Start  <  Artikelübersicht  <  Buchbesprechung: Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hrsg.): VERNICHTEN UND HEILEN. FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 9. April  2001
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Eine herrliche Welt erschaffen 

Beklemmend: Ein Sammelband zu den Visionen der NS-Medizin

Von Linus S. Geisler

Die Entstehungsgeschichte dieses Buches ist ungewöhnlich. Es verdankt sich einer bislang fehlenden umfassenden, deutsch- und englischsprachigen Dokumentenedition des Nürnberger Ärzteprozesses, einem Projekt, das erst und ausschließlich durch die Spenden von fast 8000 Ärztinnen und Ärzten möglich wurde. In ihrem Buch Vernichten und Heilen haben Angelika Ebbinghaus und Klaus Dörner als Herausgeber gemeinsam mit dreizehn weiteren Autoren alle wesentlichen Fakten, Aspekte und Folgen des Nürnberger Ärzteprozesses zusammengetragen.

Um es vorwegzunehmen: Dieses Buch ist unbedingt lesenswert und zugleich in einem beklemmenden Sinn aufschlussreich. Seine Lektüre setzt allerdings die Bereitschaft voraus, die gigantomanischen Therapiekonzepte, die fragwürdigen ethischen Begründungsstrategien, den, wie Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel feststellte, fehlenden Realitätssinn einer Gruppe von Nazi-Ärzten, die zu unfassbaren Grausamkeiten fähig waren, nicht als zeitgeschichtlich einmalige Versuchungen und Bedrohungen zu erkennen.

Die Biographien und Psychogramme der 23 Angeklagten, an der Spitze Professor Karl Brandt, ehemaliger Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, von denen sieben am 2. Juni 1948 durch den Strang hingerichtet wurden, werden ebenso plastisch dargestellt wie das Leiden und Sterben ihrer Opfer. Die Handlungen der Täter, die Höhen- und Unterkühlungsversuche, die Senfgas- und Malariaexperimente, die Versuche mit Meerwasser und Brandbomben, die artifiziellen Infektionen mit Gelbsucht und Fleckfieber, die Sterilisierungsmethoden und das Euthanasieprogramm erfahren eine minutiöse Dokumentation. Sie als ärztliche Handlungsweisen zu begreifen, führt den Leser immer wieder an die Grenze des Erträglichen.

Dennoch: Monster im plakativen Sinne war keiner von ihnen. Klaus Dörner nennt sie eine "Zufallsmischung von Ärzten, eher sozial engagiert und wissenschaftlich qualifizierter als der Durchschnitt". Sadistische Züge werden allenfalls einem der Angeklagten unterstellt. Methodisch geht Dörner nicht wie seinerzeit Alexander Mitscherlich und später Robert Jay Lifton (The Nazi Doctors) von einem weitgehend psychoanalytischen Deutungsansatz aus. Die zunehmende Verwissenschaftlichung der Medizin, die Delegierung ihrer ethischen Prinzipien an die "Ethikwissenschaften", die Trennung zwischen der Moral des Arztes und der des Wissenschaftlers und auch die Soziologisierung der Medizin, die den Einzelmenschen zugunsten einer Medizin für "alle Menschen" einer Gesellschaft vernachlässigt, lassen für Dörner konsistente Deutungen der Beweggründe der Täter zu. Die Übermacht der Utopie einer umfassenden gesellschaftlichen Gesundheit - freilich für den Preis der Verhinderung, Ausgrenzung oder Vernichtung "gesundheitsunfähiger" Bevölkerungsgruppen - sowie der Traum von einer leidensfreien Gesellschaft wurden in barbarische Ausrottungstechniken umgemünzt. 

Es müsse "herrlich sein, in einer solchen Welt zu leben", schwärmte der damalige Staatssekretär Gütt aus dem Reichsinnenministerium; gemeint war eine Welt ohne Geisteskranke und "Schwachsinnige". So kehrt bei den Angeklagten die Berufung auf einen sozialen oder therapeutischen "Idealismus" als exkulpierendes Handlungsmotiv immer wieder. Durch das Erbgesundheitsgesetz, nicht zu Unrecht als Grundgesetz der Nazis bezeichnet, entstand der Anschein der juristischen Legitimation aller nur denkbaren Grausamkeiten. Hinzu kam der Druck, für den angestrebten "Blitzkrieg" möglichst rasch zu Forschungsfortschritten zu kommen, die den Frontsoldaten von Nutzen sein konnten. Die Methoden (zum Beispiel die Setzung von Wundinfektionen bei Gesunden, um die Sulfonamidwirkung zu studieren) waren jedoch meist dilettantisch und zudem vielfach überflüssig. 

