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Interview: Linus Geisler
Leben muss tabu sein
Ärzte sind dem Leben
verpflichtet und sollten Embryonen weder verwerfen noch benutzen - auch
nicht für Heilungsbemühungen. |
Das Magazin: Warum sprechen
Sie sich gegen die Forschung an embryonalen Stammzellen aus?
Geisler: Embryonale
Stammzellen werden aus Embryonen gewonnen, die dadurch vernichtet werden.
Ich lehne das ab, weil es eine Instrumentalisierung des Menschen ist.
Das Magazin: Es besteht
weitgehend Einigkeit darüber, dass menschliches Leben in der Verschmelzung
von Eizelle und Spermium seinen Ursprung hat. Uneinigkeit besteht aber
bei der Frage, ab wann dieses Leben schutzwürdig sein sollte. Sie
sagen: von Anfang an. Warum?
Geisler: Vor allem
drei Gründe sprechen dafür. Zum einen verläuft die Entwicklung
von der befruchteten Eizelle bis ins Alter kontinuierlich - es gibt keinen
biologisch begründbaren Einschnitt. Ferner hat die befruchtete Eizelle
das volle Potenzial zur Entwicklung einer Person. Und das Genom der befruchteten
Eizelle ist weitestgehend identisch mit dem eines 80-jährigen Menschen.
Diese Argumente - Kontinuität, Potenzialität und Identität
- bilden in der Summe starke Argumente dafür, dass menschliches Leben
mit der Verschmelzung von Eizelle und Samen beginnt und ihm von diesem
Zeitpunkt ab der volle Schutz der Menschenwürde zukommt.
Das Magazin: Dem steht
die Position entgegen, dass die Schutzwürdigkeit nicht von Anfang
an gegeben sein muss, sondern im Laufe der Entwicklung zunehmen sollte.
Ein bedeutender Einschnitt wird am 14. Tag gesehen: bei der Einnistung
in die Gebärmutter (Nidation), weil sich nur dadurch das Potenzial
zur Menschwerdung entfalten könne. Was spricht dagegen?
Geisler: Man kann
dem ein theoretisches Argument entgegensetzen. Man kann Säugetiere
schon in einem künstlichen Uterus heranwachsen lassen, und das kann
ich mir ebenso bei menschlichen Embryonen vorstellen, auch wenn ich das
absolut nicht für wünschenswert halte. In einem solchen Falle
wäre die Einnistung in die mütterliche Gebärmutter nicht
die Bedingung für die Menschwerdung. Gewichtiger erscheint mir das
Argument, dass ein wenige Stunden oder Tage alter Embryo besonders schutzwürdig
ist, weil er außerhalb des mütterlichen Körpers noch völlig
schutzlos ist. Das eigentliche Problem bei der abgestuften Schutzwürdigkeit
ist aber, dass jeder diskutierte Zeitpunkt willkürlich festgelegt
ist.
Das Magazin: Wenn
Sie für den Schutz des Embryos auch schon vor der Einnistung in die
Gebärmutter plädieren, lehnen Sie damit die Spirale als nidationshemmendes
Verhütungsmittel ab?
Geisler: Neueren Anschauungen
zufolge wirkt die Spirale nicht nidationshemmend, sondern sie lässt
wahrscheinlich über eine chronische Entzündung der Uterusschleimhaut
den Befruchtungsvorgang erst gar nicht zustande kommen. Möglicherweise
passiert aber beides. Die entscheidende Frage ist aber, ob der Einsatz
nidationshemmender Verhütungsmittel eine Legitimierung für den
Verbrauch von Embryonen darstellt. Ich sehe das nicht so.
Das Magazin: Warum
darf im einen Fall - bei der Verwendung der Spirale - die Einnistung eines
Embryos verhindert werden, während im anderen Fall - bei der Stammzellforschung
- der Embryo als absolut schützenswert gilt?
Geisler: Weil die
Konstellationen unterschiedlich sind. Auf der einen Seite handelt es sich
um eine Frau, die nicht schwanger werden möchte, und auf der anderen
Seite steht ein Forscher, der den Embryo tötet, um ihn für seine
Zwecke zu nutzen. Auch wenn die "Spirale" eingesetzt wird - wofür
ich nicht bin - und eventuell nidationshemmend wirkt, kann dies keine Legitimation
für die Forschung sein, Embryonen für experimentelle Zwecke herzustellen
und zu töten.
