Start  <  Artikelübersicht  <  Linus S. Geisler: ANALPHABETEN BLÄTTERN IM BUCH DES LEBENS. FRANKFURTER RUNDSCHAU vom 11.07.2000
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Analphabeten blättern im Buch des Lebens

Über die EU-Richtlinie zum Schutz biotechnologischer Erfindungen / Von Linus S. Geisler

Noch im Juli soll die EU-Richtlinie (98/44/EG) zum rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen in nationales Recht umgesetzt werden. Die Bedenken sind beträchtlich: Bislang hat noch kein europäisches Land die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt. Klagen der Niederlande und Italiens sind beim europäischen Gerichtshof (EuGH) eingereicht. Auch in der rot-grünen Koalition herrscht Uneinigkeit: Forschungs- und Justizministerium wollen die Richtlinie praktisch 1:1 in deutsches Recht umsetzten, Gesundheitsministerin Andrea Fischer hegt Befürchtungen.

Wo liegt der Zündstoff für die kontroverse Debatte? Einmal im Artikel 2 der Richtlinie, der "biologische Materialien" als Material definiert, "das genetische Informationen enthält und sich selbst reproduzieren...kann". Unter diesem unverfänglichen Terminus kann, angefangen von Genen, über Organe bis hin zu Lebewesen, alles subsummiert werden, worauf die Begehrlichkeiten von Forschung, Pharmaindustrie und Ökonomie ausgerichtet sind.

Der Artikel 5 lässt daran keine Zweifel. Zwar werden in Absatz 1 der menschliche Körper sowie Sequenzen oder Teilsequenzen eines Gens als nicht patentierbare Erfindungen dargestellt. Absatz 2 konterkariert diese Einschränkung aber elegant, in dem er die Patentierung von Bestandteilen des menschlichen Körpers zulässt, sofern sie "isoliert" sind. Es war das Verdienst des Bundestagsabgeordneten Wolfgang Wodarg (SPD) und des französischen Genetikers Jean-François Mattéi, auf diesen Freibrief für die Patentierung von Genen hingewiesen zu haben. Ihre Identifizierung ist nämlich immer an eine Isolierung vom menschlichen Körper gebunden.

Die zweite Problematik verbirgt sich in Artikel 6. Er verbietet zwar das Klonen menschlicher Lebewesen und Veränderung der Keimbahn, ebenso die Verwendung von menschlichen Embryonen - allerdings nur zu "industriellen und kommerziellen Zwecken". Im Erwägungsgrund 42 wird jedoch ausgeführt, dass das Patentierungsverbot "auf keinen Fall" für Erfindungen gilt, die therapeutische und diagnostische Zwecke zum Nutzen des menschlichen Embryo ermöglichen.

Die Auswirkungen der EU-Richtlinie werden je nach Perspektive und Interessenlage höchst widersprüchlich gesehen: Dem Patentschutz biotechnologischer Erfindungen als "wertneutrales Instrument der Technologieförderung" (Joseph Straus, Max-Planck-Institut für Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht) steht die Befürchtung gegenüber, Teile des Menschen bis hin zu ganzen Organen, Säugetiere und große Teile der belebten Natur würden zum "geistigen Eigentum von Patentinhabern" (Christoph Then, Greenpeace). Die Polarität der Auffassungen und die enorme praktische Bedeutung der Übernahme wesentlicher Inhalte der EU-Biopatentrichtlinie in deutsches Patentrecht, waren für die Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin Anlass, jüngst zu einer öffentlichen Expertenanhörung einzuladen. Das Spektrum der neun Sachverständigen bot die Garantie für ausgewogene Meinungsvielfalt bei dieser Thematik, deren Brisanz kaum geringer sein dürfte, als die der umstrittenen "Bioethikkonvention" des Europarates. Die Argumente bewegten sich im Spannungsfeld zwischen der Suche nach neuen genbasierten Arzneimitteln, der Respektierung unantastbarer Grenzen der belebten Natur und weltweiten Marktinteressen.

