"Medizinisch besteht kein Grund zur
Eile"
Linus S. Geisler, Professor
für Innere Medizin und Mitglied der Ethikkommission des Bundestages,
kritisiert im Gespräch mit Roland Schönbauer Kanzler Schröders
Biopolitik - auch mit Bert Brecht.
STANDARD: Nach
dem aufsehenerregenden Schwenk der Deutschen Forschungsgemeinschaft will
nun auch Bundeskanzler Gerhard Schröder Embryonen für die Stammzellenforschung
freigeben. Sein Parteifreund Wolfgang Clement sprach sich noch vor der
Bundestagsdebatte für Embryonenimport aus. Am Freitag soll nun zum
ersten Mal Schröders Nationaler Ethikrat tagen. Was halten Sie von
dieser Chronologie?
Geisler: Es ist dem
Kanzler natürlich unbenommen, sich eines eigenen Beratungsgremiums
zu bedienen ...
STANDARD: ... aber?
Geisler: ... aber
es ist wieder ein Stück Verlagerung der wichtigsten Entscheidungen
weg vom Parlament. Es muss klar sein, dass der Ethikrat nicht für
Empfehlungen an den Bundestag eingesetzt ist.
STANDARD: Teilen Sie
die Kritik an der
Zusammensetzung des 24-köpfigen Gremiums?
Geisler: Ja, dort
spiegelt sich die Fortschrittsgläubigkeit wieder. Die Zahl kritischer
Stimmen ist begrenzt.
STANDARD: Und wie
stehen Sie grundsätzlich zu Schröders pragmatischer Position
pro Embryonenforschung?
Geisler: Letztlich
läuft seine Argumentation darauf hinaus, dass das Ökonomische
die ethische Debatte dominiert. Häufig werden nur die Ziele herausgestellt,
utopische Ziele wie die Herstellung von Organen oder die Beseitigung einer
Krankheit, aber dabei wird die Zulässigkeit der Mittel ausgeklammert.
Schröder verwendet auch weiche Argumente, wie dass es auch unethisch
sein kann, etwas nicht zu tun.
STANDARD: ...
was Sie doch nicht bezweifeln wollen?
Geisler: ... es kommt
doch darauf an, was man tut! Heute lautet das Brechtsche Motto oft: Erst
kommt das Testen, dann kommt die Moral.
STANDARD: Aber der
Kampf gegen Krankheit ist doch nicht unmoralisch.
Geisler: Man muss
jedoch die Methoden und den Preis dafür gegen den Nutzen abwägen.
In der einen Waagschale habe ich die Versprechung, in 25 Jahren Parkinson
heilen zu können. Man muss aber auch einkalkulieren, dass das möglicherweise
nicht erreicht wird. Forschung ist grundsätzlich ein offener Erkenntnisprozess.
Und in der anderen Waagschale
hat man den Embryonenverbrauch, sozusagen das Ticket für die Forschung.
STANDARD: ..., die
Sie also ablehnen?
Geisler: Ich bin gegen
Stammzellenforschung mit Embryonen, nicht aber gegen Forschung mit adulten
Stammzellen. Es hat da ja auch Fortschritte gegeben, an die man vor einem
Jahr noch nicht gedacht hat. Man hat unlängst aus Knochenmarkzellen
nicht nur Blutzellen, sondern auch Nerven- und Knorpelzellen gemacht, allerdings
bei Mäusen. Deutschland könnte diesen Zweig zum Schwerpunkt ausbauen,
ohne unethisch zu handeln.
STANDARD: Das größere
Potenzial haben jedoch - zumindest langfristig - embryonale Stammzellen,
die man nicht extra entdifferenzieren muss.
Geisler: In diesen
Alleskönnern liegt aber auch das Potenzial, bösartig zu entarten.
STANDARD: Sie können
Teratome (Mischtumore) oder Teratokarzinome auslösen.
Geisler: Genau. Sehen
wir doch auch das Faktische: Es gibt derzeit ganze vier wissenschaftliche
Arbeiten zu Stammzellen aus menschlichen Embryonen. Wir stehen ganz am
Anfang. Menschliche Stammzellen müssten auf einer Nährlösung,
einem Brei aus zerkleinerten Mäuseembryonen, gezogen werden. Darin
liegt auch die Gefahr, dass Erreger übertragen werden, die vielleicht
für Mäuse unschädlich sind, dem Menschen aber schaden könnten.
STANDARD: Das sind
aber keine grundsätzlichen ethischen Probleme. Im Grunde steht und
fällt die Bewertung der Embryonenforschung doch mit der Frage nach
dem Beginn menschlichen Lebens. Wie erklären Sie sich die verschiedenen
Antworten auf diese einfache Frage?
Geisler: Das menschliche
Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Es gibt fast
niemanden, der anderer Meinung ist. Auch ein Vier- oder Achtzeller hat
ein nie dagewesenes Genom. Er ist genetisch ident mit dem späteren
80-Jährigen, hat das volle Potenzial, zur Person zu werden, und sein
Leben ist ein Kontinuum. Da gibt's keinen Bruch mehr. Die Frage mit den
verschiedenen Antworten ist vielmehr: Hat der Embryo den vollen Status
der Menschenwürde und daher vollen Schutz von Anfang an, oder bekommt
er nur abgestuften wie in England?
STANDARD: Soll ein
Vier-oder Achtzeller voll geschützt sein, obwohl er keinerlei Schmerz
empfindet?
Geisler: Das darf
man nicht zum Maßstab machen. Zu Ende gedacht könnten wir dann
ja auch mit jemandem in Narkose oder im Koma tun und lassen, was wir wollen.
Zurück zur Schutzwürdigkeit
des Embryo: Wenn etwas nicht eindeutig zu entscheiden ist in einer Gesellschaft,
dann ist ein Moratorium das Gebot der Stunde.
STANDARD: Das wird
Firmen, die bald damit Geld verdienen wollen, nicht gefallen.
Geisler: Aus ökonomischen
und politischen Gründen wird tatsächlich Druck gemacht. Aber
es ist überhaupt nicht einzusehen, warum man heute etwas übers
Knie brechen soll. Es besteht medizinisch gesehen kein Grund zur Eile.
Wir haben hier einen Zeithorizont von Jahrzehnten - und noch dazu ein Forschungsziel
mit offenen Ergebnissen.
"Medizinisch besteht kein
Grund zur Eile" - Linus S. Geisler im Gespräch mit Roland Schönbauer
über Biopolitik und Stammzellenforschung |
DER STANDARD, 06.06.2001,
Seite 31 (Wissenschaft) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0106standard_biopolitik.html |
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