Das Magazin: Heißt
das, dass Sie die Nutzung von Embryonen für die Forschung zwar ablehnen,
sich aber nicht unbedingt gegen Abtreibungen aussprechen? Dass Sie also
nicht für einen absoluten Schutz des Embryos plädieren?
Geisler: Ich halte
den Schwangerschaftsabbruch in den vom Gesetzgeber genannten Fällen
für zulässig. Dennoch gilt, was auch das Bundesverfassungsgericht
festgestellt hat: "wo menschliches Lebens beginnt, kommt ihm Menschenwürde
zu". Bei einer Schwangerschaft muss zwischen dem Wohl, möglicherweise
der Gesundheit oder sogar dem Leben der Frau und dem Leben des Embryos
in einer einzigartigen Situation von biologischer Verbundenheit abgewogen
werden. Bei der Stammzellforschung geht es dagegen um das Leben des Embryos
und um einen noch nicht existierenden, sondern nur möglichen, in der
Ferne stehenden Heilungserfolg. Hier geht es um eine Abwägung zwischen
Forschungsfreiheit und Lebensschutz, und da ist der Lebensschutz höher
anzusetzen als die Forschungsfreiheit.
Das Magazin: Dürfte
ein abgetriebener Embryo, also ein Embryo, für den es keine Lebensmöglichkeit
gibt, für die Forschung benutzt werden?
Geisler: Er dürfte
nur dann für die Forschung benutzt werden, wenn die Abtreibung nicht
zum Zweck der Forschung erfolgt; wenn die, die abtreiben, und die, die
forschen, verschiedene Personen sind; und wenn die Mutter einverstanden
ist.
Das Magazin: Das bedeutet
dann wohl in der Praxis, dass Stammzellforscher überwiegend nur auf
Embryonen zurückgreifen könnten, die durch künstliche Befruchtungen
entstanden sind. Sprechen Sie sich damit gegen künstliche Befruchtungen
aus?
Geisler: Nein. Wenn
ein Paar unfruchtbar ist und ein vernünftiger Kinderwunsch besteht
- also kein pathologischer, der zum einzigen Lebensziel wird -, sollte
es die Möglichkeit einer künstlichen Befruchtung geben. Aber
nur so, wie das in Deutschland zurzeit nach dem Embryonenschutzgesetz erlaubt
ist: Maximal drei befruchtete Eizellen werden ohne Präimplantationsdiagnostik,
das heißt ohne dass sie im Reagenzglas auf schwere Erbkrankheiten
untersucht werden, eingepflanzt.
Das Magazin: Lehnen
Sie die Präimplantationsdiagnostik und damit auch Pläne ab, sie
in Deutschland zuzulassen?
Geisler: Ja. Präimplantationsdiagnostik
ist pervers: Ärzte erzeugen in der Retorte Embryonen mit der Absicht,
zumindest einige von ihnen zu verwerfen. Wenn Präimplantationsdiagnostik
nicht erlaubt ist, kann es auch keine oder nur sehr wenige "überzählige"
Embryonen geben, also Embryonen, die nach einer künstlichen Befruchtung
nicht mehr in den Uterus der Frau, von der die Eizellen stammen, eingepflanzt
werden können. In den USA und anderen Ländern kann man zehn Eizellen
befruchten, sie dann im Reagenzglas auf Erbkrankheiten untersuchen und
die "besten" einpflanzen. Die restlichen sind "überzählig". In
Frankreich sind es zum Beispiel ca. 60.000.
Das Magazin: Wie ist
es in Deutschland?
Geisler: Anfang 2001
existierten in Deutschland nur 15 Embryonen "ohne Lebensaussicht" - nach
allerdings nur eingeschränkt verwertbaren Angaben aus zehn Bundesländern.
Wirklich "überzählig" ist ein Embryo nur, wenn die Mutter schwer
krank wird oder stirbt oder sie beziehungsweise das Paar sich anders entscheidet.
Ansonsten werden alle Embryonen auch eingepflanzt.
