Nichts, auf das wir mit Freude zu hoffen
wagen
Der neue Mensch ist kein
Wesen mehr zum Anfassen / Linus Geisler über die Medizin des 21. Jahrhunderts
Wie wird sie aussehen,
die Medizin des dritten Jahrtausends? Linus Geisler formuliert in seinem
Beitrag weniger die Zukunftsperspektiven aller wichtigen Sparten der modernen
Heilkunde, sondern exemplarisch das untergründige Unbehagen an einer
bestimmten Medizin, an ihrer Widersprüchlichkeit und ihrer Menschenferne.
Wir dokumentieren den Beitrag des früheren Chefarztes am St. Barbara
Hospital in Gladbeck mit dem Titel "Medizin an der Schwelle zum dritten
Jahrtausend - Das Verschwinden des Bösen?" im Wortlaut.
Zukünfte
In Samuel Becketts Endspiel
antwortet der Diener Clov auf die angstvolle Frage seines Herren Hamm ("Was
passiert eigentlich?") mit den kryptischen Worten "Irgendetwas geht seinen
Gang." Dieses Irgendetwas sitzt uns im Nacken. Wir möchten ihm gerne
einen Namen geben: Selbst "Apokalypse" wäre erträglicher, als
diese Vorahnung in der Silvesternacht, dass uns hundert Jahre Einsamkeit
bevorstehen, hundert als symbolische Zahl gemeint.
Die Zahl 2000 zwingt unseren
Blick magisch in die Zukunft. Aber bekanntlich gleicht das Stellen von
Zukunftsprognosen einem Kamikaze-Unterfangen. Vorhersagen für kurze
Zeiträume sind nicht ausgenommen. Wer weiß, ob am Ende des "langen
Booms", den der Zukunftsforscher Peter Schwartz, Chef des GBN (Global Business
Network) in seiner Geschichte der Zukunft beschreibt, im Jahre 2018 tatsächlich
das Zeitalter der Nanotechnologie ausgebrochen sein wird: Mikromaschinen
im Körperinneren führen in Femtosekunden (= 100 Billionstel Sekunden)
Zellreparaturen aus.
Ganz zu schweigen von längerfristigen
Prognosen: Die Vision der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner
im Jahr 1899 von der Abschaffung des Krieges "als legale Institution" bis
zum Ende des 20. Jahrhunderts zählt zu dieser Kategorie. Selbst das
bescheidenere Entwerfen von "Szenarien" ist kaum mehr als russisches Roulette
mit vermeintlich harten Daten.
Die Vorsichtigeren erkennen
wenigstens, dass es immer gefährlicher wird, sich ständig neue,
noch fortschrittlichere Zukünfte zusammenzufantasieren. Denn die Zukünfte
schlagen zurück in die Gegenwart. Sie verbauen die Kontingenz als
Fundament der Freiheit. Sie engen die Handlungsspielräume und die
Kreativität ein. Ihre Gloriosität in der Ferne ist unsere Depression
heute. Selbst das Zuckerbrot des Mega-Fortschritts, das die "rocket scientists",
die Extremwissenschaftler, den Menschen penetrant vor die Nase halten,
hat einen bitteren Beigeschmack und löst neue Ängste aus: werden
wir so schnell leben können, wie es uns die Beschleunigung des Fortschritts
diktiert?
Oder werden wir in die Kategorie
der "Entschleuniger" gerechnet werden, zu den "Todtnauberg-Menschen" Heideggerschen
Angedenkens (Peter Glotz). Da trösten uns die Appelle der wenigen
Rufer in der Wüste nach "Verlangsamung des Fortschritts" (Dietmar
Mieth) oder "entschleunigtem Fortschritt" (Alexander Gauland) allenfalls
oberflächlich. Nichts, auf das wir mit Freude zu hoffen wagen. Das
Millennium der christlichen Eschatologie bot wenigstens noch die Aussicht
auf ein Jahrtausend, das die Ankettung des Teufels verhieß.
