DIE GENTECHNIK-DEBATTE
Vorhölle nach dem Gentest
Diagnosen von Biotechnologen
können Menschen entmutigen - dabei werden die Risiken oft überschätzt
Von Linus Geisler
Manipulationen der Werbung
zu durchschauen und das Produkt dennoch zu kaufen, war für Adorno
die höchste Form des Zynismus. Die ultimative Variante des Zynismus
ist erreicht, wenn es das Produkt gar nicht gibt. Inszenierung von Utopien
ist das Stilmittel der "New Science", die sich anschickt, gemeinsam mit
der "New Economy" die Heilige Allianz der Globalisierung zu bilden.
Konkret geht es um Visionen
und Versprechen der Gentechnologie. Wie reife Früchte fallen sie in
den Schoß einer Medizin, die möglichst viele Wünsche erfüllen
soll. Fast gleich lautende Prophezeiungen haben Genetiker schon vor mehr
als 30 Jahren für unsere Zeit geliefert: Befreiung von Hunger und
Infektionskrankheiten, biblisches Alter in körperlicher und geistiger
Frische, Organersatz und Retortenbabys von beliebiger Qualität.
Im grauen Praxisalltag mögen
freilich Zweifel die beworbene Produktpalette in unerreichbare Ferne rücken:
Wenn der Trost suchende Kranke sich als Kunde im Profit-Center erlebt und
ihm statt Zuwendung die Übersetzung von Labordaten zuteil wird.
Eine nüchterne Analyse
des heutigen Leistungsspektrums der Gentechnik ist desillusionierend. Gerade
mal vier Anwendungen für den Menschen sind im Angebot: Gentherapie
an Körperzellen, Substitutionsbehandlung, genetische Diagnostik und
die - bislang nicht zugelassene - Manipulation der Keimbahn.
Die Gentherapie ist der Versuch,
Gendefekte der Körperzellen durch gezieltes Einbringen eines veränderten
Gens zu behandeln oder Eigenschaften von Zellen umzuprogrammieren. Nach
zehnjährigen Therapieversuchen an weltweit rund 4000 Patienten ist
die Bilanz bedrückend: keine definitive Heilung, an die 700 (gemeldete)
schwere Komplikationen und ein Todesfall (Jesse Gelsinger, der 18-jährig
am 17. September 1999 bei einem gentherapeutischen Versuch starb).
Ethisch am ehesten zu vertreten
ist die Substitutionsbehandlung.
Mittlerweile stehen mehr
als 30 gentechnisch hergestellte, meist horrend teure Proteine therapeutisch
zur Verfügung. Aber auch hier bestimmt der Anwendungszweck die
Moral: Als Dopingmittel hat zum Beispiel Erythropoëtin mit einem Jahresumsatz
von 1 Mrd. $ im Hochleistungssport eine erfolgreiche Parallelkarriere gestartet.
Aus ethischer Sicht weit
bedenklicher ist die genetische Diagnostik, ein Gebiet, das auch wirtschaftlich
sehr verlockend ist: Marktführer bei DNA-Chips ist der US-Pionier
Affymetrix in Santa Clara, der mit Gen-Chips im vergangenen Jahr einen
Erlös von 86 Mio. $ erzielte. Der weltweite Umsatz mit Labordiagnostik
wird für 2005 auf 40 Mrd. $ geschätzt.
Zwar ist nichts einzuwenden
gegen Verfahren, die die Kenntnisse über genetisch bedingte Stoffwechselwege
von Medikamenten (Pharmakogenomik) verbessern oder eine raschere Diagnose
von Infektionskrankheiten ermöglichen. Ganz anders aber sieht es aus
bei der genetischen Diagnostik an (noch) Gesunden. Das Testen ohne
die Möglichkeit, später behandeln zu können - nahezu die
Regel - ist ein kostspieliges Glasperlenspiel, das vergiftetes Wissen produziert.
Das Aufdecken bisher unerkannter
Defekte kann Lebensperspektiven dramatisch verändern. Für die
unverzichtbare Beratung vor und nach dem Test gibt es in Deutschland nur
knapp 500 humangenetisch qualifizierte Experten. Andererseits hat sich
der Wildwuchs genetischer Diagnostik bereits in das Internet verlagert.
Der positiv Getestete, der
noch ohne Symptome ist, hat bereits seine Unschuld verloren. Er ist verbannt
in das Niemandsland zwischen Gesundheit und Krankheit, eine quasi medizinische
Vorhölle. Die genetische Diagnostik an im Reagenzglas gezeugten Embryonen
(Präimplantationsdiagnostik) und die "Verwerfung", sprich Tötung,
der wegen ihrer Erbanlagen Unerwünschten verlagert die Entscheidung
über eine Selektion vom Staat auf den Einzelnen.
Krankheit wird reduziert
auf Defekte an Makromolekülen. Doch Diagnostik ist mehr als angewandte
Biometrie, und Medizin ist immer auch eine stochastische Kunst. Es wird
ausgeblendet, dass Krankheit durch Umwelteinflüsse, Lebensstil und
die Selbstauslegung des Patienten mitbestimmt wird.
Genomanalyse als Orakel der
Moderne? Der Mensch als molekular determiniertes Wesen? Die Genetisierung
der Gesellschaft ist kein Cassandraruf, sondern eine laufende Attacke auf
Wertvorstellungen der Gesellschaft und ein ganzheitliches Menschenbild.
Der unverblendete Arzt allerdings
wird auch in der Postgenomics-Ära erkennen, dass sich seine Wirkungsmöglichkeiten
im Prinzip kaum von jenen unterscheiden, die ein französischer Mediziner
schon vor zweihundert Jahren auf die einfache Formel gebracht hat: heilen
(manchmal), lindern (häufig), trösten (immer).
Moderne Medizin ist mehr
als der nüchterne Umgang zwischen aufgeklärten Health-Care-Konsumenten
und Leistungserbringern - und deutlich weniger, als der Sirenengesang der
genetischen Revolution uns einzureden versucht.
Arzt und Publizist
Linus Geisler ist Sachverständiger
in der Enquete-Kommission des Bundestages "Recht und Ethik der modernen
Medizin" und stellvertretendes Mitglied der Ethikkommission der Ärztekammer
Nordrhein. Der ehemalige Chefarzt und Direktor am St. Barbara-Hospital
in Gladbeck publiziert über ethische Fragen der Medizin und die Beziehungen
zwischen Arzt und Patient.
Geisler, Linus: Vorhölle
nach dem Gentest. Financial Times Deutschland, 05.12.2000, S. 31, Kommentar
(Die Gentechnik-Debatte) |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0012ftd_gentest.html |
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