Start  <  Artikelübersicht  <  Linus Geisler: VORHÖLLE NACH DEM GENTEST.  FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND vom 05.12.2000
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DIE GENTECHNIK-DEBATTE

Vorhölle nach dem Gentest

Diagnosen von Biotechnologen können Menschen entmutigen - dabei werden die Risiken oft überschätzt

Von Linus Geisler

Manipulationen der Werbung zu durchschauen und das Produkt dennoch zu kaufen, war für Adorno die höchste Form des Zynismus. Die ultimative Variante des Zynismus ist erreicht, wenn es das Produkt gar nicht gibt. Inszenierung von Utopien ist das Stilmittel der "New Science", die sich anschickt, gemeinsam mit der "New Economy" die Heilige Allianz der Globalisierung zu bilden.

Konkret geht es um Visionen und Versprechen der Gentechnologie. Wie reife Früchte fallen sie in den Schoß einer Medizin, die möglichst viele Wünsche erfüllen soll. Fast gleich lautende Prophezeiungen haben Genetiker schon vor mehr als 30 Jahren für unsere Zeit geliefert: Befreiung von Hunger und Infektionskrankheiten, biblisches Alter in körperlicher und geistiger Frische, Organersatz und Retortenbabys von beliebiger Qualität.

Im grauen Praxisalltag mögen freilich Zweifel die beworbene Produktpalette in unerreichbare Ferne rücken: Wenn der Trost suchende Kranke sich als Kunde im Profit-Center erlebt und ihm statt Zuwendung die Übersetzung von Labordaten zuteil wird.

Eine nüchterne Analyse des heutigen Leistungsspektrums der Gentechnik ist desillusionierend. Gerade mal vier Anwendungen für den Menschen sind im Angebot: Gentherapie an Körperzellen, Substitutionsbehandlung, genetische Diagnostik und die - bislang nicht zugelassene - Manipulation der Keimbahn.

Die Gentherapie ist der Versuch, Gendefekte der Körperzellen durch gezieltes Einbringen eines veränderten Gens zu behandeln oder Eigenschaften von Zellen umzuprogrammieren. Nach zehnjährigen Therapieversuchen an weltweit rund 4000 Patienten ist die Bilanz bedrückend: keine definitive Heilung, an die 700 (gemeldete) schwere Komplikationen und ein Todesfall (Jesse Gelsinger, der 18-jährig am 17. September 1999 bei einem gentherapeutischen Versuch starb).

Ethisch am ehesten zu vertreten ist die Substitutionsbehandlung.
Mittlerweile stehen mehr als 30 gentechnisch hergestellte, meist horrend teure Proteine therapeutisch zur Verfügung. Aber auch hier bestimmt  der Anwendungszweck die Moral: Als Dopingmittel hat zum Beispiel Erythropoëtin mit einem Jahresumsatz von 1 Mrd. $ im Hochleistungssport eine erfolgreiche Parallelkarriere gestartet.

Aus ethischer Sicht weit bedenklicher ist die genetische Diagnostik, ein Gebiet, das auch wirtschaftlich sehr verlockend ist: Marktführer bei DNA-Chips ist der US-Pionier Affymetrix in Santa Clara, der mit Gen-Chips im vergangenen Jahr einen Erlös von 86 Mio. $ erzielte. Der weltweite Umsatz mit Labordiagnostik wird für 2005 auf 40 Mrd. $ geschätzt.

Zwar ist nichts einzuwenden gegen Verfahren, die die Kenntnisse über genetisch bedingte Stoffwechselwege von Medikamenten (Pharmakogenomik) verbessern oder eine raschere Diagnose von Infektionskrankheiten ermöglichen. Ganz anders aber sieht es aus bei der genetischen  Diagnostik an (noch) Gesunden. Das Testen ohne die Möglichkeit, später behandeln zu können - nahezu die Regel - ist ein kostspieliges Glasperlenspiel, das vergiftetes Wissen produziert.

Das Aufdecken bisher unerkannter Defekte kann Lebensperspektiven dramatisch verändern. Für die unverzichtbare Beratung vor und nach dem Test gibt es in Deutschland nur knapp 500 humangenetisch qualifizierte Experten. Andererseits hat sich der Wildwuchs genetischer Diagnostik bereits in das Internet verlagert.

Der positiv Getestete, der noch ohne Symptome ist, hat bereits seine Unschuld verloren. Er ist verbannt in das Niemandsland zwischen Gesundheit und Krankheit, eine quasi medizinische Vorhölle. Die genetische Diagnostik an im Reagenzglas gezeugten Embryonen (Präimplantationsdiagnostik) und die "Verwerfung", sprich Tötung, der wegen ihrer Erbanlagen Unerwünschten verlagert die Entscheidung über eine Selektion vom Staat auf den Einzelnen.

Krankheit wird reduziert auf Defekte an Makromolekülen. Doch Diagnostik ist mehr als angewandte Biometrie, und Medizin ist immer auch eine stochastische Kunst. Es wird ausgeblendet, dass Krankheit durch Umwelteinflüsse, Lebensstil und die Selbstauslegung des Patienten mitbestimmt wird.

Genomanalyse als Orakel der Moderne? Der Mensch als molekular determiniertes Wesen? Die Genetisierung der Gesellschaft ist kein Cassandraruf, sondern eine laufende Attacke auf Wertvorstellungen der Gesellschaft und ein ganzheitliches Menschenbild.

Der unverblendete Arzt allerdings wird auch in der Postgenomics-Ära erkennen, dass sich seine Wirkungsmöglichkeiten im Prinzip kaum von jenen unterscheiden, die ein französischer Mediziner schon vor zweihundert Jahren auf die einfache Formel gebracht hat: heilen (manchmal), lindern (häufig), trösten (immer).

Moderne Medizin ist mehr als der nüchterne Umgang zwischen aufgeklärten Health-Care-Konsumenten und Leistungserbringern - und deutlich weniger, als der Sirenengesang der genetischen Revolution uns einzureden versucht.
 

Arzt und Publizist

Linus Geisler ist Sachverständiger in der Enquete-Kommission des Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin" und stellvertretendes Mitglied der Ethikkommission der Ärztekammer Nordrhein. Der ehemalige Chefarzt und Direktor am St. Barbara-Hospital in Gladbeck publiziert über ethische Fragen der Medizin und die Beziehungen zwischen Arzt und Patient.


Geisler, Linus: Vorhölle nach dem Gentest. Financial Times Deutschland, 05.12.2000, S. 31, Kommentar (Die Gentechnik-Debatte)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0012ftd_gentest.html

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