Der Hirntod ist eine Phase im Sterben
und damit Teil des Lebens
Wann ist der Mensch tot
/ Ein Gespräch mit dem Mediziner Linus Geisler über die Voraussetzungen
einer Organentnahme
Voraussetzung für
die Entnahme von durchbluteten Organen ist der Hirntod des Organgebers.
Bei einem Hirntoten werden Atmung und Herztätigkeit maschinell aufrechterhalten,
damit die Organe durchblutet werden und für eine Übertragung
geeignet bleiben. Im angekündigten deutschen Transplantationsgesetz
soll der Hirntod als Tod des Menschen festgeschrieben werden. Doch diese
Gleichsetzung ist umstritten. Über Hirntod und Organtransplantation
sprach mit dem Chefarzt der Inneren Abteilung des St. Barbara Hospital
in Gladbeck, Linus Geisler (unser Bild), FR-Redakteur Michael Emmrich.
FR: Herr Professor
Geisler, ist ein hirntoter Mensch tot?
Geisler: Ich sage
ganz klar: Nein. Der Hirntod ist eine markante Zäsur in einem Prozeß.
Er zeigt an, daß der "point of no return" im Sterben erreicht ist.
Er ist also eine Phase im Sterbeprozeß und damit eine Phase im Leben.
Ihre Frage läuft letztendlich darauf hinaus: Ist ein Hirntoter ein
Toter mit noch erhaltenen Körperfunktionen, oder ist er ein Lebender
- 97 Prozent seines Körpers leben ja noch - ohne Hirnfunktion?
Wir können diese Frage
ganz praktisch angehen und uns fragen: Sehen wir beim Hirntoten Zeichen
des Todes: vollkommene Reaktionslosigkeit, Muskelstarre oder Leichenflecken?
Nichts davon sehen wir. Aber wir können beim Hirntoten eine ganze
Reihe von Phänomenen beobachten, die wir nur vom Lebenden her kennen:
Sein Herz schlägt, er hat einen Stoffwechsel, er macht spontane Bewegungen
(das sogenannte Lazarus-Zeichen), er reagiert auf Schmerzreize mit massivem
Blutdruckanstieg (zum Beispiel bei der Organentnahme), und eine Hirntote
kann ein werdendes Kind ernähren, eventuell austragen.
Das sind sehr viele Zeichen,
die für Leben sprechen. Bei der intensivmedizinischen Betreuung von
Hirntoten bemüht man sich ja mit großem Einsatz um die Aufrechterhaltung
von "Vitalfunktionen" (lebenserhaltende Funktionen) - und dies bei einer
"Leiche", bei einem quasi "Scheinlebenden".
FR: Was passiert denn
mit einem Hirntoten, ehe Organe entnommen werden, warum erhalten Hirntote
Beruhigungsmittel, wenn sie doch tot sind?
Geisler: Die Transplantationsmediziner
argumentieren: Wir verabreichen Muskelrelaxantien, um Bewegungen von Hirntoten
während der Organentnahme zu vermeiden, damit die Operationsteams
nicht gestört werden und um das Pflegepersonal zu schonen. Natürlich
muß man sich fragen, was es wirklich bedeutet, wenn ein Hirntoter
auf Schmerzreize mit Bewegungen reagiert. Handelt es sich "nur" um Rückenmarksreflexe
oder doch um eine Form subtilerer Wahrnehmung?
FR: Mehrere medizinische
Fachgesellschaften haben aber im vergangenen Jahr noch einmal den Hirntod
als des Tod des Menschen verteidigt. Das hat doch den Anschein, daß
dieses Kriterium unumstritten ist.
Geisler: Hier ist
eine Antwort gegeben worden, die sich auf Methoden stützt, die diese
Antwort nicht liefern können. Man sollte eine ehrliche Position einnehmen
und feststellen: Ob ein Hirntoter lebt oder nicht, können wir nicht
als Ergebnis naturwissenschaftlicher Methoden wissen. Dieses grundsätzliche
Unwissen läßt sich nicht durch Hirnstromuntersuchungen oder
Messungen des Reflexverhaltens in Wissen überführen. Hier gibt
es nichts zu messen und nichts zu registrieren, was uns eine sichere Antwort
auf die Frage erlaubt: tot oder lebendig. Denn hier handelt es sich um
eine anthropologische Frage. Es geht um die Frage: Was ist der Mensch?
Akzeptieren wir eine Antwort,
die lautet: Der Mensch ist sein Gehirn, dann wäre der Mensch in der
Tat tot, wenn sein Gehirn tot ist. Dann kommt man aber sehr rasch in schwierige
Probleme: Zum Beispiel bei der Verpflanzung von fetalem, lebendem Hirngewebe.
Dies ist eine noch experimentelle Methode, die in Schweden und den USA
zur Behandlung der Parkinsonschen Krankheit durchgeführt wird, eventuell
in Zukunft auch bei uns. Sie steht im völligen Widerspruch zum Hirntodkonzept,
das ja darauf beruht, das Gehirn sei das einzige wirklich lebensnotwendige
Organ. Wie kann dann die Verpflanzung von Hirngewebe gerechtfertigt werden?