Wagnis des Unmöglichen
Dennoch: Das Wagnis, dem
Beckettschen "Irgendetwas" Kontur zu geben, legitimiert sich als Versuch
des kommunikativen Umgangs mit der Angst, "weil wir darüber, wofür
wir Worte haben, auch schon hinaus sind" (Nietzsche). Es geht also um Artikulierung
von Angst, nicht um Angstüberwindung, um Angst, in der Andrzej Szczypiorski,
die Garantie unserer Existenz sieht. Es geht um die Frage nach der Ursache
des besonderen Schmerzes, den der Abschied vom 20. Jahrhundert auslöst
und der möglicherweise zu tun hat mit dem Verlust der Unschuld.
Warum trotz der faustischen
Pakte der Wissenschaften die Erlösung ausbleibt und das Mephistophelische
Prinzip der Umkehrung des Bösen zum Guten außer Kraft geraten
zu sein scheint. Warum die Grenzen zwischen dem Gewaltigen und dem Gewalttätigen
nicht mehr auszumachen sind. Warum der Mensch nach dem Sturz aus der Mitte
der Welt immer mehr zur Randfigur des eigenen Systems gerät. Immer
stärker beginnt er ". . . seine totale Verlassenheit und seine radikale
Fremdheit" in dieser Welt zu erkennen, so Jacques Monod (Medizinnobelpreis
1965). Er hat ". . . seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universum
. . ., das für seine Musik taub ist und gleichgültig gegen seine
Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen . . . Nicht nur sein Los, auch seine
Pflicht steht nirgendwo geschrieben."
Kurzum, nach dem Verlust
des Gottvertrauens, scheint die letzte diesseitige Bastion, das Weltvertrauen,
abhanden gekommen zu sein.
Arzt und Systeme
In seinen Betrachtungen über
die wunderliche Natur des ärztlichen Berufes fragt der Medizinhistoriker
Hermann Kerschensteiner, "was eigentlich an diesem Gemisch von Wissenschaft,
Kunst, Handwerk, Liebestätigkeit und Geschäft, das Wesentliche
sei". Diese altmodischen Facetten des Arztberufes werden überwuchert
durch die Dominanz der Fremdbestimmung. Medizin als reglementierte Profession
und Dienstleistung. Der Arzt als schwächstes Glied in der Kette der
"Leistungserbringer", ausgesetzt dem wachsenden Druck der Politik, der
Sozialpartner, der Patientenforderungen, der Medien, der zunehmenden Verrechtlichung,
den erpresserischen Sirenenstimmen der Pharmaindustrie. Im Jobdenken verschwinden
die Reste von Berufung.
Individualismus ist unerwünscht,
Persönlichkeit suspekt, die Austauschbarkeit greift um sich. Auch
die Gier: Abrechnungsmanipulation und Wissenschaftsbetrug als Symptome
eines korrumpierten Berufsethos. Evidence based Medicine (EBM) und Managed
Care diktieren die Handlungsspielräume. Computerisierte Expertensysteme
berechnen Prognosen und entwerfen (noch) unverbindliche Handlungsoptionen.
Der Sieg der harten über die weichen Daten, das Ende des klinischen
Blicks ist angesagt. Gott sitzt, wenn überhaupt irgendwo, im Rechner.
Die "Tante-Emma-Praxis",
in der Arzt und Patient über ihre Lebensgeschichten gegenseitig im
Bilde waren, ist tot. Organkliniken und vernetzte Ambulatorien breiten
sich aus, in denen auf ein Einzelsymptom reduzierte Kranke sich Ärzten
zuhauf gegenübersehen, von denen keiner ihr Arzt ist. Samariter und
Räuber zu unterscheiden fällt immer schwerer. Nach alter tibetischer
Lehrmeinung gleicht ein Arzt, der keine medizinischen Instrumente besitzt,
einem Ritter ohne Rüstung und Waffen. Der Patient von heute prallt
auf monströse Rüstungen und ein hochtechnisiertes Waffenarsenal,
wo aber ist der Ritter?
