Blind durch eine Flut von Bildern?
Medizin und Ikonomanie
- wie der Kranke zunehmend aus dem Blickfeld gerät / Von Linus S.
Geisler
Die Bilderflut, der sich
der Mensch von heute in einer "Guckguck-Welt", wie Neil Postman sie nennt,
ausgeliefert sieht, macht begeiflicherweise auch vor einer Medizin nicht
halt, die vor allem diagnostisch auf Hochtechnologie baut. Ihr technisches
Repertoire ist beträchtlich: konventionelle Radiologie, Ultraschalldiagnostik,
Endoskopie, Szintigraphie, Kernspintomografie bis hin zu Single-Photonen-Emissions-Computertomographie
(SPECT) oder Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Eine Computer-Recherche
unter dem Suchwort "imaging" hat ergeben, daß in der medizinischen
Weltliteratur alleine der letzen beiden Jahre 22 582 Publikationen enthalten
sind, die sich mit bildgebenden Verfahren im engeren und weiteren Sinn
beschäftigen.
Da kann es nicht erstaunen,
daß Patienten, von denen fünfzig oder hundert Röntgenbilder
existieren, keine Seltenheit sind. Amerikanische Untersuchungen, wonach
bei fast einem Drittel der Patienten Röntgenbilder ohne Verlust an
diagnostischer Relevanz hätten unterbleiben können, sind ohne
weiteres auf europäische Verhältnisse übertragbar. Die pränatale
Diagnostik erzeugt bereits routinemäßig Bilder vom Menschen,
noch ehe er das Licht der Welt erblickt hat. Von manchem Achtzigjährigen
werden in den letzten Lebenstagen mehr Bilder angefertigt, als in den gesamten
acht Jahrzehnten zuvor.
Niemand wird vernünftigerweise
bestreiten, daß die Ultraschalldiagnostik als nichtbelastendes, nichtinvasives,
jederzeit wiederholbares bildgebendes Verfahren in der Hand des Geübten
zu den größten diagnostischen Fortschritten gehört. Und
jeder würde die noch so kostspielige Computertomographie des Schädels
der Tortur einer Luftenzephalographie vorziehen. Unbestreitbar ist natürlich
auch, daß jede technologische Innovation schon den Keim ihrer überbordenden
Anwendung in sich trägt; warum sollte dies für Medizintechnologie
nicht gelten?
Aber bedeutet es nicht, die
Augen vor möglicherweise tiefer liegenden Phänomenen zu verschließen,
wenn man die Ikonomanie der Medizin nur als Spezialfall einer allgemeinen
Sucht nach Bildererzeugung (täglich werden in den USA 41 Millionen
Fotos aufgenommen) ansieht? Ist es nicht vielmehr sogar notwendig, weiterzufragen,
gerade weil es sich um eine auch die Medizin erfassende Erscheinung weiter
reichender Implikationen handelt. Geht es in der ärztlichen Diagnostik,
wie der Medizinethiker Frank Praetorius fragt, um "Bilder machen oder Gedanken",
das heißt um den Primat der Reproduktion gegenüber der Reflexion?
Was bedeutet es überhaupt, als Arzt Bilder von Menschen zu machen?
Heißt dies nicht auch immer, sich ein Bild vom Menschen zu machen?
Man muß dabei an Max Frisch denken, der einmal sagte, es sei Ausdruck
der Lieblosigkeit, einen Menschen auf bestimmte Erfahrungen, bestimmte
Eigenschaften und bestimmte Charakterzüge zu reduzieren, denn Liebe
und Sympathie folgten einem einzigen Imperativ, dem Bildverbot: "Du sollst
dir kein Bildnis machen."
Der bildgebenden Diagnostik
geht es darum, Bilder willkürlich herausgeblendeter Anteile des Menschen
anzufertigen, ein Prozeß, der einer ganzheitlichen Erfassung seines
Gegenstandes entgegengerichtet ist. Wie repräsentativ sind diese "Teilansichten",
wieviel Wahrheit enthalten sie und wie weit darf die Reduktion gehen, damit
solche Bilder überhaupt noch in einem lebendigen Zusammenhang mit
ihrem "Spender" stehen? Die Rolle, die der "Bildermacher" selbst beim Prozeß
des Bildermachens spielt, ist für sein Produkt weit mehr bestimmend,
als das Objekt, das abzubilden er sich bemüht. Er ist untrennbar mit
seinem Werk verschmolzen. Hier gilt der berühmte Aphorismus Marshall
McLuhans "Das Medium ist die Botschaft". Es ist nicht nur sein Bild, sondern
er ist das Bild. Für ihn gilt, was Oskar Wilde Basil Hallward im Bildnis
des Dorian Gray sagen läßt: "... ein Porträt, mit Gefühl
gemalt, ist immer ein Porträt des Künstlers, nicht des Modells
...".
