Analphabeten blättern im Buch
des Lebens
Über die EU-Richtlinie
zum Schutz biotechnologischer Erfindungen / Von Linus S. Geisler
Noch im Juli soll die EU-Richtlinie
(98/44/EG) zum rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen in nationales
Recht umgesetzt werden. Die Bedenken sind beträchtlich: Bislang hat
noch kein europäisches Land die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt.
Klagen der Niederlande und Italiens sind beim europäischen Gerichtshof
(EuGH) eingereicht. Auch in der rot-grünen Koalition herrscht Uneinigkeit:
Forschungs- und Justizministerium wollen die Richtlinie praktisch 1:1 in
deutsches Recht umsetzten, Gesundheitsministerin Andrea Fischer hegt Befürchtungen.
Wo liegt der Zündstoff
für die kontroverse Debatte? Einmal im Artikel 2 der Richtlinie, der
"biologische Materialien" als Material definiert, "das genetische Informationen
enthält und sich selbst reproduzieren...kann". Unter diesem unverfänglichen
Terminus kann, angefangen von Genen, über Organe bis hin zu Lebewesen,
alles subsummiert werden, worauf die Begehrlichkeiten von Forschung, Pharmaindustrie
und Ökonomie ausgerichtet sind.
Der Artikel 5 lässt
daran keine Zweifel. Zwar werden in Absatz 1 der menschliche Körper
sowie Sequenzen oder Teilsequenzen eines Gens als nicht patentierbare Erfindungen
dargestellt. Absatz 2 konterkariert diese Einschränkung aber elegant,
in dem er die Patentierung von Bestandteilen des menschlichen Körpers
zulässt, sofern sie "isoliert" sind. Es war das Verdienst des Bundestagsabgeordneten
Wolfgang Wodarg (SPD) und des französischen Genetikers Jean-François
Mattéi, auf diesen Freibrief für die Patentierung von Genen
hingewiesen zu haben. Ihre Identifizierung ist nämlich immer an eine
Isolierung vom menschlichen Körper gebunden.
Die zweite Problematik verbirgt
sich in Artikel 6. Er verbietet zwar das Klonen menschlicher Lebewesen
und Veränderung der Keimbahn, ebenso die Verwendung von menschlichen
Embryonen - allerdings nur zu "industriellen und kommerziellen Zwecken".
Im Erwägungsgrund 42 wird jedoch ausgeführt, dass das Patentierungsverbot
"auf keinen Fall" für Erfindungen gilt, die therapeutische und diagnostische
Zwecke zum Nutzen des menschlichen Embryo ermöglichen.
Die Auswirkungen der EU-Richtlinie
werden je nach Perspektive und Interessenlage höchst widersprüchlich
gesehen: Dem Patentschutz biotechnologischer Erfindungen als "wertneutrales
Instrument der Technologieförderung" (Joseph Straus, Max-Planck-Institut
für Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht) steht die Befürchtung
gegenüber, Teile des Menschen bis hin zu ganzen Organen, Säugetiere
und große Teile der belebten Natur würden zum "geistigen Eigentum
von Patentinhabern" (Christoph Then, Greenpeace). Die Polarität der
Auffassungen und die enorme praktische Bedeutung der Übernahme wesentlicher
Inhalte der EU-Biopatentrichtlinie in deutsches Patentrecht, waren für
die Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen Medizin Anlass, jüngst
zu einer öffentlichen Expertenanhörung einzuladen. Das Spektrum
der neun Sachverständigen bot die Garantie für ausgewogene Meinungsvielfalt
bei dieser Thematik, deren Brisanz kaum geringer sein dürfte, als
die der umstrittenen "Bioethikkonvention" des Europarates. Die Argumente
bewegten sich im Spannungsfeld zwischen der Suche nach neuen genbasierten
Arzneimitteln, der Respektierung unantastbarer Grenzen der belebten Natur
und weltweiten Marktinteressen.
