Eine herrliche Welt erschaffen
Beklemmend: Ein Sammelband
zu den Visionen der NS-Medizin
Von Linus S. Geisler
Die Entstehungsgeschichte
dieses Buches ist ungewöhnlich. Es verdankt sich einer bislang fehlenden
umfassenden, deutsch- und englischsprachigen Dokumentenedition des Nürnberger
Ärzteprozesses, einem Projekt, das erst und ausschließlich durch
die Spenden von fast 8000 Ärztinnen und Ärzten möglich wurde.
In ihrem Buch
Vernichten und Heilen haben Angelika Ebbinghaus und
Klaus Dörner als Herausgeber gemeinsam mit dreizehn weiteren Autoren
alle wesentlichen Fakten, Aspekte und Folgen des Nürnberger Ärzteprozesses
zusammengetragen.
Um es vorwegzunehmen: Dieses
Buch ist unbedingt lesenswert und zugleich in einem beklemmenden Sinn aufschlussreich.
Seine Lektüre setzt allerdings die Bereitschaft voraus, die gigantomanischen
Therapiekonzepte, die fragwürdigen ethischen Begründungsstrategien,
den, wie Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel feststellte, fehlenden
Realitätssinn einer Gruppe von Nazi-Ärzten, die zu unfassbaren
Grausamkeiten fähig waren, nicht als zeitgeschichtlich einmalige Versuchungen
und Bedrohungen zu erkennen.
Die Biographien und Psychogramme
der 23 Angeklagten, an der Spitze Professor Karl Brandt, ehemaliger Reichskommissar
für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, von denen sieben am 2.
Juni 1948 durch den Strang hingerichtet wurden, werden ebenso plastisch
dargestellt wie das Leiden und Sterben ihrer Opfer. Die Handlungen der
Täter, die Höhen- und Unterkühlungsversuche, die Senfgas-
und Malariaexperimente, die Versuche mit Meerwasser und Brandbomben, die
artifiziellen Infektionen mit Gelbsucht und Fleckfieber, die Sterilisierungsmethoden
und das Euthanasieprogramm erfahren eine minutiöse Dokumentation.
Sie als ärztliche Handlungsweisen zu begreifen, führt den Leser
immer wieder an die Grenze des Erträglichen.
Dennoch: Monster im plakativen
Sinne war keiner von ihnen. Klaus Dörner nennt sie eine "Zufallsmischung
von Ärzten, eher sozial engagiert und wissenschaftlich qualifizierter
als der Durchschnitt". Sadistische Züge werden allenfalls einem der
Angeklagten unterstellt. Methodisch geht Dörner nicht wie seinerzeit
Alexander Mitscherlich und später Robert Jay Lifton (The Nazi Doctors)
von einem weitgehend psychoanalytischen Deutungsansatz aus. Die zunehmende
Verwissenschaftlichung der Medizin, die Delegierung ihrer ethischen Prinzipien
an die "Ethikwissenschaften", die Trennung zwischen der Moral des Arztes
und der des Wissenschaftlers und auch die Soziologisierung der Medizin,
die den Einzelmenschen zugunsten einer Medizin für "alle Menschen"
einer Gesellschaft vernachlässigt, lassen für Dörner konsistente
Deutungen der Beweggründe der Täter zu. Die Übermacht der
Utopie einer umfassenden gesellschaftlichen Gesundheit - freilich für
den Preis der Verhinderung, Ausgrenzung oder Vernichtung "gesundheitsunfähiger"
Bevölkerungsgruppen - sowie der Traum von einer leidensfreien Gesellschaft
wurden in barbarische Ausrottungstechniken umgemünzt.
Es müsse "herrlich sein,
in einer solchen Welt zu leben", schwärmte der damalige Staatssekretär
Gütt aus dem Reichsinnenministerium; gemeint war eine Welt ohne Geisteskranke
und "Schwachsinnige". So kehrt bei den Angeklagten die Berufung auf einen
sozialen oder therapeutischen "Idealismus" als exkulpierendes Handlungsmotiv
immer wieder. Durch das Erbgesundheitsgesetz, nicht zu Unrecht als Grundgesetz
der Nazis bezeichnet, entstand der Anschein der juristischen Legitimation
aller nur denkbaren Grausamkeiten. Hinzu kam der Druck, für den angestrebten
"Blitzkrieg" möglichst rasch zu Forschungsfortschritten zu kommen,
die den Frontsoldaten von Nutzen sein konnten. Die Methoden (zum Beispiel
die Setzung von Wundinfektionen bei Gesunden, um die Sulfonamidwirkung
zu studieren) waren jedoch meist dilettantisch und zudem vielfach überflüssig.
