Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: EIN JAHRHUNDERT DER HOFFNUNGEN?  THÜRINGER ZAHNÄRZTE BLATT  Januar 2001
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Ein Jahrhundert der Hoffnungen?

Linus S. Geisler

Das 21. Jahrhundert könnte als Zeitalter der Hoffnungen in die Geschichte eingehen. Wir sind, so der Bioethiker Dietmar Mieth, auf dem Weg zu einer "Wunscherfüllungsmedizin". Nachdem das Genom weitgehend entschlüsselt ist, steht uns die Ära der Post-Genomics ins Haus. Die Komplexität der Proteine als Resultat codierter Informationen verheißt den Schlüssel zum paradiesischen Wunderland der Medizin. Die Überwindung der großen Menschheitsplagen Krebs, AIDS, Alzheimer-Demenz erscheint greifbar nahe. Der Run auf das Genom hat sich auf das Proteom verlagert. Das Proteom ist zum Heiligen Gral der Biotechnologie geworden. In ihm ruht das Geheimnis vom Verständnis des lebendigen Menschen auf molekularer Ebene. Die Wunschkaskade kann sich anscheinend ungehindert entfalten.

Allerdings werden wir noch etwas Geduld haben müssen, vielleicht sogar einige Jahrzehnte lang. Aber dann werden die Krankheiten des Menschen, Zug um Zug überwunden sein, die Utopie der Leidfreiheit wird zur Realität geworden sein, und der Tod mit leeren Händen dastehen. Ohne Krankheiten, derer er sich bedienen muss, um sein Handwerk auszuüben, wird er dastehen als abgehalfterter und ohnmächtiger Mythos aus vergangenen Tagen. So die Visionen und Verheißungen der Biotechnologen.

Aber auch unseren Kindern werden wir sinnloses Leiden ersparen können. Das beginnt schon bei ihrer Auslese. Nicht ein animalischer Kopulationsvorgang wird blindlings bestimmen, wer in diese Welt eintreten darf. Die Präimplantationsdiagnostik (=PID) wird ein Embryonenangebot in der Petri-Schale unterbreiten, aus dem die zukünftigen Eltern, quasi wie Reproduktions-Gourmets, ihre Auswahl treffen können. Vom Geschlecht bis zu den letzten Finessen des genetischen Outfits wird beim Embryo ihrer Wahl alles wunschgerecht sein. Kaum geboren, wird dieses kleine Geschöpf vielleicht sogar schon als Lebensretter nutzbar sein: Seine Stammzellen aus dem Nabelschnurblut als ultimative Therapie für das erbkranke Geschwisterchen. 

Freilich, hier könnten sich erste Zweifel in das Hochgefühl der neuen Schöpfungsfreiheit mischen. Die Vernichtung eines guten Dutzends Mitkombattanten als Preis für den einen auserwählten Menschen? Diese verworfenen Embryonen, dieses Häuflein Loser, sind sie lediglich "Zellhaufen" oder doch Embryonen die sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickeln (Ulrich Lüke, Paderborner Philosoph)? Auf der anderen Seite: Wer will den rund zwanzig Ehepaaren in Großbritannien ihr Ansinnen verwehren, ein Retortenbaby zu zeugen, um das Leben ihrer kranken Kinder zu retten?

Sollten wir uns nicht eine "neue Sachlichkeit" als Denkmuster aneignen, einen pragmatischeren Umgang mit den Makromolekülen in unseren Zellkernen, die unsere (genetische) Identität codieren? Vielleicht werden wir dann leichter begreifen, dass zwischen der Patentierung eines neuen Hundefutters und einer Sequenz unserer DNA kein grundsätzlicher Unterschied besteht, wenn wir ihr nur eine halbwegs plausible Funktion zuschreiben können? Und wenn es ganz unerträglich wird, wenn beispielsweise Stem Cell Sciences in Australien ein Weltpatent (WO 99/21415) auf das Klonen von Zwittern aus Mensch und Schwein anstrebt, können wir uns immer noch auf Greenpeace als zuverlässiges Weltgewissen im Hintergrund verlassen.

Dennoch, über all diesen Szenarien liegt ein Schatten, der sich beklemmend auf unsere Hoffnungen und Wünsche legt. Ein ethisches Zwielicht verdunkelt die schillernden Zukunftsvisionen. Ratlosigkeit mischt sich als bitterer Beigeschmack in den überbordenden Fortschrittstaumel. 

Spätestens jetzt beginnen wir uns zu fragen, ob die Würde des Menschen, die ihm per se zukommt, ungeachtet seiner Fähigkeiten, ja selbst wenn er sich ihrer nicht bewusst sein kann, noch Gültigkeit besitzt oder als "Begründungsbrei" von gestern (so ein ehemaliger DFG-Präsident) ihre Schuldigkeit getan hat? Eine Antwort könnte lauten: Wenn wir Menschenwürde nicht nur als Eigenschaft, die dem Menschen zukommt, sondern quasi als gesellschaftlichen Gestaltungsauftrag verstehen, weitestgehend menschenwürdige Bedingungen zu schaffen, dann müssen wir gleichzeitig erkennen, dass unsere Lebenswelt immer stärker von biotechnologischen Errungenschaften dominiert wird. Und dann begreifen wir weiter, dass diesem Gebirge an Fortschritten ein ebenso gigantisches Potential an Verletzungsmöglichkeiten der Würde des Menschen innewohnt. Das "Wunschkind" das zugleich als Therapeutikum instrumentalisiert wird – es scheint unser Vermögen einer gerechten ethischen Bewertung zu übersteigen. Vielleicht, so beginnen wir uns zu fragen, gibt es wie die "Unentscheidbarkeitssätze" in der Mathematik, die Church und Turing 1936 beschrieben haben, nun mehr angesichts der Komplexität des Fortschritts das Phänomen der ethischen Unentscheidbarkeit? Haben die Biowissenschaften den Rubikon überschritten, der das Reich des kategorischen Imperativs vom Neuland des technologischen Imperativs trennt, in dem ethische Abwägungen außer Kraft gesetzt sind? Die ausufernden ethischen Diskussionen, die jeder neue Fortschritt in Gang setzt und deren Widersprüchlichkeit sich kaum mehr auflösen lässt, scheinen diese Befürchtungen zu untermauern. 

Was also tun, um das endgültige Auseinanderfallen von Technologie und ethischer Entscheidbarkeit zu verhindern? Vielleicht die Rasanz der technologischen Entwicklungen verlangsamen, um den Fragen den Gewissens wieder eine Chance zu geben, den rasenden Zug des Fortschritts einzuholen? Der Gedanke scheint eine gewisse Attraktivität zu besitzen – freilich, wohl nur für Idealisten, die sich den Luxus der Verantwortlichkeit glauben leisten zu können.

Professor Dr. Linus Geisler ist Sachverständiger der Enquête-Kommission des Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin"
Homepage: www.linus-geisler.de


Geisler, Linus S.: Ein Jahrhundert der Hoffnungen? Thüringer Zahnärzte Blatt,  Januar 2001, S. 5, (Kommentar)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0101tzb_jahrhundert.html

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