Das Magazin: Weil
"überzählige" Embryonen keine Lebenschancen haben, plädieren
Naturwissenschaftler dafür, sie für die Forschung zu nutzen.
Stimmen Sie dem zu?
Geisler: Nein. Denn
es gibt neben den beiden Alternativen, den Embryo zu verwerfen oder ihn
für Forschungszwecke zu verwenden, noch eine weitere Möglichkeit:
die Embryonenadoption. Sie ist durch das Embryonenschutzgesetz nicht verboten.
Verboten ist nur, einen Embryo mit dem Ziel herzustellen, ihn einer anderen
Frau als derjenigen einzupflanzen, der die Eizelle entnommen wurde. Ich
propagiere Embryonenadoption nicht. Ich sehe sie aber als mögliche
Notlösung an. Ich möchte deutlich machen, dass es neben den beiden
Alternativen Verwerfen oder Freigabe für die Forschung noch eine dritte
Möglichkeit gibt.
Das Magazin: Präimplantationsdiagnostik
wird von Paaren in Anspruch genommen, die befürchten, ein schwer behindertes
Kind auf die Welt zu bringen. Ist der Wunsch nach einem gesunden Kind nicht
legitim?
Geisler: Doch natürlich,
aber er ist kein einklagbares Recht. Bei der Präimplantationsdiagnostik
gibt es eine Reihe schwerwiegender Probleme. Zum einen das Problem, das
ich schon erwähnt habe: dass man Embryonen herstellt mit dem Ziel,
einige von ihnen zu töten. Dann stellt sich das Problem der gesellschaftlichen
Betrachtung von Behindertsein. Was ist eine Behinderung, die die Tötung
eines Embryos rechtfertigt? Beginnt eine solche Behinderung zum Beispiel
schon mit einer Lippen-Gaumen-Kiefer-Spalte? Auch ist das Ziel, das mit
der Präimplantationsdiagnostik angestrebt wird, nämlich Behinderung
zu vermeiden, nicht zu erreichen: Sie garantiert kein gesundes Kind, weil
nur nach einem bestimmten genetischen Fehler gesucht, die eine Zelle aber
nicht auf alle schweren Erbkrankheiten untersucht werden kann.
Man muss auch beachten, dass
Präimplantationsdiagnostik noch eine experimentelle Methode ist, für
die es keine Kontrollmöglichkeiten gibt. Das heißt, es könnten
auch Embryonen verworfen werden, die nicht die Anlage für eine schwere
Behinderung haben. Und man kann nur einen geringen Teil möglicher
Behinderungen verhindern: Nur etwa drei Prozent aller Behinderungen sind
angeboren - 97 Prozent entstehen im Lauf des Lebens, unter anderem durch
Unfälle, Krankheiten und Gefährdungen am Arbeitsplatz. Lediglich
0,1 bis 0,5 Prozent aller Behinderungen sind durch Chromosomendefekte bedingt,
davon wiederum ist nur ein Bruchteil diagnostizierbar.
Das Magazin: Pränataldiagnostik
ist aber auch in Deutschland erlaubt: Wenn bei einem Embryo, der im Körper
der Mutter heranwächst, eine schwere Behinderung festgestellt wird,
kann der Embryo abgetrieben werden. Lehnen Sie das auch ab?
Geisler: Nein, auch
wenn eine Abtreibung der schlimmste Fall ist. Aber hier geht es um einen
Konflikt zwischen Mutter und Kind, und der Embryo wurde nicht gezeugt,
um möglicherweise verworfen zu werden. Pränataldiagnostik sollte
also auch weiterhin zugelassen, aber in einem wesentlich geringeren Umfang
praktiziert werden. Ich sehe aber Handlungsbedarf bei der Qualität
der Beratung. Je nach Art der Beratung kann die Abtreibungsquote zwischen
0 und 75 Prozent liegen, und zwar bei der gleichen genetischen Schädigung.
Die Entscheidung der Mutter beziehungsweise der Eltern wird also offensichtlich
durch die Beratung wesentlich beeinflusst.
Das Magazin: Wie sollte
sie sein?
Geisler: Sie sollte
versuchen, alle Facetten einer Entscheidung möglichst neutral zu spiegeln.
