Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: VIELES MACHBAR - ABER NICHT ALLES BEZAHLBAR. Explodierende Kosten im Gesundheitssektor. DAS PARLAMENT  vom 11./18.08.2000
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Vieles machbar - aber nicht alles bezahlbar

Explodierende Kosten im Gesundheitssektor

von Linus S. Geisler

Folgt man den Visionen der neuen Extremwissenschaftler, den "rocket scientists", dann wird in wenigen Jahrzehnten der Mensch unsterblich sein und der Begriff "Lebenserwartung" seine Bedeutung verloren haben. 2019 werden die Computer den Turing-Test bestehen, also wie menschliche Wesen in einem beliebigen Gespräch agieren, ohne dass sie als Computer erkennbar werden. Spätestens im Jahr 2030, so Ray Kurzweil, Professor am MIT und der Autor des Buches "Homo s@piens. Leben im 21. Jahrhundert", werden Rechner die menschliche Intelligenz überrundet haben. Nanotechnologisch minimalisierte Computer, sogenannte "Nanobots", werden ins Gehirn geschleust, das sie exakt kopieren - kognitive Fähigkeiten ebenso wie Emotionalität. 

Der Mensch überlebt für alle Zeiten als herunterladbare Software, als "mind-file" und stirbt nicht mehr am Zusammenbrechen der vergänglichen Hardware "Gehirn". Im Jahr 2099 wird es maschinelle "Entsprechungen" des Menschen geben, die softwareresistent und eine Art digitaler Garantie seiner Unsterblichkeit sein werden. Freilich, so räumt Kurzweil ein, existieren dann auch noch ein paar Individuen, die "kohlenwasserstoffbasierte Neuronen" - sprich das gute alte Gehirn - benutzen, quasi Dinosaurierexemplare der Spezies Homo sapiens. Die komplexen ethischen und rechtlichen Implikationen dieses von Menschenhand gesteuerten Evolutionssprungs werden wahrscheinlich nur die softwareresistenten Entsprechungen selbst lösen können - wenn es dann überhaupt noch Wertekategorien gibt, die mit heutigen ethischen Normen entfernt etwas zu tun haben. Auf die Frage nach der ökonomischen Basis bleibt Kurzweil die Antwort schuldig. Etwa zum gleichen Zeitpunkt, an dem Computer die Rechenleistungen aller menschlichen Gehirne zusammen übertreffen werden, könnte eine ganz andere Vision Realität werden, die am ehesten den Namen "Horrorszenario" verdient. Folgt man den jüngsten Prognosen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), wird der Beitragssatz zur gesetzlichen Krankenversicherung von derzeit 13,5 Prozent bis zum Jahr 2040 auf 23,1 Prozent angestiegen sein. Schon 2015 werden sich nach Hochrechnungen der "Klinikstudie 2015" der Frankfurter Unternehmensberatung Arthur Andersen die Kosten im Gesundheitswesen knapp vervierfacht haben: statt 500 Milliarden jährlich 1,9 Billionen Mark. Eine gesetzliche Krankenversicherung wird dann praktisch nicht mehr existieren.

Sterbehilfe-Diskussion

Der Staat gewährt allenfalls eine "Basisversorgung auf niedrigem Niveau" - für das Gros der Rentenempfänger und Alten die einzige gesundheitliche Absicherung. Hinter vorgehaltener Hand wird über "sozialtechnische" Lösungen nachgedacht, auch über "gelenkte Sterblichkeit". Nur am Rande: Wer garantiert, dass die Sterbehilfe-Diskussion davon unbeeinflusst verläuft? Dass sich das auf Vertrauen basierende Arzt-Patienten-Verhältnis der guten alten Zeit unter dem ökonomischen Druck wandelt, scheint kaum abwendbar. Schon heute ist mehr von "Kunden" als von Patienten, von "Leistungen" als von ärztlichem Engagement die Rede. Der Umgang zwischen Arzt und Patient wird berechnender in jedem Sinne. Voraussehbar ist ein nüchterner Umgang zwischen aufgeklärten "Health-Care-Consumers" und "Leistungserbringern". 

Das therapeutische Handeln bestimmen Managementsysteme und betriebswirtschaftliches Kalkül. Wer auf "Patientenautonomie" als steuerndes Element in der Allokation immer knapper werdender Ressourcen setzt, sollte bedenken, dass die Aufklärungslast für Patienten ebenso begrenzt ist, wie ärztliche Belastbarkeit durch aufgeklärte Patienten, deren Wissen auf den neuesten Downloads aus dem Internet basiert. Das verschmähte Reizwort "Rationalisierung" ist bereits jetzt Realität im klinischen Alltag. Interessant ist die Ursachenanalyse des DIW für die Kostenexplosion. Danach spielt der demographische Faktor, sprich die erwartete Alterung der Bevölkerung, eine vergleichsweise moderate Rolle. Was die Kosten in erster Linie in die Höhe treibt, ist der medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt. Die neu ins Leben gerufene Enquete-Kommission des Bundestages "Recht und Ethik der modernen Medizin", wird nicht umhin können, bei den vielfältigen Problemen, die zur Klärung anstehen, diese Aspekte nicht aus dem Blickfeld zu verlieren. Zu ihren Aufgaben zählt auftragsgemäß auch, "dass sie Kriterien für die Grenzen der medizinischen Forschung entwickelt, die das unbedingte Gebot zur Wahrung der Menschenwürde beinhalten". 

Eine Medizinethik, die der Mittelverschwendung, die aus ungesteuertem Fortschrittsfanatismus resultiert, nicht entgegenwirkt, läuft Gefahr, ihre Legitimation einzubüßen. Neben der Frage, wie viel Fortschritt der Mensch verträgt, taucht zumindest gleichwertig die Frage auf, wie viel ökonomische Zwänge der zukünftigen Medizin aufgebürdet werden können, wenn verbriefte Patientenrechte und tradierte ärztliche Kodizes noch Bestand haben sollen. Eine Medizin, die einerseits ungehemmt Szenarien von Unsterblichkeit und Nichtmehr-Altern entwirft, auf der anderen Seite als Folge ökonomischer Entwicklungen, die auch aus einer ethisch aus dem Ruder laufenden Fortschrittsdynamik resultieren, eine gewisse Verkürzung der Lebenserwartung in Kauf nimmt, befindet sich in einer tiefen Sinn- und Identitätskrise. Ihre Zukunft wird wesentlich davon abhängen, wie weit ihr ein gesellschaftlich akzeptabler Klärungsprozess gelingt. 


Geisler, Linus S.: Vieles machbar - aber nicht alles bezahlbar. Das Parlament, 11./18.08.2000, Nr. 33-34, S. 4 (Zukunft - Perspektiven für das 21. Jahrhundert)
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0008parlament_zukunft.html

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