In Motiven und Verhalten der Angeklagten lassen sich immer wiederkehrende Muster erkennen: Die quasi idealistische Fiktion einer "nur noch gesunden Gesellschaft", erreichbar durch eine "Magna Therapia", die die ethische Prüfung ihrer Methoden ausblendet, ja sie zur "Expertenpflicht" überhöht. Eine Aufspaltung in den Arzt und den Wissenschaftler, für die unterschiedliche moralische Prinzipien gelten. Die Unfähigkeit sich irgendeiner Beziehung zu den Opfern auszusetzen, denen der Personenstatus aberkannt wurde. Sprachlich tauchten diese nicht mehr als Individuen auf, sondern als "menschliches Leben", "Leben" allgemein oder nur noch als "Lebensträger". Bei Experimenten wurden sie von den versuchsleitenden Ärzten oft nur als A oder B bezeichnet. In den therapeutischen Visionen der Peiniger, die ja stets auf "die Gesellschaft", auf "alle Menschen" ausgerichtet waren, kamen sie als Einzelne nicht mehr vor. Angelika Ebbinghaus beschreibt diese zwei getrennten Welten der Täter und der Opfer. Man könne, wenn man die Versuchsschilderungen der Experimentatoren mit denen der Opfer vergleicht, so schreibt sie, nicht glauben, dass die gleiche Situation beschrieben wurde. 

Es ist nur scheinbar paradox zu unterstellen, dass die meisten der Angeklagten ein moralisch intaktes Gewissen hatten. Was sie charakterisierte, war die Weigerung, die Perspektive ihrer Opfer, das heißt die Wirklichkeit des Anderen, zu übernehmen. So trifft Elie Wiesel den Kern dieses Phänomens, wenn er konstatiert, den Angeklagten habe nicht der sense of morality, sondern der sense of reality gefehlt, jenes Manko, in dem nahezu alle Grausamkeiten und Verbrechen dieser Welt wurzeln. 

In einer subtilen und bis in die Gegenwart reichenden Analyse beschäftigt sich Michael Wunder mit dem Nürnberger Kodex von 1947 und dessen Folgen, vor allem mit den später immer wieder versuchten und anhaltenden Revisionen, bei denen es sich stets um eine Relativierung des informed consent, der informierten und persönlichen Einwilligung von Patienten nach bestmöglicher Aufklärung handelt. Ursprünglich war der Nürnberger Kodex eine geradezu "geniale Verknüpfung der Polaritäten der Hippokratischen Ethik der ärztlichen Verantwortung und der Menschenrechte". Dort war der informed consent noch ein Dialog zwischen zwei Subjekten. Was sich in der Folgezeit entwickelte, war der gefährliche Übergang von einer individual-ethischen Bindung der Medizin zu einer neuen, wieder kollektiv-ethischen Orientierung, in der es nicht mehr um diesen einen, individuellen Menschen geht, sondern um "zukünftige Patienten", die "Gesellschaft", die "Spezies Mensch".

Diese alten Gedankenfiguren tauchen in beklemmender Weise heute wieder in neuem Gewand auf: genetic enhancement engineering, beispielsweise durch Eingriffe in die Keimbahn, haben als neue "Magna Therapia" wiederum nicht mehr das Individuum sondern künftige Generationen im Visier. Sie finden ihren Niederschlag in der sogenannten Bioethik-Konvention, die bei einwilligungsunfähigen Personen Dritten, zum Beispiel dem Vormund, die Berechtigung zur Einwilligung in fremdnützige Forschung einräumt. Ein Vorstoß in eine ähnliche Richtung war der Vorschlag des Weltärztebundes, die bisherige Trennung zwischen klinischer und nicht-therapeutisch klinischer, also fremdnütziger Forschung aufzugeben.

Was am Ende der Lektüre des Buchs zurückbleibt, ist die gespenstische Gewissheit, wie nah sich "Vernichten" und "Heilen" in der Medizin manchmal sind. Diese Gewissheit nur einer historisch abgeschlossenen Epoche zuzuordnen, könnte sich als trügerisch erweisen. Die Frage, die sich für den einzelnen Arzt stellt, so Dörner, wandelt sich von "Wie hätte ich damals gehandelt?" zwangsläufig in die Frage "Wie handle ich heute?".
 

Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen. 
Aufbau Verlag, Berlin 2001, 380 Seiten, 68,00 DM.


Buchbesprechung von Linus S. Geisler: Eine herrliche Welt erschaffen - Beklemmend: Ein Sammelband zu den Visionen der NS-Medizin.
Angelika Ebbinghaus/Klaus Dörner (Hrsg.): Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen.
Frankfurter Rundschau, 09.04.2001 (Literatur)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0104fr_ebbinghaus.html

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