Bilder sind mächtig,
sie dringen in den Menschen ein ("Ein-Bildung"), sie sind mehr als visuelle
Information, denn sie können Gutes wie Böses bewirken. Alle selbständig
entstandenen Schriftsysteme der Kulturvölker haben als Schriftzeichen
ursprünglich Bilder verwendet: die chinesische Schrift, die Keilschrift,
die altägyptische Schrift. Die unheimliche Macht des Bildes war schon
im Altertum ein gefürchtetes Phänomen. Der Bildglaube wurde als
widergöttliches Verhalten, besonders im alten Israel bekämpft.
Der Islam sah im Verfertigen von Abbildern einen Eingriff in Allahs Schöpfertätigkeit.
Die gleiche Vorstellung findet sich schon im Alten Testament (Genesis),
in dem nur Gott das Recht zukommt, jemanden nach seinem eigenen Bild zu
schaffen. Nach einer alten Erzählung aus der Gnosis verlor Adam, der
Ur-Mensch, seine "himmlische Natur", dadurch, daß er sich in einem
Spiegel betrachtete: er erblickte seine "andere Seite", er wurde "wissend".
Aber, so werden die Diagnostiker
einwenden, wir erzeugen Bilder ausschließlich, um ein Stück
der Wahrheit zu erfassen, die gestörte Morphologie oder Funktion zu
erkennen. Dem muß entgegengehalten werden: Es gibt kein Bild ohne
den Betrachter, wie es keinen Laut gibt, ohne ein hörendes Ohr. Also
ist der Betrachter immer an der Konstruktion des Bildes beteiligt. Das
von ihm erzeugte Bild ist sein Bild, das gilt ebenso für das "Vor-Urteil",
mit dem er an die vermeintliche Reproduktion von "Wirklichkeit" herangeht,
wie für das, was er aus dem Bild herausliest, für die Interpretation.
Es geht ihm nicht anders als dem Künstler: Wenn dieser ein Bild malt,
entstehen aus diesem Bild soviele Bilder, wie es Betrachter gibt und ohne
Betrachter "gibt" es das Bild nicht.
Wenn der Diagnostiker sein
Bild betrachtet, wäre es nach allen Erkenntnissen der modernen Kognitionswissenschaft
naiv zu glauben, er konstruiere via Netzhaut und Sehrinde in seinem Okzipitalhirn
so etwas wie eine "naturgetreue" Abbildung der Realität. Vielmehr
spricht alles dafür, daß in seinem Hirn nicht nur keine Rekonstruktion
der Außenwelt, sondern immer ein Neuaufbau stattfindet. Um Bilder
zu deuten, ist er auf Vorwissen angewiesen, das erinnert werden muß,
mit anderen Worten auf Gedächtnis.
Aber die alten Vorstellungen,
daß Erinnerungen als "Engramme" in einer irgendwie gearteten materiellen
"Spur", also in verläßlicher Form im Gehirn gespeichert sind,
ist nicht mehr haltbar. Sicherinnern ist vielmehr ein "kreativer" Prozeß,
abhängig von vorgefaßten Meinungen, schematischen Vorstellungen
und Stimmungen, also keineswegs einem Abspielen einer Videokasette aus
dem Archiv "Gedächtnis" gleichzusetzen. Bilder sehen heißt immer
ergänzen, deuten, umdeuten, es ist ein individueller und subjektiver
Akt und keine verläßliche "objektive" Leistung. Bilder sind
vom Diagnostiker gezeichnete Landkarten, aber sind sie auch das Territotirum?