Das schweinerne Herz
Nach der endlos scheinenden
Geburt eines Transplantationsgesetzes, das der Organbeschaffung die Pforten
weit öffnet, trickreich den Hirntod lediglich als Voraussetzung zur
Organentnahme verharmlost und seine Gleichsetzung mit dem Tod des Menschen
verschleiert, nach euphemistischen Werbekampagnen (Organwechsel nach dem
garbage-in-garbage-out-Prinzip) dümpelt die Organtransplantation auf
dem seit Jahren gleichen Level vor sich hin. Eine Abstimmung mit den Füßen?
Es ist Organspende, und so gut wie keiner geht hin?
Verhieß da nicht die
Unesco, jeder zweite Eingriff nach dem Jahre 2000 werde eine Verpflanzung
von Organen oder Geweben sein? Am offerierten Menü kann es kaum liegen:
Eierstöcke, Hoden, Hirngewebe - alles im Angebot und technisch unproblematisch.
Auch die Kopfverpflanzung
von Krebskranken im Finalstadium auf den gesunden Rumpf eines Hirntoten,
so der amerikanische Chirurg Robert White von der Case Western Reserve-Universität,
gläubiger Katholik und Vater von zehn Kindern, werde im ersten Jahr
des neuen Jahrhunderts möglich sein. Verpflanzte Affenköpfe hätten
in seiner Gegenwart immerhin schon die Augen gerollt und die Zähne
gefletscht. Selbst am makabren Gegenexperiment wird gearbeitet: die Züchtung
kopfloser Wesen durch den englischen Wissenschaftler Jonathan Slack.
Sollte es möglicherweise
ein übergeordnetes "Abstoßungsphänomen" geben? Aber der
systemeigene Expansionsdruck ist nicht aufzuhalten. Er bedient sich rigoros
aller Mittel. Lebendspende ist angesagt. Die Altlast des nil-nocere ist
entsorgt. Renommierte Strafrechtler hegen keine Bedenken gegen operative
Eingriffe an Gesunden trotz des Sterblichkeitsrisikos von zirka einem Promille
(Nieren-Lebendspende). Die gesellschaftlichen Implikationen werden ausgeblendet.
In den USA stammen bereits
rund 25 Prozent der verpflanzten Nieren von Gesunden, aber der Chirurg
Robert Montgomery spricht von "ungenügend genutzten Ressourcen". Was
wird, wenn eines Tages 80 Prozent der Mütter dialysepflichtiger Kinder
eine Niere geopfert haben, mit den widerspenstigen restlichen 20 Prozent?
Die Vision von der Lebendspende als "unerschöpflichem Reservoir" (Jochem
Hoyer), das im Umfeld jedes terminal Nierenkranken einen "potentiell gesunden
Spender" erkennt, steht bereits im Raum. Die Gesellschaft von morgen ein
fröhliches Kollektiv von Lebendspendern?
Andere unerschöpfliche
Reservoire tun sich auf: Das "spannendste, umstrittenste und verschwiegenste
aller wissenschaftlichen Unterfangen" (Technology Review), die Jagd nach
embryonalen menschlichen Stammzellen ist eröffnet. In diesem "Schatzhaus
der Möglichkeiten" schlummert das Potenzial, "maßgeschneiderte"
Gewebe und Organe zu züchten. Noch verhindert das Embryonenschutzgesetz
den Zugriff auf "frühe menschliche Lebewesen", die für andere
allerdings lediglich "Zellhaufen" sind (Michael West, Direktor von Advanced
Cell Technology).