In Motiven und Verhalten
der Angeklagten lassen sich immer wiederkehrende Muster erkennen: Die quasi
idealistische Fiktion einer "nur noch gesunden Gesellschaft", erreichbar
durch eine "Magna Therapia", die die ethische Prüfung ihrer Methoden
ausblendet, ja sie zur "Expertenpflicht" überhöht. Eine Aufspaltung
in den Arzt und den Wissenschaftler, für die unterschiedliche moralische
Prinzipien gelten. Die Unfähigkeit sich irgendeiner Beziehung zu den
Opfern auszusetzen, denen der Personenstatus aberkannt wurde. Sprachlich
tauchten diese nicht mehr als Individuen auf, sondern als "menschliches
Leben", "Leben" allgemein oder nur noch als "Lebensträger". Bei Experimenten
wurden sie von den versuchsleitenden Ärzten oft nur als A oder B bezeichnet.
In den therapeutischen Visionen der Peiniger, die ja stets auf "die Gesellschaft",
auf "alle Menschen" ausgerichtet waren, kamen sie als Einzelne nicht mehr
vor. Angelika Ebbinghaus beschreibt diese zwei getrennten Welten der Täter
und der Opfer. Man könne, wenn man die Versuchsschilderungen der Experimentatoren
mit denen der Opfer vergleicht, so schreibt sie, nicht glauben, dass die
gleiche Situation beschrieben wurde.
Es ist nur scheinbar paradox
zu unterstellen, dass die meisten der Angeklagten ein moralisch intaktes
Gewissen hatten. Was sie charakterisierte, war die Weigerung, die Perspektive
ihrer Opfer, das heißt die Wirklichkeit des Anderen, zu übernehmen.
So trifft Elie Wiesel den Kern dieses Phänomens, wenn er konstatiert,
den Angeklagten habe nicht der sense of morality, sondern der sense
of reality gefehlt, jenes Manko, in dem nahezu alle Grausamkeiten und
Verbrechen dieser Welt wurzeln.
In einer subtilen und bis
in die Gegenwart reichenden Analyse beschäftigt sich Michael Wunder
mit dem Nürnberger Kodex von 1947 und dessen Folgen, vor allem mit
den später immer wieder versuchten und anhaltenden Revisionen, bei
denen es sich stets um eine Relativierung des informed consent,
der informierten und persönlichen Einwilligung von Patienten nach
bestmöglicher Aufklärung handelt. Ursprünglich war der Nürnberger
Kodex eine geradezu "geniale Verknüpfung der Polaritäten der
Hippokratischen Ethik der ärztlichen Verantwortung und der Menschenrechte".
Dort war der informed consent noch ein Dialog zwischen zwei Subjekten.
Was sich in der Folgezeit entwickelte, war der gefährliche Übergang
von einer individual-ethischen Bindung der Medizin zu einer neuen, wieder
kollektiv-ethischen Orientierung, in der es nicht mehr um diesen einen,
individuellen Menschen geht, sondern um "zukünftige Patienten", die
"Gesellschaft", die "Spezies Mensch".
Diese alten Gedankenfiguren
tauchen in beklemmender Weise heute wieder in neuem Gewand auf: genetic
enhancement engineering, beispielsweise durch Eingriffe in die Keimbahn,
haben als neue "Magna Therapia" wiederum nicht mehr das Individuum sondern
künftige Generationen im Visier. Sie finden ihren Niederschlag in
der sogenannten Bioethik-Konvention, die bei einwilligungsunfähigen
Personen Dritten, zum Beispiel dem Vormund, die Berechtigung zur Einwilligung
in fremdnützige Forschung einräumt. Ein Vorstoß in eine
ähnliche Richtung war der Vorschlag des Weltärztebundes, die
bisherige Trennung zwischen klinischer und nicht-therapeutisch klinischer,
also fremdnütziger Forschung aufzugeben.
Was am Ende der Lektüre
des Buchs zurückbleibt, ist die gespenstische Gewissheit, wie nah
sich "Vernichten" und "Heilen" in der Medizin manchmal sind. Diese Gewissheit
nur einer historisch abgeschlossenen Epoche zuzuordnen, könnte sich
als trügerisch erweisen. Die Frage, die sich für den einzelnen
Arzt stellt, so Dörner, wandelt sich von "Wie hätte ich damals
gehandelt?" zwangsläufig in die Frage "Wie handle ich heute?".
Angelika Ebbinghaus/Klaus
Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger
Ärzteprozess und seine Folgen.
Aufbau Verlag, Berlin 2001,
380 Seiten, 68,00 DM.
Buchbesprechung von Linus
S. Geisler: Eine herrliche Welt erschaffen - Beklemmend: Ein Sammelband
zu den Visionen der NS-Medizin. |
Angelika Ebbinghaus/Klaus
Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess
und seine Folgen. |
Frankfurter Rundschau, 09.04.2001
(Literatur) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0104fr_ebbinghaus.html |
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