Ein Jahrhundert der Hoffnungen?
Linus S. Geisler
Das 21. Jahrhundert könnte
als Zeitalter der Hoffnungen in die Geschichte eingehen. Wir sind, so der
Bioethiker Dietmar Mieth, auf dem Weg zu einer "Wunscherfüllungsmedizin".
Nachdem das Genom weitgehend entschlüsselt ist, steht uns die Ära
der Post-Genomics ins Haus. Die Komplexität der Proteine als Resultat
codierter Informationen verheißt den Schlüssel zum paradiesischen
Wunderland der Medizin. Die Überwindung der großen Menschheitsplagen
Krebs, AIDS, Alzheimer-Demenz erscheint greifbar nahe. Der Run auf das
Genom hat sich auf das Proteom verlagert. Das Proteom ist zum Heiligen
Gral der Biotechnologie geworden. In ihm ruht das Geheimnis vom Verständnis
des lebendigen Menschen auf molekularer Ebene. Die Wunschkaskade kann sich
anscheinend ungehindert entfalten.
Allerdings werden wir noch
etwas Geduld haben müssen, vielleicht sogar einige Jahrzehnte lang.
Aber dann werden die Krankheiten des Menschen, Zug um Zug überwunden
sein, die Utopie der Leidfreiheit wird zur Realität geworden sein,
und der Tod mit leeren Händen dastehen. Ohne Krankheiten, derer er
sich bedienen muss, um sein Handwerk auszuüben, wird er dastehen als
abgehalfterter und ohnmächtiger Mythos aus vergangenen Tagen. So die
Visionen und Verheißungen der Biotechnologen.
Aber auch unseren Kindern
werden wir sinnloses Leiden ersparen können. Das beginnt schon bei
ihrer Auslese. Nicht ein animalischer Kopulationsvorgang wird blindlings
bestimmen, wer in diese Welt eintreten darf. Die Präimplantationsdiagnostik
(=PID) wird ein Embryonenangebot in der Petri-Schale unterbreiten, aus
dem die zukünftigen Eltern, quasi wie Reproduktions-Gourmets, ihre
Auswahl treffen können. Vom Geschlecht bis zu den letzten Finessen
des genetischen Outfits wird beim Embryo ihrer Wahl alles wunschgerecht
sein. Kaum geboren, wird dieses kleine Geschöpf vielleicht sogar schon
als Lebensretter nutzbar sein: Seine Stammzellen aus dem Nabelschnurblut
als ultimative Therapie für das erbkranke Geschwisterchen.
Freilich, hier könnten
sich erste Zweifel in das Hochgefühl der neuen Schöpfungsfreiheit
mischen. Die Vernichtung eines guten Dutzends Mitkombattanten als Preis
für den einen auserwählten Menschen? Diese verworfenen Embryonen,
dieses Häuflein Loser, sind sie lediglich "Zellhaufen" oder doch Embryonen
die sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickeln (Ulrich Lüke,
Paderborner Philosoph)? Auf der anderen Seite: Wer will den rund zwanzig
Ehepaaren in Großbritannien ihr Ansinnen verwehren, ein Retortenbaby
zu zeugen, um das Leben ihrer kranken Kinder zu retten?
Sollten wir uns nicht eine
"neue Sachlichkeit" als Denkmuster aneignen, einen pragmatischeren Umgang
mit den Makromolekülen in unseren Zellkernen, die unsere (genetische)
Identität codieren? Vielleicht werden wir dann leichter begreifen,
dass zwischen der Patentierung eines neuen Hundefutters und einer Sequenz
unserer DNA kein grundsätzlicher Unterschied besteht, wenn wir ihr
nur eine halbwegs plausible Funktion zuschreiben können? Und wenn
es ganz unerträglich wird, wenn beispielsweise Stem Cell Sciences
in Australien ein Weltpatent (WO 99/21415) auf das Klonen von Zwittern
aus Mensch und Schwein anstrebt, können wir uns immer noch auf Greenpeace
als zuverlässiges Weltgewissen im Hintergrund verlassen.
Dennoch, über all diesen
Szenarien liegt ein Schatten, der sich beklemmend auf unsere Hoffnungen
und Wünsche legt. Ein ethisches Zwielicht verdunkelt die schillernden
Zukunftsvisionen. Ratlosigkeit mischt sich als bitterer Beigeschmack in
den überbordenden Fortschrittstaumel.
Spätestens jetzt beginnen
wir uns zu fragen, ob die Würde des Menschen, die ihm per se zukommt,
ungeachtet seiner Fähigkeiten, ja selbst wenn er sich ihrer nicht
bewusst sein kann, noch Gültigkeit besitzt oder als "Begründungsbrei"
von gestern (so ein ehemaliger DFG-Präsident) ihre Schuldigkeit getan
hat? Eine Antwort könnte lauten: Wenn wir Menschenwürde nicht
nur als Eigenschaft, die dem Menschen zukommt, sondern quasi als gesellschaftlichen
Gestaltungsauftrag verstehen, weitestgehend menschenwürdige Bedingungen
zu schaffen, dann müssen wir gleichzeitig erkennen, dass unsere Lebenswelt
immer stärker von biotechnologischen Errungenschaften dominiert wird.
Und dann begreifen wir weiter, dass diesem Gebirge an Fortschritten ein
ebenso gigantisches Potential an Verletzungsmöglichkeiten der Würde
des Menschen innewohnt. Das "Wunschkind" das zugleich als Therapeutikum
instrumentalisiert wird – es scheint unser Vermögen einer gerechten
ethischen Bewertung zu übersteigen. Vielleicht, so beginnen wir uns
zu fragen, gibt es wie die "Unentscheidbarkeitssätze" in der Mathematik,
die Church und Turing 1936 beschrieben haben, nun mehr angesichts der Komplexität
des Fortschritts das Phänomen der ethischen Unentscheidbarkeit? Haben
die Biowissenschaften den Rubikon überschritten, der das Reich des
kategorischen Imperativs vom Neuland des technologischen Imperativs trennt,
in dem ethische Abwägungen außer Kraft gesetzt sind? Die ausufernden
ethischen Diskussionen, die jeder neue Fortschritt in Gang setzt und deren
Widersprüchlichkeit sich kaum mehr auflösen lässt, scheinen
diese Befürchtungen zu untermauern.
Was also tun, um das endgültige
Auseinanderfallen von Technologie und ethischer Entscheidbarkeit zu verhindern?
Vielleicht die Rasanz der technologischen Entwicklungen verlangsamen, um
den Fragen den Gewissens wieder eine Chance zu geben, den rasenden Zug
des Fortschritts einzuholen? Der Gedanke scheint eine gewisse Attraktivität
zu besitzen – freilich, wohl nur für Idealisten, die sich den Luxus
der Verantwortlichkeit glauben leisten zu können.
Professor Dr. Linus Geisler
ist Sachverständiger der Enquête-Kommission des Bundestages
"Recht und Ethik der modernen Medizin"
Homepage: www.linus-geisler.de
Geisler, Linus S.: Ein Jahrhundert
der Hoffnungen? Thüringer Zahnärzte Blatt, Januar 2001,
S. 5, (Kommentar) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0101tzb_jahrhundert.html |
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