Das Patentrecht ist seiner Natur nach ein gewerbliches Schutzrecht und damit auf gewerbliche Nutzung und Profit angelegt. Es kann eine Erfindung patentieren, von der bestimmte Anwendungen gesetzlich verboten sind. Patentämter sind keine "Ethikkommission", so ein Sachverständiger. Der Katalog beschwichtigender Einlassungen war beträchtlich: Die Umsetzung der EU-Richtlinie sei lediglich eine Fixierung der gegenwärtigen Rechtspraxis in Deutschland. Über 2000 Patente sind am Europäischen Patentamt (EPA) auf menschliche Gene angemeldet, 300 bereits gültig (Stand 1998). Die Ineinssetzung von "genetischer" Information und "Leben" wurde negiert und betont, Patentierung begründe kein Eigentumsrecht an Genen oder Lebewesen.

Gebetsmühlenhaft wurde das Wirtschaftsstandort-Argument repetiert. Ohne Genpatentierung sei die Entwicklung maßgeschneiderter Medikamente gegen die großen Menschheitsplagen blockiert: "No patents, no cures". Schließlich: Genpatente seien angesichts der Veröffentlichung des menschlichem Genoms im Internet und einer Patentlaufzeit von 20 Jahren "Auslaufmodelle". Die Gegenstimmen, die auf eine Revision oder zeitliche Zurückstellung der EU-Richtlinie abzielten, basierten auf der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens von Anfang an, auf der noch völlig unzureichenden Kenntnis über die Komplexität des menschlichen Erbgutes und die nicht abschätzbaren Folgen gentechnischer Eingriffe.

Die Funktion nur weniger hundert menschlicher Gene ist bekannt und dies meistens lückenhaft. So sind die bereits als "Brustkrebsgene" patentierten Gene BRCA 1 und BRCA 2 nach neuesten Befunden auch auf eine völlig andere Krebsart, das Prostatakarzinom, codiert. Wenn neue, für den Embryo therapeutisch "nützliche" Patente erteilt werden, ist der Schritt zur "Verbesserung" von Embryonen und damit zur Keimbahnmanipulation klein. Eine Monopolisierung von Genpatenten für besonders gewinnträchtige pharmazeutische Produkte dürfte eher eine Einengung für die wissenschaftliche Forschung und ein Desinteresse an der Entwicklung von "orphan drugs", also Arzneimitteln für seltene Krankheiten bedeuten. Patentanwendungen dürfen nicht gegen die guten Sitten oder den "ordre public" verstoßen. Aber in der europäischen Gemeinschaft haben sich dafür noch keine einheitlichen Wertmaßstäbe herausgebildet. Dem angestrebten einheitlichen Schutzniveau in der EU stehen erheblich divergierende Definitionen von "menschlichen Lebewesen" oder "Embryonen" und unterschiedliche Verbotsschwellen in den Mitgliedsstaaten entgegen. Ein "ethisches Trittbrettfahrertum" durch Importe ist nicht auszuschließen.

Die Buchstaben des Buchs des Lebens sind entschlüsselt, aber der Text ist noch unlesbar. Eine in diesem Sinne analphabetische Wissenschaft schickt sich aber bereits an, ihn nach ihrem Belieben zu deuten, zu ändern und zu nutzen. Die EU-Biopatentrichtlinie - ein weiteres Signum für die Reduktion des Menschen auf seine Gene? Alles in allem: Ein Moratorium dürfte das mindeste sein, was von einer verantwortungsvollen Politik zu erwarten ist.
 

Prof. Dr. Linus S. Geisler ist Sachverständiger der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin.


Geisler, Linus S.: Analphabeten blättern im Buch des Lebens - Frankfurter Rundschau, 11.07.2000
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0007fr_analphabeten.html

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