Doch der Konsequenzialismus
lässt nicht locker: Wenn Kranke durch embryonale Stammzellen geheilt
werden könnten, "dann werde in Deutschland eine Mehrheit dafür
sorgen, dass das Embryonenschutzgesetz geändert wird", so die Forderung
von Reproduktionsmedizinern. Aber vielleicht macht die Xenotransplantation
das Rennen. Favorit ist das Schwein, denn Affen sind zu teuer und emotional
"zu hoch besetzt". Wenn Tarnkappenmoleküle das Abstoßungsproblem
ausgetrickst haben, die Einschleusung von Schweineviren ins menschliche
Erbgut blockiert ist und die Farmen mit transgenen Schweinen florieren,
könnte der Boom ausbrechen:
10 000 Herztransplantationen
statt magerer 500 im Jahr. Freilich, die Funktionsdauer ist ungewiss. Was,
wenn sie nur zehn Monate statt zehn Jahre betragen sollte? Dann werden
die Wartelisten nicht abgebaut, sondern länger. Ganz zu schweigen
vom Kostenfaktor (zirka 2,5 Milliarden Mark pro Jahr).
Ins Netz gegangen?
Das Internet, ein anarchisches
System ohne Firmensitz, Aufsichtsrat oder Vorstand, ohne den Status einer
juristischen Person, ohne wirksame Kontrolle. Nahezu alles lässt sich
hier finden und loswerden.
Für die Medizin ein
weites Feld, dessen Auswirkungen noch kaum zu erahnen sind. Blitzschneller
Zugriff auf Datenbanken, virtuelle Bibliotheken, Internetkonferenzen, Operations-
und Sektionskurse am digitalen Menschen als neue Aus- und Fortbildungsmedien.
In "Health Online Services" beantworten Spezialisten (Qualifikation ungeprüft)
Ärzten und Apothekern ausgefallene Fragen. Die Teilnehmer von Selbsthilfegruppen
aus guten alten Tagen tauschen zunehmend ihre Erfahrungen in Chatrooms
aus.
In den USA stehen für
23 Millionen Gesundheitssurfer über 15 000 medizinische Webseiten
zu Verfügung. Der graue Arzneimittelmarkt im Internet, vor allem für
Lifestyle-Medikamente, floriert. Einer aktuellen Studie von Katrina Armstrong
(New England Journal of Medicine, Oktober 1999) zufolge wird allein Sildenafil
(Viagra) auf 86 Webseiten angeboten (Hinweise auf Kontraindikationen oder
Nebenwirkungen finden sich nur bei rund einem Drittel der Anbieter). Gesamtsumme
für die Direct-to-customer (DTC) Werbung in den USA: jährlich
1,5 Milliarden Dollar.
Der Hausarzt, dessen Wissensstand
vor fünf oder zehn Jahren eingefroren wurde, sieht sich, vor allem
in den USA, immer häufiger mit Patienten konfrontiert, die ihm Stapel
frischer Computerausdrucke unter die Nase halten. Online-Beratung, -Behandlung
und Selbstbehandlung laufen der klassischen Arzt-Konsultation den Rang
ab. Angehörige chronisch Kranker laden sich enzyklopädische Kenntnisse
aus dem Netz herunter, übernehmen selbst die Behandlung und begeben
sich auf Vortragsreisen für andere Leidensgenossen.
Neurosen und Abartigkeiten
lassen sich ungehemmt "outen". Seelische Verstörungen werden nicht
auf der Couch analysiert, sondern per E-Mail angegangen. Das Internet als
"spezifischer Entstehungskontext von Gefühlen" (Christina Schachtner)
fördert die soziale Integration des einen und überfordert den
anderen. Das gefährdete Ich droht in unterschiedliche Bilder zu zerfallen
wie eine multiple Persönlichkeit (Sherry Turkle).
Die Cyberwelt verführt
zum Identity-Switch, zum Fluktuieren zwischen Rollen und Selbstbildern.
Sie etabliert rasch Beziehungen und löst sie ebenso rasch und ohne
Skrupel auf, die altmodische "Arzt- Patienten-Beziehung" nicht ausgenommen.