Nur von dem Ziel zu sprechen, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, kann
keine umfassende Beratung sein. Und es sollten immer zumindest zwei Beratungen
stattfinden: vor und nach dem genetischen Test.
Das Magazin: Wer legt
fest, bei welchen Behinderungen die Verwerfung eines Embryos zugelassen
ist?
Geisler: In den Diskussionsentwürfen,
zum Beispiel der Bundesärztekammer, gibt es keinen Katalog von Behinderungen,
man spricht nur allgemein von schweren genetischen Schäden. Die Entscheidung
wird der Mutter beziehungsweise dem Paar aufgetragen.
Das Magazin: Warum?
Geisler: Es soll vermieden
werden, dass Menschen mit schweren Behinderungen, die in einem Katalog
aufgeführt wären, das Gefühl bekommen könnten, unerwünscht
zu sein.
Das Magazin: Soll
ein Paar, bei dessen Kindern schwere genetische Schäden zu befürchten
sind, sich auf eine Schwangerschaft einlassen, um dann möglicherweise
abzutreiben? Wäre dieser enormen Belastung der Frau nicht die Präimplantationsdiagnostik
vorzuziehen?
Geisler: Nein. Es
gibt auch andere Alternativen. Zunächst stellt sich die Frage, ob
ein Paar um jeden Preis ein genetisch eigenes Kind bekommen muss. Es gibt
schließlich auch die Möglichkeit der Pflegschaft und der Adoption.
Und es gibt die Möglichkeit des bewussten Verzichts auf Kinder. An
den Universitäten Jena und Freiburg hat es Untersuchungen bei Paaren
mit Kindern und ohne Kinder gegeben. Das Ergebnis war, dass sich seelische
Gesundheit, psychische Erkrankungen und Lebensqualität bei beiden
Lebensformen nicht grundsätzlich unterschieden. Zudem ist auch die
Präimplantationsdiagnostik keineswegs belastungsfrei. Bevor mehrere
Eier der Frau durch einen invasiven Eingriff entnommen werden, erfolgt
eine starke hormonelle Stimulierung. Das ist eine belastende Methode, die
krank machen kann und in einigen Fällen auch zum Tod junger Frauen
geführt hat.
Das Magazin: Der Wunsch,
der hinter Präimplantations- und Pränataldiagnostik sowie der
Stammzellforschung steht, ist der Wunsch nach einem von Anfang an und möglichst
lange gesundem Leben. Ist dieser Wunsch zu erfüllen?
Geisler: Nein. Präimplantations-
und Pränataldiagnostik werden, selbst wenn man das wollte, Behinderungen
nicht verhindern. Und auch die Stammzellforschung kann keine bedeutende
Verlängerung des Lebens garantieren. Selbst wenn man zum Beispiel
- was allerdings illusorisch ist - alle Krebsarten beseitigen könnte,
würde die Lebenserwartung durchschnittlich nur zweieinhalb Jahre mehr
betragen. In Richtung auf ein langes oder sogar "ewiges" Leben würde
das so gut wie nichts bedeuten. Es wird immer eine Todesursache Nummer
Eins geben, es wird nur immer eine andere sein.
Anfang des vorigen Jahrhunderts
zum Beispiel waren Infektionskrankheiten der große Killer, damals
spielten Krebs oder Herz-Kreislauf-Krankheiten kaum eine Rolle. Heute sind
es die Herz-Kreislauf-Krankheiten und die malignen Tumoren. Die Panoramen
wechseln, aber die Summe der menschlichen Leiden, die aus Krankheiten stammen,
ist weitgehend konstant. Wenn man in Altenheimen sieht, wie krank alte
Menschen sein können, muss man sogar fragen, ob die verlängerte
Lebenserwartung die Summe nicht noch größer macht. Das ist kein
Argument gegen Heilungsbestrebungen, aber man sollte auf diesem Auge nicht
blind sein.
Interview: Sabine Schmidt
Links:
DAS MAGAZIN: http://www.wz.nrw.de/magazin/magazine.asp
- Externer
Geisler, Linus: "Leben muss
tabu sein". DAS MAGAZIN, 12. Jahrgang, Ausgabe
3/2001, S. 12-14 (Interview) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0112magazin.html |
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