Dieser subjektive Anteil
der Bildauslegung hat, aus der diagnostischen Perspektive betrachtet, durchaus
Vorzüge. Er macht den "klinischen Blick" des Erfahrenen aus, jene
bis heute durch noch so aufwendige diagnostische Computersysteme nicht
im entferntesten ersetzbare Treffsicherheit des guten Arztes. Dessen Stärke
liegt in der intuitiv zu treffenden Gewichtung sogenannter "harter" und
"weicher"Daten. Faszination und Wirkung gewinnt dieser Prozess aber unzweifelhaft
durch die weichen Daten. Die Macht der Bilder ist überwältigend
groß. Nahezu alle Organsysteme sind abzubilden und auszudeuten. Der
Mensch ist kartographierbar bis ins letze Detail. Aber Abbilden heißt
immer auch Reduktion, Aus-"Blenden", mit anderen Worten: blind werden für
das anscheinend nicht zu diesem Bild Gehörige. Wirklichkeitsanteile
werden herausgeschnitten bis zum weitgehenden Verlust des Krankheits-"Bildes",
das immer zugleich auch Widerschein des Weltbildes ist: Am Ende reduziert
sich der Herzkranke auf eine "85prozentige Stenose" eines Herzkranzgefäßes.
Der Bilderarzt weiß,
obwohl er ständig eine Bilderflut erzeugt, nichts über das Wesen
von Bildern. Sein Bild-Verständnis ist das exakte Gegenteil einer
semantischen und metaphorischen, einer holistischen Bildbetrachtung. Er
geht auf in der letztlich virtuellen Realität, die seine Bilder von
Menschen beinhalten.
Was bedeutet es für
die Arzt-Patienten-Beziehung, wenn zwischen beide ein bildgebender Apparat
geschaltet wird? In die Kommunikation zwischen zwei Menschen schiebt sich
eine Abstraktion, die einen Aspekt der Wirklichkeit willkürlich herausgreift.
Mit einem Netz von ihm vorgegebener Maschenweite will er Bausteine für
das Konstrukt eines bestimmten Krankheits-"Bildes" zu finden. Der Bilderarzt
ist sich dabei meistens auch nicht bewußt, daß er die psychische
Wirklichkeit der Krankheit im Kranken miterzeugt. Seine Bilder erlauben
es, dem, was Arzt oder Patient unter Krankheit verstehen, einen Namen zu
geben. Dieser Name ist unabdingbar, denn "Eine Krankheit wird erst ganz
unser, wenn man uns ihren Namen sagt ..." (E. M. Cioran in Die verfehlte
Schöpfung). Für ihn sind seine Bilder identisch mit dem Bild
von Krank und Gesund, das er sich gemacht hat. Er ist blind für die
Erkenntnis, daß wer sich ein Bild macht, nicht sieht, daß er
sich ein Bild vonetwas macht, und daß wir nur erkennen können,
was wir schon erkannt haben.
Der Bilderarzt hat in der
Betrachtung seiner Bilder jene Distanz verloren, die notwendig ist, um
das Objekt seiner Abbildung in seiner Ganzheit zu sehen, geschweige denn
zu "schauen". Schauen ist eine sich aus dem aus dem Sehen ableitende ganzheitliche
Erfassung (bei den Mystikern hieß es: "Ich habe Gott geschaut").
Er lebt gesichert in der über-"schaubaren" Welt seiner Bilder, die
er "versteht" und aus seinem Verständnis heraus interpretiert. Je
mehr ihre Fülle zunimmt, um so mehr erfährt er in einem zirkularen
Prozeß die Richtigkeit seiner Sichtweise. Als schützender Wall
türmen sie sich zwischen ihm und dem Patienten. Ein Ende der Bilderflut
ist also nicht zu erkennen.
Wer mehr und mehr aus dem
Gesichtsfeld des Bilderarztes verschwindet, ist der Patient selbst. Bedenkt
man die Ausbildung des Arztes, so ist es ihm kaum zu verdenken. Das Multiple-choice-Kreuzworträtsel
seines Studiums war bestenfalls ein Puzzle, bei dessen Zusammensetzen Abstraktionen
- Krankheitsbilder genannt - herauskommen, der kranke Mensch aber nicht
sichtbar wird. Dabei erwartet dieser von seinem Arzt manchmal weniger,
als jener vermutet. Der amerikanische Onkologe Bernie Siegel fragte eine
seiner krebskranken Patientinnen nach dem wichtigsten Ratschlag, den er
jungen Doktoren geben könnte. Die Antwort der Patientin fiel anscheinend
erstaunlich einfach aus: "Sagen Sie ihnen, daß sie an meine Türe
klopfen, mich begrüßen und auf Wiedersehen sagen sollen und
daß sie mir in die Augen sehen sollen, wenn sie mit mir reden ...!"
Geisler, Linus S.: Blind durch eine
Flut von Bildern? |
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr.
92, 21.04.1993, S. N 4 (Natur und Wissenschaft) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/9304faz_bilder.html |
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