Ein neuer Anschlag auf das Ich, ein anderer Ort der Einsamkeit?
Der neue Mensch
Freuen wir uns auf den neuen
Menschen der Molekularbiologie! Altmodische Empfindsamkeiten sind aus seinem
Erbgut eliminiert. Dass er zum Endloskopierer eines manipulierten Genoms
geworden ist, bewirkt keine Kränkung. Die Qualen der Ich-Jagd, die
zugleich spiegelverkehrte Suche nach Gott im Inneren ist (Peter Gross),
diesen uralten, in den neuen Katalog genetischer Defekte aufgenommenen
Trieb, hat man ihm gründlich ausgetrieben. Die radikale Ausrottung
der Wurzeln, mit denen der Mensch seine Defekte Generation für Generation
aufgesogen hat, ist angesagt, das Abwerfen des Erbgutes als Erbsünde.
Anvisiert ist die geschichtslose
Kreatur, eine genetische Waise, ein Wesen ohne Vergangenheit, nur noch
mit einer Zukunft aus fremder Hand. Ichlosigkeit als Ideal einer neuen
Befindlichkeit.
Die Computerspezialisten
runden das Szenario ab. Spätestens im Jahr 2030, so Ray Kurzweil,
Professor am MIT und Autor von The Age of Spritual Machines (Homo sapiens.
Leben im 21. Jahrhundert), werden Computer die menschliche Intelligenz
überrundet haben. Nanotechnologisch minimalisierte Computer, sogenannte
Nanobots, werden über den Kreislauf ins Gehirn geschleust, das sie
exakt kopieren, kognitive Fähigkeiten ebenso wie Emotionalität.
Wir überleben für alle Zeiten als herunterladbare Software, als
"mind-file" und sterben nicht mehr am Zusammenbrechen der vergänglichen
Hardware Gehirn.
Aber das Unbehagen bleibt.
Der neue Mensch, so lautstark er verkündet wird, so merkwürdig
blass, ja unbelebt wirkt er. "Stark, gesund und schön" rufen als abgenutzte
plakative Phrasen keine lebendigen Figuren auf den Plan. Der neue Mensch
ist kein Wesen zum Anfassen.
Was macht ihn aus im Detail?
Ewiges Gedächtnis und ewige Potenz? Kalkfreie Arterien und unzerbrechliche
Knochen? Immunität gegen Aids, Krebs und noch alle künftigen
Infektionskrankheiten und Tumoren? Das Arsenal der Organe stets komplett
und auf dem neuesten Stand, der Körper permanent runderneuert?
Sieht er mehr, der neue Mensch,
etwa wenn er Alpengipfel betrachtet oder Michelangelos David? Schmeckt
ihm der Kaviar noch kaviariger und der Hummer noch hummeriger? Und wenn
er schon seit achtzig Jahren nicht mehr gearbeitet hat, findet sich dann
immer noch ein neues Schlag-die-Zeit-tot-Spielchen?
Hält er das aus: hundert
Jahre lang jeden Morgen im Spiegel den gleichen, knackigen, alterslosen
Körper zu sehen? Kann man ihm uralte Geschichten verständlich
machen, in denen noch Menschen, wie der Stammvater Abraham "hochbetagt
und lebenssatt" ihre Endlichkeit annahmen? Oder ist dieser bessere Mensch
etwas gänzlich anderes: unfähig, Steuern zu hinterziehen, die
Ehe zu brechen oder im Krieg kleinen Kindern die Augen auszustechen? Wo
steckt das ganz und gar andere?
Ein Entwurf ist nicht erkennbar.
Der neue Mensch, nicht mehr als eine kostspielige Mogelpackung mit unbekanntem
Inhalt? Ist diese neue Wissenschaft vielleicht nur eine wiederaufgewärmte
"fröhliche Wissenschaft" (Nietzsche), mit dem alten Versprechen: ".