FR: Führt das
Hirntodkonzept nicht zwangsläufig zum Teilhirntodkonzept, wenn man
den Tod immer genauer in bestimmten Hirnarealen orten könnte, wenn
andere Teil des Gehirns noch leben?
Geisler: Diese Gefahr
liegt auf der Hand. Einmal auf Grund methodischer Probleme. Die Hirntoddiagnose
ist eine sichere Diagnose, aber sie ist wie alle Diagnosen in der Medizin
nicht unfehlbar. Dies wird auch von renommierten US-amerikanischen Transplantationsexperten
wie zum Beispiel Robert Truog oder James Fackler von der Harvard Medical
School in Boston eingeräumt und zugleich als Brückenschlag zum
Teilhirntodkonzept verstanden.
Zum anderen stellt sich die
Frage: Wie tot ist das Gehirn des Hirntoten wirklich? Aus Japan stammen
sehr sorgfältige Untersuchungen zum Beispiel von Kawamoto über
elektrische Restaktivitäten im Gehirn Hirntoter, und Yokota und seine
Mitarbeiter von der Nippon Medical School, Tokyo, haben den Nachweis einer
Hormonproduktion im Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns; d. Red.) Hirntoter
erbracht.
Als Ausweg aus diesen Problemen
bietet sich das Teilhirntodkonzept förmlich an. Der irreversible Verlust
des Bewußtseins, der dann für die Organentnahme zu Transplantationszwecken
genügen würde, ist sehr viel leichter zu diagnostizieren als
der Hirntod, und die Zahl potentieller Organgeber würde sprunghaft
ansteigen
Der Preis dafür wäre
freilich die Aufgabe unseres bisherigen Menschenbildes. Der Mensch würde
dann nur noch, ähnlich einer Maschine, nach Organfunktionen und Organhierarchien
bewertet. Die ganzheitliche Betrachtung des Menschen, der mehr ist als
nur die Summe funktionierender Organe, würde restlos geopfert.
FR: Wenn man zugesteht,
daß der Tod Ausdruck einer Konvention und der Vorstellung einer bestimmten
Zeitepoche ist, gehört demnach die Definitionsmacht über den
Menschen nicht alleine in die Hand der Medizin?
Geisler: Mit Sicherheit
nicht. Die Frage ist doch die: Wollen wir den Hirntod mit dem Tod des Menschen,
vielleicht sogar per Gesetz, gleichsetzen? Dagegen spricht wie ersichtlich
sehr vieles. Oder aber: Wollen wir einen gesellschaftlichen Konsens, wonach
wir den Hirntod mit dem Tod gleichstellen. Beides sind keine Entscheidungen
der Medizin sondern eine gesellschaftliche Übereinkunft. Sie lautet
sinngemäß im letzteren Falle: Menschen, die alle Kriterien des
Hirntodes erfüllen, werden wie Tote behandelt, ihre Organe können
unter gewissen Voraussetzungen zur Transplantation entnommen werden.
Im übrigen muß
ich in diesem Zusammenhang betonen, daß kritische Betrachtungen des
Hirntodkonzeptes nicht gleich an allen Grundfesten der Transplantationsmedizin
rütteln. Worum es geht ist, kritisch zu prüfen, ob wir das abendländische
Menschenbild aufgeben wollen, weil eine Gesellschaft zunehmend utilitaristische
Züge entwickelt, ganz zu schweigen von dem Bruch mit uralten Sterbekulturen.
FR: Wo läge dann
bei einer Akzeptanz des Hirntodes unter den von Ihnen genannten Bedingungen
ein gangbarer Weg für die Organtransplantation?
Geisler: Man sollte
vor allem ehrlich und offen vorgehen und festhalten: Der Hirntod ist eine
Übereinkunft. Er ist der Zeitpunkt im Sterbeprozeß, ab dem Organe
unter bestimmten Umständen zur Transplantation entnommen werden können,
wenn dies einem von der Gesellschaft getragenen Konsens entspricht. Ob
man sich aber als Spender - aber auch als Empfänger - dieser Übereinkunft
anschließt, kann ausschließlich eine persönliche Entscheidung
sein. Folgerichtig kann diese Entscheidung zur Organspende nur zu Lebzeiten
getroffen werden. Denn hier handelt es sich um ein fundamentales Persönlichkeitsrecht,
das nicht übertragbar ist. Es kann ja auch niemand für uns wählen
oder ein Testament errichten. Also kann nur eine enge Zustimmungslösung
in Betracht kommen, keine Informations- oder gar Widerspruchslösung.
Würde auch die Transplantationsmedizin
diesen Schritt öffentlich nach vorne tun, dann bin ich mir sicher,
daß der vielbeschworene Rückgang an Spenderorganen nicht eintreten
müßte. Und: Die Transplantationsmedizin würde sich endlich
auf einem sichereren juristischen, ethischen und anthropologischen Boden
bewegen.
Geisler, Linus: Der
Hirntod ist eine Phase im Sterben und damit Teil des Lebens.
Frankfurter Rundschau, 24.02.1995, S. 16 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9502fr_hirntod.html |
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