Start  <  Artikelübersicht  <  "Medizinisch besteht kein Grund zur Eile". DER STANDARD vom 6. Juni  2001
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"Medizinisch besteht kein Grund zur Eile"

Linus S. Geisler, Professor für Innere Medizin und Mitglied der Ethikkommission des Bundestages, kritisiert im Gespräch mit Roland Schönbauer Kanzler Schröders Biopolitik - auch mit Bert Brecht.

STANDARD: Nach dem aufsehenerregenden Schwenk der Deutschen Forschungsgemeinschaft will nun auch Bundeskanzler Gerhard Schröder Embryonen für die Stammzellenforschung freigeben. Sein Parteifreund Wolfgang Clement sprach sich noch vor der Bundestagsdebatte für Embryonenimport aus. Am Freitag soll nun zum ersten Mal Schröders Nationaler Ethikrat tagen. Was halten Sie von dieser Chronologie?

Geisler: Es ist dem Kanzler natürlich unbenommen, sich eines eigenen Beratungsgremiums zu bedienen ...

STANDARD: ... aber?

Geisler: ... aber es ist wieder ein Stück Verlagerung der wichtigsten Entscheidungen weg vom Parlament. Es muss klar sein, dass der Ethikrat nicht für Empfehlungen an den Bundestag eingesetzt ist.

STANDARD: Teilen Sie die Kritik an der Zusammensetzung des 24-köpfigen Gremiums?

Geisler: Ja, dort spiegelt sich die Fortschrittsgläubigkeit wieder. Die Zahl kritischer Stimmen ist begrenzt.

STANDARD: Und wie stehen Sie grundsätzlich zu Schröders pragmatischer Position pro Embryonenforschung?

Geisler: Letztlich läuft seine Argumentation darauf hinaus, dass das Ökonomische die ethische Debatte dominiert. Häufig werden nur die Ziele herausgestellt, utopische Ziele wie die Herstellung von Organen oder die Beseitigung einer Krankheit, aber dabei wird die Zulässigkeit der Mittel ausgeklammert. Schröder verwendet auch weiche Argumente, wie dass es auch unethisch sein kann, etwas nicht zu tun.

STANDARD: ...  was Sie doch nicht bezweifeln wollen?

Geisler: ... es kommt doch darauf an, was man tut! Heute lautet das Brechtsche Motto oft: Erst kommt das Testen, dann kommt die Moral.

STANDARD: Aber der Kampf gegen Krankheit ist doch nicht unmoralisch.

Geisler: Man muss jedoch die Methoden und den Preis dafür gegen den Nutzen abwägen. In der einen Waagschale habe ich die Versprechung, in 25 Jahren Parkinson heilen zu können. Man muss aber auch einkalkulieren, dass das möglicherweise nicht erreicht wird. Forschung ist grundsätzlich ein offener Erkenntnisprozess.

Und in der anderen Waagschale hat man den Embryonenverbrauch, sozusagen das Ticket für die Forschung.

STANDARD: ..., die Sie also ablehnen?

Geisler: Ich bin gegen Stammzellenforschung mit Embryonen, nicht aber gegen Forschung mit adulten Stammzellen. Es hat da ja auch Fortschritte gegeben, an die man vor einem Jahr noch nicht gedacht hat. Man hat unlängst aus Knochenmarkzellen nicht nur Blutzellen, sondern auch Nerven- und Knorpelzellen gemacht, allerdings bei Mäusen. Deutschland könnte diesen Zweig zum Schwerpunkt ausbauen, ohne unethisch zu handeln.

STANDARD: Das größere Potenzial haben jedoch - zumindest langfristig - embryonale Stammzellen, die man nicht extra entdifferenzieren muss.

Geisler: In diesen Alleskönnern liegt aber auch das Potenzial, bösartig zu entarten.

STANDARD: Sie können Teratome (Mischtumore) oder Teratokarzinome auslösen.

Geisler: Genau. Sehen wir doch auch das Faktische: Es gibt derzeit ganze vier wissenschaftliche Arbeiten zu Stammzellen aus menschlichen Embryonen. Wir stehen ganz am Anfang. Menschliche Stammzellen müssten auf einer Nährlösung, einem Brei aus zerkleinerten Mäuseembryonen, gezogen werden. Darin liegt auch die Gefahr, dass Erreger übertragen werden, die vielleicht für Mäuse unschädlich sind, dem Menschen aber schaden könnten.

STANDARD: Das sind aber keine grundsätzlichen ethischen Probleme. Im Grunde steht und fällt die Bewertung der Embryonenforschung doch mit der Frage nach dem Beginn menschlichen Lebens. Wie erklären Sie sich die verschiedenen Antworten auf diese einfache Frage?

Geisler: Das menschliche Leben beginnt mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Es gibt fast niemanden, der anderer Meinung ist. Auch ein Vier- oder Achtzeller hat ein nie dagewesenes Genom. Er ist genetisch ident mit dem späteren 80-Jährigen, hat das volle Potenzial, zur Person zu werden, und sein Leben ist ein Kontinuum. Da gibt's keinen Bruch mehr. Die Frage mit den verschiedenen Antworten ist vielmehr: Hat der Embryo den vollen Status der Menschenwürde und daher vollen Schutz von Anfang an, oder bekommt er nur abgestuften wie in England?

STANDARD: Soll ein Vier-oder Achtzeller voll geschützt sein, obwohl er keinerlei Schmerz empfindet?

Geisler: Das darf man nicht zum Maßstab machen. Zu Ende gedacht könnten wir dann ja auch mit jemandem in Narkose oder im Koma tun und lassen, was wir wollen.

Zurück zur Schutzwürdigkeit des Embryo: Wenn etwas nicht eindeutig zu entscheiden ist in einer Gesellschaft, dann ist ein Moratorium das Gebot der Stunde.

STANDARD: Das wird Firmen, die bald damit Geld verdienen wollen, nicht gefallen.

Geisler: Aus ökonomischen und politischen Gründen wird tatsächlich Druck gemacht. Aber es ist überhaupt nicht einzusehen, warum man heute etwas übers Knie brechen soll. Es besteht medizinisch gesehen kein Grund zur Eile. Wir haben hier einen Zeithorizont von Jahrzehnten - und noch dazu ein Forschungsziel mit offenen Ergebnissen.


"Medizinisch besteht kein Grund zur Eile" - Linus S. Geisler im Gespräch mit Roland Schönbauer über Biopolitik und Stammzellenforschung 
DER STANDARD, 06.06.2001, Seite 31 (Wissenschaft)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0106standard_biopolitik.html

 
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