. . und der Mensch wird von da an immer höher steigen, wo er nicht
mehr in einen Gott ausfließt . . ."?
Aber vielleicht ist dieser
unsterbliche Mensch nichts anderes als die Projektion der Endlichkeits-Angst
seiner Schöpfer.
Rotstift-Kreaturen
Gesundheit als herausragendes
Ziel der Industriegesellschaft definiert sich als "Konditionalgut". Aber
die Leistungsexplosion der Medizin bewirkt eine ungehemmte Kostenexplosion.
Die Fortschrittsfalle schnappt zu. Im Jahr 2020 werden die Ausgaben für
Renten-, Sozial- und Krankenversicherung auf über 50 Prozent des Einkommens
steigen, wobei auf Gesundheitsleistungen zirka 18 Prozent entfallen. Gesundheit
für alle zu jedem Preis? Zwang zur Gesundheit?
Die Grenzen der Belastbarkeit
des Sozial- und Gesundheitssystems rücken greifbar nahe. Die Suche
nach den Hauptschuldigen zeichnet sich ab, den chronisch Kranken, den schwer
Pflegebedürftigen, den Alten in den überproportional teuren letzten
zwei Lebensjahren. Jenes Kollektiv, das dank der modernen Medizin ständig
wächst. Das große Rechnen beginnt, die Planspiele hinter verschlossenen
Türen.
Ein Zauberwort geistert durch
die Runde: Verkürzung der Lebenserwartung. Zum Beispiel durch medizinische
Basisversorgung auf "niedrigem Niveau" ab dem Rentenalter. Durch radikale
"Qualitätskontrollen" für teure medizinische Leistungen, durch
rigorose Rationierung. Qualität heißt dann Kostenersparnis und
Systementlastung. Eine neue Niere nur noch, wenn sie billiger ist als chronische
Dialyse? Eine Lebertransplantation (für zirka 225 000 Mark) oder die
Verdoppelung der medizinischen Leistungsaufwendungen für mehr als
200 Alzheimer-Patienten (von Schulenburg)? Recht auf die Erfüllung
eines Kinderwunsches um jeden Preis?
Die Schlagkraft der Lobbys
ist herausgefordert. Hinter vorgehaltener Hand wird über "sozialtechnische"
Lösungen nachgedacht, auch über "gelenkte Sterblichkeit". Die
Diskussion über Sterbehilfe könnte bald eine ganz andere Qualität
erreichen, nicht nur in den Niederlanden, so der Theologe Ulrich Eibach.
Die Sloterdijksche Erkenntnis,
dass in wachsendem Maße ". . . der Mensch für den Menschen die
höhere Gewalt darstellt" (Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark),
beginnt sich zu bewahrheiten, freilich weniger durch die Macht der Anthropotechniken
als durch den Würgegriff knapper gewordener Budgets. Ein böses
Erwachen für die Fetischisten der Globalisierung als Allheilmittel
(Bill Gates: In 20 Jahren sind dank der Globalisierung alle heutigen Probleme
der Medizin gelöst). Rotstift-Mensch versus Unsterblichkeit? Ein System
am Rande der Bewusstseinsspaltung ?
Zeit der Unmündigkeit
War die Aufklärung im
Kant'schen Sinne der "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit", so findet sich der heutige Mensch in einer labyrinthischen
Unmündigkeit wieder. Er erlebt schmerzlich, dass wachsender Fortschritt
immer auch wachsende Ratlosigkeit bedeutet. Die erdrückende Wissensflut
befähigt ihn nicht, sich für das Gute zu entscheiden. Vielmehr
bewirken die komplexen, chaotischen Systeme, aus denen Wissen und sogenannter
Fortschritt entspringen, dass er das Gute nicht mehr erkennen kann. So
wie die Welt ein unüberschaubarer fragmentierter Ort geworden ist,
so ist auch er fragmentiert. Das Ich - ein dunkles Kaleidoskop ständig
wechselnder Wünsche, Ängste, Sehnsüchte und Selbstsüchte.