Das Patentrecht ist seiner
Natur nach ein gewerbliches Schutzrecht und damit auf gewerbliche Nutzung
und Profit angelegt. Es kann eine Erfindung patentieren, von der bestimmte
Anwendungen gesetzlich verboten sind. Patentämter sind keine "Ethikkommission",
so ein Sachverständiger. Der Katalog beschwichtigender Einlassungen
war beträchtlich: Die Umsetzung der EU-Richtlinie sei lediglich eine
Fixierung der gegenwärtigen Rechtspraxis in Deutschland. Über
2000 Patente sind am Europäischen Patentamt (EPA) auf menschliche
Gene angemeldet, 300 bereits gültig (Stand 1998). Die Ineinssetzung
von "genetischer" Information und "Leben" wurde negiert und betont, Patentierung
begründe kein Eigentumsrecht an Genen oder Lebewesen.
Gebetsmühlenhaft wurde
das Wirtschaftsstandort-Argument repetiert. Ohne Genpatentierung sei die
Entwicklung maßgeschneiderter Medikamente gegen die großen
Menschheitsplagen blockiert: "No patents, no cures". Schließlich:
Genpatente seien angesichts der Veröffentlichung des menschlichem
Genoms im Internet und einer Patentlaufzeit von 20 Jahren "Auslaufmodelle".
Die Gegenstimmen, die auf eine Revision oder zeitliche Zurückstellung
der EU-Richtlinie abzielten, basierten auf der Schutzwürdigkeit menschlichen
Lebens von Anfang an, auf der noch völlig unzureichenden Kenntnis
über die Komplexität des menschlichen Erbgutes und die nicht
abschätzbaren Folgen gentechnischer Eingriffe.
Die Funktion nur weniger
hundert menschlicher Gene ist bekannt und dies meistens lückenhaft.
So sind die bereits als "Brustkrebsgene" patentierten Gene BRCA 1 und BRCA
2 nach neuesten Befunden auch auf eine völlig andere Krebsart, das
Prostatakarzinom, codiert. Wenn neue, für den Embryo therapeutisch
"nützliche" Patente erteilt werden, ist der Schritt zur "Verbesserung"
von Embryonen und damit zur Keimbahnmanipulation klein. Eine Monopolisierung
von Genpatenten für besonders gewinnträchtige pharmazeutische
Produkte dürfte eher eine Einengung für die wissenschaftliche
Forschung und ein Desinteresse an der Entwicklung von "orphan drugs", also
Arzneimitteln für seltene Krankheiten bedeuten. Patentanwendungen
dürfen nicht gegen die guten Sitten oder den "ordre public" verstoßen.
Aber in der europäischen Gemeinschaft haben sich dafür noch keine
einheitlichen Wertmaßstäbe herausgebildet. Dem angestrebten
einheitlichen Schutzniveau in der EU stehen erheblich divergierende Definitionen
von "menschlichen Lebewesen" oder "Embryonen" und unterschiedliche Verbotsschwellen
in den Mitgliedsstaaten entgegen. Ein "ethisches Trittbrettfahrertum" durch
Importe ist nicht auszuschließen.
Die Buchstaben des Buchs
des Lebens sind entschlüsselt, aber der Text ist noch unlesbar. Eine
in diesem Sinne analphabetische Wissenschaft schickt sich aber bereits
an, ihn nach ihrem Belieben zu deuten, zu ändern und zu nutzen. Die
EU-Biopatentrichtlinie - ein weiteres Signum für die Reduktion des
Menschen auf seine Gene? Alles in allem: Ein Moratorium dürfte das
mindeste sein, was von einer verantwortungsvollen Politik zu erwarten ist.
Prof. Dr. Linus S. Geisler
ist Sachverständiger der Enquete-Kommission Recht und Ethik der modernen
Medizin.
Geisler, Linus S.: Analphabeten blättern
im Buch des Lebens - Frankfurter Rundschau, 11.07.2000 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0007fr_analphabeten.html |
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