten erklärt. 

DIE WOCHE: Wenn der Hirntod als Todesdefinition nicht haltbar ist, wäre das das Ende der Transplantationsmedizin. Jeder Herzchirurg würde zum Mörder.

Geisler: Nein. Ein praktikabler Ausweg bestünde darin, durch einen gesellschaftlichen Konsens die Organentnahme bei Hirntoten zu billigen und straffrei zu stellen. Ob man sich dann diesem Konsens anschließt, ist allerdings eine sehr persönliche Entscheidung, die nur zu Lebzeiten von jedem selbst und von keinem anderen getroffen werden kann. 

DIE WOCHE: Im vorliegenden Entwurf kann die Zustimmung auch von Angehörigen getroffen werden.

Geisler: Das muß unbedingt verhindert werden. Es wäre ein Eingriff in ein fundamentales Persönlichkeitsrecht. In anderen Rechtsbereichen dulden wir das auch nicht. Niemand käme auf die Idee, einem anderen das Recht einzuräumen, für ihn zu wählen, zu spenden oder ein Testament einzurichten.


Geisler, Linus: "Der Mensch ist mehr" - Interview. Die Woche, 07.04.1995, S. 25
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9504woche_hirntod.html

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