Nichts was ihn verlässlich zusammenhält, das ihm eine Mitte zeigt,
die der Urgrund ist. Die Systeme, in deren Griff er sich vorfindet, eröffnen
ihm pausenlos wechselnde und widersprüchliche Perspektiven.
Das Urvertrauen als Grundlage
des Seins ist abhanden gekommen. Er sieht sich einer Medizin ausgeliefert,
die Züge einer multiplen Persönlichkeit trägt. Je exorbitanter
ihre Errungenschaften, desto gnadenloser die Erkenntnis, dass sich die
Verheißung leidfreien Seins als die Fiktion dieses Jahrhunderts erweist.
Dass die Summe menschlichen Leidens eine unabänderliche anthropologische
Konstante darstellt. Sie verspricht ewiges Leben und strebt die Verkürzung
der Lebenserwartung als Rationierungseffekt an. Sie senkt die Versorgung
der Habenichtse auf ein Minimal-Niveau ab und entwirft zugleich die Vision
einer Elite von "Gen-Reichen" à la Lee Silver.
Die Verführungen des
Medizinsystems sind längst nur noch in einem auf Kredit finanzierbaren
Kaufrausch zu verwirklichen. Die höchste Form vom Zynismus sei es,
so Adorno, die Manipulationen der Werbung zu durchschauen und das Produkt
trotzdem zu kaufen. Das Ganze vollzieht sich in einem interdisziplinären
Albtraum, in dem Molekularbiologen, Biophysiker, Gerontologen, Lifestyle-Spezialisten,
Gesundheitsökonomen und Universal-Ethiker aus ihren Welt- und Menschenbildern
eine Patchwork-Kreatur namens Mensch zusammenfantasieren, eine Art hochkomplexen
humanoiden Tamagotchi, zum "lieb haben" ebenso geeignet wie zur programmierten
Entsorgung.
Das Verschwinden des Bösen
Nicht nur das Gute auszumachen,
so stellen wir mit Erstaunen fest, wird immer schwieriger, sondern auch
das Böse. Hakan Nesser scheint zu irren, wenn er in seinem Roman "Das
vierte Opfer" (1999) feststellt, sicher sei nur: Das Böse ist da.
Es ist das "Prinzip, dem wir entgegensehen können, auf das wir uns
als das Absolute verlassen können. Das, was letztendlich nie enttäuscht."
Vielmehr geht die Suche nach
Absichten und Tätern anscheinend ins Leere. Ist der Teufel ins System
ausgewandert, fragt Bernd Busch? Treibt sich dort das absichtslose Böse
herum, das Systemböse sozusagen? "Wir werden vom Bösen überwältigt,
das niemand wirklich wünscht und das dennoch geschieht", so der Computerwissenschaftler
Jay David Bolter.
Vielleicht machen wir es
uns nur zu leicht. Vielleicht ist dieses Böse nichts als die Konstruktion
jenes Außen, in das es abgewandert sein soll. Vielleicht hat diese
verstörende Welt unsere Angst so überdimensional anwachsen lassen,
dass wir nur noch gebannt auf das Außen starren und das Innen nicht
mehr wahrnehmen, allenfalls als Leerzeichen.
Aber wenn der Blick wieder
frei wird auf das Innere, ist dort und nirgendwo anders der Ort auszumachen,
an dem über Tun und Lassen bestimmt wird. Und wo, wenn überhaupt,
das Rettende wächst. Wie seit Menschengedenken. Und auch im kommenden
Millennium.
Geisler, Linus: Nichts,
auf das wir mit Freude zu hoffen wagen. Frankfurter Rundschau, 08.01.2000,
Nr. 6, S. 26 |
Artikel-URL: http://www.linus-geisler.de/artikel/0001fr_freude.html |
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